„Ich habe morgen einen
Termin um 15:00 Uhr bei meinem Zahnarzt und werde dann dort sein. Aber da dies
ohnehin feststeht, brauche ich nicht dorthin zu gehen.“ Wenn Ihnen jemand
diesen Satz sagen würde, müssten Sie denken, dass bei ihm irgendetwas nicht
stimmt. Der Satz ist absurd. Doch genauso absurd ist nach Thomas von Aquin die
Behauptung, man müsse Gott nicht um irgendetwas bitten, weil in der göttlichen
Vorsehung ja ohnehin alles feststeht und ob ich nun für dies oder jenes bitte
oder nicht macht keinen Unterschied, weil es ja eben schon feststeht, ob ich
das Erbetene bekomme oder nicht. Die göttliche Allwissenheit und die darin
beinhaltete Vorsehung schließt nicht aus, dass ich frei handeln kann und das
meine Handlungen und Tätigkeiten etwas verursachen und bewirken.
So wie ich nicht zum Zahnarzt komme, ohne dass ich mich
dorthin begebe, so geschieht jedes künftige Ereignis meines Lebens, obwohl es
in der göttlichen Vorsehung schon feststeht, nicht ohne mich. Und meine
Tätigkeit bewirkt, dass dieses künftige Ereignis geschieht, denn ich bin die
Ursache dafür, dass etwas geschieht, z.B. dafür, dass ich zu meinem Zahnarzt
gehe. Dass ich dafür die Ursache sein kann, dass ich die Kraft besitze, mich
dorthin zu bewegen usw., dafür ist Gott ist erste Ursache aber ohne meine
Mitwirkung als Zweitursache geschieht nichts. Deshalb schließen sich göttliche
Allwissenheit und Vorsehung und die menschliche Freiheit keineswegs aus.
Thomas behandelt dieses Thema ausführlich in seiner Summe
gegen die Heiden (Summa contra gentiles, 3,64-110), in der sich Thomas
besonders mit den islamischen Philosophen, besonders mit Averroes, auseinandersetzt,
die eine stark fatalistische Philosophie vertreten haben. Selbstverständlich
ist es unmöglich, dass menschliche Handlungen etwas, was in der göttlichen
Vorsehung feststeht, verändern können, denn dazu müsste Gott selbst
veränderlich sein. Aber, so Thomas von Aquin, wenn ich bei Gott um etwas bitte,
dann bekomme ich das Erbetene nicht, ohne dieses Gebet. Insofern ist mein Beten
eine notwendige Bedingung dafür, dass ich das Erbetene bekomme, so wie mein
Gehen zum Zahnarzt notwendig ist, damit ich beim Zahnarzt ankomme.
Doch wie ist der Zusammenhang von göttlicher Vorsehung und
menschlicher Freiheit jetzt genauer zu verstehen? Im letzten Blogbeitrag
hatte ich die Theorie de Molinas
vorgestellt. Dieser entwickelt eine Theorie des „mittleren Wissen“ (scientia media), nach der, sehr
vereinfacht gesagt, Gott schon vor der Erschaffung der Welt die freien
Entscheidungen der Menschen berücksichtigt und gewissermaßen bei der Planung
der Welt miteinbezieht. Diese Auffassung wurde von Thomisten heftig kritisiert.
Neben dem Argument, dass dies eine Beschränkung der göttlichen Allmacht
impliziert, gibt es auch weitere Argumente gegen Molinas Theorie. Diese finden
Sie unter anderem in dem zuletzt erschienenen Grundkurs Philosophie Band 5: DieExistenz Gottes
ab Seite 131. Doch was sagen die Thomisten zu dieser Frage?
Nach thomistischer Auffassung benötigt die menschliche
Tätigkeit sowohl eine begleitende als
auch eine voraussehende Mitwirkung
Gottes. Gott muss alle menschlichen Tätigkeiten begleiten, denn bei jeder
Tätigkeit entsteht in irgendeiner Weise etwas Neues. Wenn ich zum Zahnarzt
gehen, ist dies eine Veränderung meines Ortes und evtl. auch meiner Zähne. Für
jede Veränderung ist aber Gott die erste Ursache, wie sich aus den beiden
ersten Gottesbeweisen ergibt. Deshalb hängt auch das „Neue“, das durch die
menschliche Tätigkeit entsteht, von der ersten Ursache ab. Jede Veränderung ist
die Aktualisierung einer Potenz. Diese Aktualisierung ist entweder akzidentell
oder per se. Jede akzidentelle
Aktualisierung setzt eine Aktualisierung per
se voraus. Und insofern ist bei jeder menschlichen Tätigkeit die
begleitende Mitwirkung Gottes als erster Ursache erforderlich.
Aber auch eine „vorausgehende Mitwirkung“ Gottes bei jeder
menschlichen Tätigkeit ist nötig. Molina ist hinsichtlich des ersten Punkts,
der begleitenden Mitwirkung Gottes mit den Thomisten einer Meinung, nicht
jedoch bei der vorausgehenden Mitwirkung. Die Mitwirkung Gottes geht nach
Auffassung der Thomisten den menschlichen (und natürlich auch allen anderen)
Tätigkeiten vorher. Vorher ist
natürlich nicht zeitlich gemeint, denn Gott ist nicht in der Zeit und deshalb
ist seine Mitwirkung auch nicht zeitlich
früher als die Tätigkeit des Menschen. „Vorher“ ist hier im Sinne der
Vorsehung gemeint. Doch wenn Gott schon weiß, was ich tun werde und wie ich
mich entscheiden werde und zwar von Ewigkeit her, wie kann ich dann frei
handeln?
Gott wirkt auf den Menschen in der Weise ein, dass diese als
freie Wesen tätig sind. Dies bedeutet, dass die freie Tätigkeit durch die
Erstursache nicht aufgehoben wird, auch wenn Gott bereits vorher weiß, wie ich
mich entscheiden werde, denn ich muss selbst als Zweitursache wirksam werden,
um etwas zu bewirken. Ohne mich komme ich nicht zum Zahnarzt. Die Erstursache
(Gott) macht es erst möglich, dass ich als Zweitursache wirksam werden kann, er
ermöglicht damit gerade meine freie Handlung. Auch hierzu können Sie mehr im Grundkurs Philosophie Band 5
nachlesen.
Sehr geehrter „Scholastiker“,
AntwortenLöschendie scheinbare Spannung zwischen göttlicher Allwissenheit und menschlicher Willensfreiheit wurde meiner Meinung nach von Boethius aufgelöst: Gott weiß, wie der Mensch sich entscheiden wird, nicht, weil dies bereits feststehen würde, sondern weil seine Wahrnehmung von der Welt sich auch auf die Zukunft erstreckt.
Die Lösung des Boethius scheint mir aber nicht mit dem vereinbar, was Thomas schreibt. Wenn wir uns anschauen, was er zur Erkenntnis Gottes von der Welt schreibt (summa contra gentiles, l.1, c. 48ff.), so kann ich mich nicht des Eindrucks erwehren, dass Gott demnach überhaupt keine Wahrnehmung von der Welt hat, sondern sein Wissen von ihr vielmehr auf einer Art Berechnung beruht: Er als erste Ursache Welt, kann von sich, der Ursache, auf alle nachfolgenden Wirkungen schließen, weiß also genau, wie es um die Welt bestellt. Damit ist aber die Welt als eine determinierte gedacht und der menschliche Wille, als Teil dieser Welt, ebenfalls. Und der von einer außer ihm liegenden Ursachen festgelegte Wille ist nach meinem Freiheitsverständnis unfrei.
Schöne Grüße, philosophus dubitans