Nachdem verschiedene Versuche dargestellt wurden, die Identität einer Entität durch Reduktion zu erklären, folgt heute eine nicht-reduktive Analyse der Identität, die dem „gesunden Menschenverstand“ näher steht, als die bisherigen Erklärungsversuche. Es ist die Analyse, wie sie von den scholastischen Philosophen entwickelt wurde, nach der Identität primitiv, d.h. einfach ist. Dies bedeutet nun auch wieder nicht, dass man nichts weiter darüber sagen kann. Identität beruht nach scholastischer Auffassung auf der substantiellen Form einer Entität, die die charakteristischen Eigenschaften, Kräfte, Vermögen, Dispositionen und anderes bestimmt.
Es ist also die substantielle Form dafür verantwortlich,
dass eine Entität im Verlauf der Zeit immer die gleiche bleibt, denn die Form
bleibt bei aller Veränderung der Materie immer die gleiche. Die Form bestimmt
auch die materiellen Veränderungen, die z.B. ein Mensch im Verlauf seines
Lebens, von der Geburt bis zum erwachsenen Alter, durchmacht. Selbst wenn keine
einzige Körperzelle nach 30 Lebensjahren mehr dieselbe ist wie vor 30 Jahren,
bleibt die Person die gleiche, die sie immer war, denn es ist die substantielle
Form der Person (in diesem Fall die Seele der Person), die alle Veränderungen
nicht nur überdauert, sondern, da sie im Körper „eingelassen“ ist, diesen informiert, auch alle Veränderungen
bestimmt.
Wenn wir nun diese Analyse der Identität auf die früher
genannten Identitätsprobleme anwenden, wie z.B. das Schiff des Theseus oder die
angebliche Verletzung des Leibniz’schen Gesetzes oder gar des
Nichtwiderspruchsprinzips, so ergeben sich folgende Lösungen:
Dass eine Person oder eine andere Entität nicht gleichzeitig
110 kg und 80 kg wiegen kann ist klar. Eine solche Aussage wäre tatsächlich
gegen das Nichtwiderspruchsprinzip gerichtet. Allerdings ist eine solche
Formulierung auch tendenziös. Dass Oskar im Januar 2014 110 kg wiegt und im
Januar 2015 nur noch 80 kg wird hingegen niemand als Problem ansehen, weil
zwischen beiden Gewichtsangaben ein Jahr liegt. Und damit besteht auch kein
Problem bezüglich der Identität von Oskar, denn dieser kann innerhalb eines
Jahres mit einiger Anstrengung 30 kg Gewicht verlieren.
Doch wie verhält es sich mit dem Schiff des Theseus? Das
Problem, Sie erinnern sich, besteht darin, dass die Bauteile des Schiffes im Verlauf der Zeit durch neue
Bauteile ersetzt wurden und die alten Bauteile wieder verwendet wurden, um
daraus das Schiff neu zusammenzusetzen. Damit stellt sich nun die Frage,
welches der beiden Schiffe das „echte“ Schiff ist bzw. ob es sich bei beiden Schiffen
um zwei neue Schiffe handelt. Mit den bisherigen Analysen, so wurde gezeigt,
ist dieses Problem kaum zu lösen. Was sagen die Scholastiker dazu?
Die Schwierigkeit bei diesem Beispiel ergibt sich daraus,
dass es sich beim Schiff des Theseus um ein Artefakt handelt, also um ein vom
Menschen hergestelltes Ding, und dass solche Artefakte keine Substanzen sind
(es gibt auch substanzielle Artefakte, wie z.B. künstlich im Labor synthetisiertes
Wasser oder die Kreuzung neuer Hunderassen). Nicht-substantielle Artefakte wie
Schiffe und Statuen haben aber keine substantielle, sondern nur eine akzidentelle Form. Ob man mit dem Holz
ein Schiff oder ein Haus oder was auch immer baut, spielt keine wesentliche
Rolle. Die Gestalt, die das Holz annimmt, ist eine akzidentelle Form, die dem
Holz (das natürlich eine Substanz darstellt) durch den Menschen „aufgezwungen“
wird. Die Holzplanken, aus denen das Schiff des Theseus besteht, sind
dementsprechend natürlich echte Substanzen, doch das Schiff, zu dem sie
zusammengesetzt werden, ist keine Substanz, sondern eine „akzidentelle Einheit“
(Oderberg). Wenn nun das Holz, aus dem das Schiff gebildet wurde, seine
akzidentelle Form als Schiff verliert, was genau dann der Fall ist, wenn eine
bestimmte Zahl von Teilen ausgetauscht wird, hört das Schiff auf zu existieren.
Daher ist weder das neue Schiff, an dem die Teile ausgetauscht werden, noch das
Schiff, das aus den Bauteilen des alten Schiffes neu zusammengesetzt wird, das
ursprüngliche Schiff. Es handelt sich somit um zwei neue Schiffe, bzw. um
Ersetzungen des ursprünglichen Schiffes.
Die Frage, ob welcher Menge von Ersatzteilen ein Schiff oder
ein anderes Artefakt aufhört zu existieren, bzw. wie viele Teile ausreichen,
damit man noch von „demselben“ Schiff sprechen kann, ist eine verzwickte Frage,
die man nicht ohne weiteres beantworten kann. Doch dieses Problem entsteht
ohnehin nur bei Artefakten und nicht bei Substanzen mit einer substantiellen
Form.
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