In der klassischen aristotelisch-scholastischen Ethik und in
der Naturrechtsethik kommt die Theorie der doppelten Wirkung überall dort zur
Anwendung, wo eine Handlung zwei Wirkungen hat. Dabei ist die eine Wirkung
beabsichtigt, die andere hingegen nicht, doch die gute und beabsichtigte
Wirkung ist nicht möglich, ohne die sie begleitende negative und nicht
beabsichtigte Wirkung. Gegen diese Theorie werden schon seit langem einige
Argumente vorgetragen, die diese Theorie untergraben sollen. Die bekanntesten
Argumente gegen die Theorie der Doppelwirkung haben ein konsequentialistisches
Moralverständnis zur Voraussetzung, eine Theorie also, nach der allein die
maximal positive Wirkung moralisch relevant ist.
Die Argumente gegen die Theorie der Doppelwirkung gehen
davon aus, dass dieser Theorie drei handlungstheoretische Unterscheidungen
zugrunde liegen, die aber keine „trennscharfe Linie zu ziehen [vermögen]
zwischen ethisch kategorisch unzulässig und ethisch zulässigen Handlungen.“ (M.Quante, D. Schweikard in: Grundkurs Ethik 2. Anwendungen. Paderborn: mentisVerlag)
Dabei handelt es sich um die Unterschiede zwischen aktiv und passiv, tun und
unterlassen, sowie beabsichtigen und in Kauf nehmen. Nach Auffassung der
Kritiker der Theorie der Doppelwirkung setzen Verteidiger dieser Theorie offenbar
voraus, dass aus diesen Unterschieden direkt folgt, ob eine Handlung moralisch
unzulässig oder zulässig ist. Doch das ist ein Missverständnis.
Aus dem Unterschied zwischen Aktiv und Passiv folgt
tatsächlich nicht, ob eine Handlung moralisch erlaubt ist oder nicht. Das wird
auch von keinem Vertreter der Theorie der Doppelwirkung behauptet. Man kann
dadurch, dass man sich passiv verhält, obwohl ein aktives Eingreifen gefordert
wäre, ebenso einen Schaden anrichten und sich moralisch verfehlen, als wenn man
durch eine aktive Tätigkeit einen Schaden anrichtet. Für sich genommen folgt
aus dem Unterschied von passiv und aktiv keine moralische Bewertung. Das
Argument verfehlt also seine Absicht, die klassische Ethik zu widerlegen. Das
Gleiche gilt auch für die beiden anderen Gegensatzpaare.
Der Unterschied von Tun und Unterlassen ist als solcher nicht geeignet, eine moralische Bewertung
abzugeben. Ob ich jemanden ertrinken lasse obwohl ich gut in der Lage bin, dem
Ertrinkenden zu helfen oder ob ich eine Person in den Fluss stoße im Wissen
darum, dass sie nicht oder sehr schlecht schwimmen kann, macht keinen
wesentlichen Unterschied, zumindest nicht in moralischer Hinsicht. Juristisch
würden beide Fälle wohl unterschiedlich bewertet.
Was in diesen Argumenten gegen
die Theorie der Doppelwirkung vergessen wird, ist der zentrale Aspekt für die
moralische Beurteilung, nämlich die Verpflichtung
zur Handlung. Wo es eine Handlungspflicht gibt, z.B., wenn ich als guter
Schwimmer einen Ertrinkenden sehe, der um Hilfe ruft, unterscheidet sich eine
Unterlassung in der moralischen Beurteilung nicht grundsätzlich von einer
aktiven Tötung.
Die Kritik an der moralischen
Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen richtet sich gegen die
Auffassung der klassischen Ethik, dass dieser Unterschied ein intrinsischer ist. Der Kritiker
behauptet, dass nur die Folgen oder Wirkungen von Bedeutung sind, nicht jedoch,
dass es in sich einen Unterschied gibt
zwischen einer Handlung und einer Unterlassung. Wenn nämlich nur die Folgen,
die Konsequenzen zählen, macht es keinen Unterschied, ob ich eine Person
ertrinken lasse, selbst dann, wenn ich Nichtschwimmer bin und nichts tun kann,
ohne mein Leben selbst auf Spiel zu setzen, oder ob ich eine Person ins Wasser
stoße mit der Absicht, sie zu töten. Das Ergebnis, die Konsequenzen sind
nämlich in beiden Fällen die Gleichen und deshalb moralisch in gleicher Weise
zu beurteilen.
Oft wird der Begriff der
Unterlassung bei den Kritikern (so auch bei Quante und Schweikard) unklar
gefasst, obwohl eine klare Bestimmung möglich ist. Etwas ist im moralischen
Sinne eine Unterlassung genau dann, wenn es etwas gibt, dass gesollt ist. Nur nichts zu tun, ist
keine Unterlassung. Es muss eine Verpflichtung zur Handlung geben, damit man
von einer Unterlassung im moralisch relevanten Sinne reden kann. Der
Unterscheidung von Tun und Unterlassen liegt nämlich ein anderer Unterschied
zugrunde, der auch zentral ist für die Theorie der Doppelwirkung, nämlich der
Unterschied zwischen Handlungs- und Unterlassungspflichten.
Ich werde später mehr zu diesem
Unterschied sagen. Hier nur so viel: Unterlassungspflichten können von jedem
gefordert werden, Handlungspflichten hingegen setzen einen Können voraus.
Keinem anderen Menschen zu schaden, nicht zu stehlen, nicht zu lügen usw. sind
Unterlassungspflichten, die jeder einhalten kann. Und deshalb sind diese
Pflichten universell. Einen Ertrinkenden zu retten setzt hingegen voraus, dass
ich dazu in der Lage bin.
Wenn man dies nun auf die Theorie
der Doppelwirkung anwendet, dann bedeutet dies in Bezug zu dem klassischen
Beispiel der Verabreichung von Morphium zur Schmerzstillung mit der negativen
Folge, dass der Patient früher stirbt: Der Arzt hat die positive Pflicht, die
Leiden des Patienten zu mindern. Diese Verpflichtung lässt sich nicht anders
realisieren als dadurch, dass das Leben des Patienten vermutlich verkürzt wird.
Doch dies ist nicht beabsichtigt. Der Arzt hat hingegen keine positive Pflicht,
das Leiden des Patienten durch den Tod zu beenden und ihm eine Überdosis
Morphium zu geben mit der Absicht, den Patienten zu töten. Vielmehr hat er die
Unterlassungspflicht, den Patienten nicht zu töten. Daher ist die aktive Tötung
des Patienten in jedem Fall moralisch verwerflich, weil es in keinem Fall eine Handlungspflicht
zur Tötung des Patienten gibt. Es gibt aber eine Handlungspflicht für den Arzt,
dass Leiden des Patienten zu mindern, soweit ihm dies möglich ist.
Es ist hier noch sehr viel mehr
zu sagen erforderlich, um nur einigermaßen das Thema zu umreißen. Auch die
kantische, deontologische Ethik bestreitet zumindest praktisch die Theorie der
Doppelwirkung, denn die Verkürzung des Lebens ist für einen kantischen Ethiker
in jedem Fall und unter allen Umständen verboten, was konkret bedeutet, er kann
dem Patienten kein Morphium verabreichen. Wichtig wäre auch in diesem
Zusammenhang die Unterscheidung zwischen Intention (Absicht) und
Vorhersehbarkeit, ein Unterschied, der von den Kritikern der Theorie der
Doppelwirkung oft nicht gemacht wird. Der Arzt sieht vorher, dass die
Verabreichung von Morphium das Leben des Patienten verkürzt, aber es ist nicht
seine Absicht. Natürlich ist die Absicht einer Person nicht eindeutig objektivierbar,
aber das ist auch nur im juristischen Sinne ein Problem. Moralisch ist es
verwerflich, wenn der Arzt Morphium spritzt mit der Absicht, das Leben des
Patienten zu verkürzen, selbst dann, wenn dies keine andere Person mitbekommt.
Zu all dem später einmal mehr.
Lieber Scholastiker,
AntwortenLöschenkönnen Sie Literatur zu dem Thema Doppelwirkung empfehlen, die sich in einer wissenschaftlichen Arbeit zitieren lassen?
Vielen lieben Dank