Eine der wichtigsten und grundsätzlichsten Fragen der Ontologie ist die nach dem, was Sein oder Existenz ist. Eine damit zusammenhängende Frage wird hingegen so gut wie gar nicht diskutiert: Warum existiert eine Entität a im gegenwärtigen Augenblick und auch eine gewisse Zeit später? Es ist die Frage nach der existenziellen Dauerhaftigkeit. Wenn eine Entität anfängt zu existieren ist damit noch nicht geklärt, warum sie auch einige Zeit später noch existiert.
Eine
parmenideische Philosophie, bei der Zeit und Existenz strikt voneinander
getrennt werden, kann diese Frage durch den Hinweis beantworten, dass Existenz
ein zeitloser Begriff ist und jede Entität folglich zeitlos existiert. Dies
bedeutet auch, dass Anfang und Ende einer Entität mit deren Existenz nichts zu
tun haben. Solche parmenideischen Ontologien sind auch heute noch in der
analytischen Philosophie verbreitet (z.B. Erwin Tegtmeier 1997) und die
Zeittheorie Bertrand Russells, die später zur sogenannten „Neuen Zeittheorie“
weiterentwickelt wurde, beruht auf dieser Trennung von Existenz und Zeit (Q.
Smith, L.N. Oaklander 1994). Die Neue Zeittheorie bestreitet, dass es die
Zeitformen (engl. tenses) Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft gibt und
behauptet, dass sich alle zeitlichen Bestimmungen auf bestimmte Relationen
zurückführen lassen, wie „früher als“, später als“, „gleichzeitig mit“ „ist
zeitlicher Teil von“, überlappt zeitlich“. Ich kann die schwerwiegenden
Probleme die mit dieser Zeittheorie und dem daraus folgenden Existenzbegriff
zusammenhängen, hier nicht diskutieren. Ich will nur darauf hinweisen, dass
jede Ontologie, die Existenz und Zeit nicht strikt voneinander trennt, die
Frage zu beantworten hat, die ich Eingangs gestellt habe, warum eine Entität
dauerhaft existiert.
Edward Feser
hat in einem Aufsatz aus dem Jahre 2011 zu diesem Thema Stellung genommen und
gezeigt, dass sich alle „fünf Wege“ zum Beweis Gottes zusammenfassen lassen
durch einen Gottesbeweis, der die Antwort auf die Frage nach der
Dauerhaftigkeit der Existenz gibt, bzw. dass alle fünf Wege Antwort auf diese
Frage geben. Ich möchte abschließend zu der Reihe von Aufsätzen, in denen ich
die „fünf Wege“ Thomas von Aquins in einer modernen Interpretation vorgestellt
habe, hier diesen zusammenfassenden Gottesbeweis Edward Fesers vorstellen. Im
Prinzip ist dieser Gottesbeweis nichts grundsätzlich Neues zu den fünf Beweisen
Thomas von Aquins. Allerdings ist der Beweis aus der Dauerhaftigkeit der
Existenz besonders überzeugend und schließt eine deistische Interpretation der
fünf Wege aus.
Nach der
klassischen Philosophie und Theologie gilt, dass die Erschaffung der Dinge
durch Gott identisch ist mit der Erhaltung der Dinge in der Existenz. Die
Erschaffung ist gewissermaßen ein dauerhafter Akt Gottes, in dem er die
geschaffenen Dinge vor dem „Versinken ins Nichts“ bewahrt, so dass sie beständig
existieren. Anders gesagt kann keine Entität auch nur für einen Augenblick
existieren, wenn sie nicht von Gott aktiv in der Existenz erhalten wird. Wir
können dies die Lehre von der göttlichen
Erhaltung der Existenz (LGE)
nennen. Wir finden diese Theorie z.B. bei Gregor dem Großen, der von Thomas von
Aquin als Zeuge angeführt wird (S.Th. I.104.1), bei Augustinus (De Genesi ad litteram 4:12; 5:20) und
natürlich bei Thomas von Aquin (S.G. 3:65). Die Autoren verweisen für die
Wahrheit dieser Lehre auf die Hl. Schrift, die LGE findet sich dann auch im
Katechismus von Trient (Teil 1, 1. Artikel) und wird im I. Vatikanischen Konzil
als Wahrheit definiert: „Gott bewahrt und beherrscht durch seine Vorsehung alle
Dinge, die Er erschaffen hat.“ (Denzinger 1784).
Gegen diese
Lehre (LGE) wurden verschiedene Einwände erhoben. Mortimer Adler (1902 – 2001)
hielt der Lehre sein „Prinzip der
Trägheit des Seins“ entgegen, dass dann von John Beaudoin weiterentwickelt wurde
und eleganter als „Lehre der
existenziellen Trägheit“ (LET) (2007) bezeichnet wurde. Nach dieser Lehre
neigen die kontingenten Dinge dieser Welt dazu, nachdem sie einmal existieren,
weiterhin in der Existenz zu bleiben, solange nichts auf diese Entität aktiv
einwirkt, dass sie zerstört. Daher ist eine Bezugnahme auf Gott zur Erklärung
der Dauerhaftigkeit der Existenz nicht erforderlich. Wie leicht zu sehen ist,
orientiert sich diese Lehre an Newtons Trägheitsgesetz, wonach ein Körper im
Zustand der gradlinigen Bewegung verharrt, solange keine äußere Kraft auf den
Körper einwirkt.
Edward Feser
(2011) hat nun dafür argumentiert, dass die fünf Wege Thomas von Aquins am
besten als eine Verteidigung der Lehre von der göttlichen Erhaltung (LGE) zu
verstehen sind und als implizite Kritik an der Lehre von der existenziellen
Trägheit (LET). Alle fünf Gottesbeweise argumentieren nämlich dafür, dass Gott z.B.
nicht nur die erste Ursache für den Anfang einer Entität ist, sondern dass die
erste Ursache in jedem Augenblick die Existenz einer Entität verursacht. Da
alles Geschaffene aus Akt und Potenz zusammengesetzt ist, setzt dies die
gleichzeitige Existenz einer Entität voraus, die reiner Akt ist. Im zweiten
Gottesbeweis argumentiert der hl. Thomas, dass die Existenz einer aus Wesenheit
und Existenz zusammengesetzten Entität auch nicht für einen Augenblick bestehen
kann, wenn man nicht eine gleichzeitig existierende Entität voraussetzt, deren
Wesenheit die Existenz ist. Der dritte Gottesbeweis argumentiert, dass die
Existenz einer aus Form und Materie zusammengesetzten Entität nicht für einen
kleinen Moment bestehen könnte, wenn man nicht eine Entität voraussetzt, die
absolut notwendig existiert. Der vierte Weg argumentiert, dass die Existenz
einer Entität, die vielfach und in unterschiedlichen Seinsgraden existiert,
nicht für eine Millisekunde bestehen könnte, wenn man nicht die gleichzeitige
Existenz eines Einzigen und absolut vollkommenen Seienden voraussetzt. Und der
fünfte Weg zeigt, dass die Existenz von Finalität bzw. Zielgerichtetheit in einer
Entität nicht für einen Augenblick bestehen könnte, wenn man nicht die Existenz
einer gleichzeitig bestehenden höchsten, ordnenden Intelligenz voraussetzt.
Jedes dieser
Argumente impliziert also ein Argument gegen die Lehre von der existenziellen
Trägheit, denn keine Entität existiert aus sich selbst auch nur für eine
Millisekunde. Die wichtigste Grundlage für diese Argumentation bei Thomas von
Aquin ist nicht die Kontingenz der Entitäten, sondern die Zusammengesetztheit
aller geschaffenen Entitäten. Jede geschaffene Entität ist zusammengesetzt aus
Form und Materie, Akt und Potenz, sowie aus Wesenheit und Existenz. Diese
Zusammensetzung ist sowohl die Ursache der Kontingenz, als auch die Ursache
dafür, dass keine Entität aus sich selbst existieren kann.
Damit sind wir
nun vorbereitet, das zusammenfassende Argument gegen die LET und für die LGE
vorzustellen. Das Argument geht von der unbestreitbaren Prämisse aus, dass
keine Ursache etwas geben kann, was sie nicht selbst besitzt. Eine weitere
Prämisse, die ich in den vorherigen Beiträgen mehrfach vorgestellt und
verteidigt habe, lautet, dass jede materielle Substanz aus materia prima und einer Form zusammengesetzt ist. Natürlich lässt
sich dagegen auf der Grundlage einer anderen Ontologie argumentieren. Der
Hylemorphismus ist sicher keine Theorie, die heute weit verbreitet ist und
allgemeine Anerkennung genießt. Eher dürfte das Gegenteil der Fall sein, obwohl
in den vergangenen Jahren zahlreiche Philosophen im angelsächsischen Raum
wieder hylemorphistische Theorien entwickelt haben. Ich bin überzeugt, dass
eine realistische Theorie der Veränderung ohne hylemorphistische Grundlage kaum
verteidigt werden kann. Doch hier ist nicht der Raum, dafür zu argumentieren
(vgl. dazu R. Hüntelmann 2012, 41-54).
Die nächste
Prämisse bezieht sich nun auf die Behauptung der existenziellen Trägheit (LET).
Wenn es eine existenzielle Trägheit gibt, wenn also eine Entität eine
existenzielle Trägheit hat, dann hat sie diese genau dann, wenn sie in sich
selbst eine Neigung hat, in der Existenz zu bleiben, wenn sie einmal existiert.
Die Prämisse behauptet also nur das, was Vertreter der LET behaupten, dass
nämlich alle kontingenten Entitäten über eine Neigung verfügen, in der Existenz
zu verweilen, sofern keine andere Entität sie zerstört. Wenn wir nun diese
Prämisse mit den beiden zuvor genannten konfrontieren, so sehen wir, dass die
dritte Prämisse nicht haltbar ist. Denn was sollte in einer Entität die Ursache
der existenziellen Trägheit sein? Die prima
materia ist in sich selbst und ohne die Form reine Potenz und hat daher
keinerlei Tendenz in der Existenz zu beharren. Daher kann die materia prima nicht der Grund sein für
die behauptete existenzielle Trägheit. Es bleibt somit nur die Form. Ist die Form
die Ursache der existenziellen Trägheit einer kontingenten Entität?
Nach
aristotelisch-thomistischer Auffassung ist die substanzielle Form ohne Materie
und in sich selbst nichts anderes als eine Abstraktion. Eine solche Abstraktion
kann aber nicht in sich selbst eine Neigung besitzen, in der Existenz zu
persistieren. Wenn aber weder die materia
prima, noch die substanzielle Form – also die beiden Komponenten bzw.
Ursachen der Substanz – keine Tendenz haben, in der Existenz zu beharren, dann
gibt es kein anderes inneres Prinzip
der Substanz, durch die diese in der Existenz persistiert. Die beiden anderen
Ursachen der aristotelischen Vier-Ursachen-Lehre, nämlich die Final- und die
Wirkursachen kommen hier nicht in Frage, weil es sich bei der Lehre von der
existentiellen Trägheit um ein inneres
Prinzip, um eine innere Ursache in der Entität handeln soll und die
effiziente und die finale Ursache äußere Ursachen sind, im Unterschied zu den
genannten inneren Ursachen, der Form- und Materialursache.
Wenn es somit
in den beiden inneren Ursachen einer Substanz, der Form- und Materialursache
keine Tendenz gibt, durch die eine Entität in der Existenz beharrt, dann gibt
es überhaupt keine Ursache für eine solche Tendenz in den Dingen und das bedeutet, es gibt keine existenzielle
Trägheit. Wenn es aber keine existenzielle Trägheit gibt, dann kann nur eine
äußere Ursache dafür verantwortlich sein, dass eine Entität in der Existenz
persistiert. Und diese äußere Ursache ist, wie die fünf Wege zeigen, Gott.
Abschließend
fasse ich das Argument noch einmal kurz zusammen: Das Argument für die Lehre
von der göttlichen Erhaltung einer Entität in der Existenz (LGE) antwortet auf
die Frage: Warum existiert eine Entität a
im gegenwärtigen Augenblick und auch eine gewisse Zeit später? Also warum persistieren
die Dinge in der Existenz? Das Argument, das die aristotelisch-thomistischen Ontologie
zur Grundlage hat, besteht aus neun Schritten (vgl. Edward Feser 2011):
- Eine Ursache kann nichts geben, was sie nicht selbst hat.
Eine materielle Substanz ist zusammengesetzt aus der prima materia und einer substantiellen Form.
Etwas hat eine existentielle Trägheit (existential inertia) genau dann, wenn es in sich selbst eine Tendenz besitzt, in der Existenz fortzudauern, wenn es existiert.
Die prima materia ist in sich selbst und ohne die substantielle Form reine Potenz und hat daher in sich selbst keine Tendenz, in der Existenz fortzudauern.
Die substantielle Form eines materiellen Dinges ist in sich selbst und ohne die prima materia eine bloße Abstraktion und hat daher in sich selbst keine Tendenz, sich in der Existenz zu erhalten.
Weder die materia prima als Materialursache einer materiellen Substanz, noch die substantielle Form als Formursache können einer materiellen Substanz eine Tendenz vermitteln, in der Existenz zu bestehen.
Es gibt keine anderen internen Prinzipien, aus denen eine materielle Substanz eine solche Tendenz ableiten kann.
Keine materielle Substanz hat eine Tendenz, in sich selbst in der Existenz zu beharren, wenn sie existiert.
Keine materielle Entität hat eine existenzielle Trägheit. (Feser 2015, 64f.)
Aus diesem
Argument folgt, dass das Fortbestehen einer Entität in der Existenz nur von
außen kommen kann. Und diese äußere Ursache kann nur eine Entität sein, die
nicht aus Form und Materie zusammengesetzt ist, die reine Aktualität ist, und
eine solche Entität „nennen alle Gott“.
Literaturhinweise
Beaudoin,
John (2007): „The World’s Continuance: Divine Conservation or Existential Inertia?”
in: International Journal for Philosophy
of Religion 61: 83-98.
Denzinger, Heinrich; Hünermann, Peter (2017): Kompendium der Glaubensbekenntnisse und
kirchlichen Lehrentscheidungen / Enchiridion Symbolorum. Freiburg (Herder).
Feser,
Edward (2011) „Existential Inertia and the Five Ways”, in: American Philosophical Quarterly, vol. 85, no. 2. Wieder abgedruckt
in: Edward Feser (2015): Neo-Scholastic
Essays. South Bend, Indiana (St. Augustine’s Press).
Hüntelmann, Rafael (2012): Grundkurs Philosophie I. Werden, Bewegung und Veränderung.
Heusenstamm (editiones scholasticae).
Tegtmeier, Erwin
(1997): Zeit und Existenz. Parmenideische
Meditationen. Tübingen
(Mohr Siebeck).
Smith, Quentin; Oaklander L. Nathan
(1994): The New Theory of Time. New
Haven (Yale University Press)
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