Am gestrigen Sonntag konnte man eine weitere Verfilmung eines Beststellers des Autors Ferdinand von Schirach in der ARD sehen. Eigentlich waren es zwei Filme mit zwei verschiedenen Perspektiven, der Perspektive des ermittelnden Polizeibeamten und der Perspektive des Anwalts des Täters. Wie bei allen mir bekannten Verfilmungen der Bücher von Schirachs geht es eigentlich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei philosophischen ethischen Theorien: der deontischen oder kantischen Ethik und der konsequentialistischen Ethik. Leider wird dies in den Verfilmungen oft nicht deutlich, da juristische Fragen im Mittelpunkt stehen. Ich möchte deshalb den vorstellten Fall philosophisch analysieren und die Fragestellung des Films naturrechtlich beantworten.
Bei dem im Film vorgestellten Fall handelt es sich um eine
geänderte Version eines tatsächlichen Entführungsfall, der vor einigen Jahren
Schlagzeilen machte. Gemeint ist die Entführung des Kindes aus der wohlhabenden
Familie von Metzler. Im Film wurde ein zwölfjähriges Mädchen entführt und in
einer Fabrikhalle vom Entführer eingesperrt, wo alles für ein Überleben der
Entführten vorhanden war, also Lebensmittel und Getränke und ein Steinkohleofen
zur Heizung. Durch einen Zufall wurde der Kamin dann von einer Plastikplane
verdeckt, so dass der Rauch auch dem Raum nicht abziehen konnte und das
entführte Mädchen vermutlich an einer Kohlenmonoxidvergiftung verstarb.
Die Polizei konnte zwar relativ schnell den vermuteten
Entführer ermitteln, allerdings ohne irgendeinen gerichtlich verwertbaren
Beweis. Der leitende Polizeibeamte war sich aber intuitiv sicher, dass der
verhaftete der Entführer ist. Dieser machte aber keinerlei Angaben. Allen,
sowohl dem Entführer als auch der Polizei war nicht bekannt, dass das Mädchen
bereits wenige Stunden nach der Entführung gestorben war. Der Polizist wollte
das Kind retten, weil man vermutete, es sei irgendwo im Freien untergebracht
und könnte schnell erfrieren. Deshalb entschloss er sich den Verdächtigen mit dem
sogenannten Waterboarding zu foltern. Der Verdächtigte verriet unter dieser
Folter das Versteck, doch die Beamten kamen zu spät; das Mädchen war bereits tot.
So viel zu dem Fall. Im Mittelpunkt des Films stand dann das
Gerichtsverfahren, bei dem der Anwalt des Beschuldigten und der Polizeibeamte,
der den Angeklagten gefoltert hatte, als Kontrahenten auftraten. Der Anwalt
stellte den als Zeugen geladenen Polizisten Fragen. Der Anwalt verteidigte ein
strikt rechtsstaatliche Position, dessen moralphilosophischer Hintergrund in
diesem Fall eine kantische, deontische Ethik war. Eine solche Ethik setzt das
Recht, bzw. die Pflicht an die oberste Stelle, gegen die ausnahmslos und in
keinem Fall verstoßen werden darf. Konkret ging es diesem Fall um das bedingungslose
Verbot der Folter, das mit der Würde der Person begründet wurde. Die deontische
Ethik kennt auch nicht die Möglichkeit einer verminderten Würde, so dass die
Würde des entführten und verstorbenen Opfers auf gleicher Ebene steht, mit der
Würde des Entführers. Der Anwalt machte deutlich, dass der Polizeibeamte ohne
jegliche gerichtlich verwertbare Beweise den Beklagten beschuldigte, ihn
verhaftete und ihm durch die Folter ein Geständnis abpresste. Da ein unter
Folter zustande gekommenes Geständnis vor Gericht nicht verwertet werden darf,
muss der Angeklagte freigesprochen werden (sofern er nicht vor Gericht die Tat
aus freien Stücken gestanden hätte, was hier nicht der Fall waren; der
Angeklagte widerrief sein Geständnis).
Die Argumentation des leitenden Polizeibeamten hingegen war
von einer konsequentialistischen Ethik geprägt. Diese Ethik, die im
angelsächsischen Raum deutlich dominierend ist und auch in Mitteleuropa immer
mehr Anhänger findet, bestreitet grundsätzlich, dass es irgendwelche Rechte der
Personen gibt und stellt auch den Begriff der Würde in Frage. Stattdessen stehen
die Konsequenzen einer Handlung an der obersten Stelle. Eine Handlung ist gut,
sofern die Konsequenzen der Handlung optimal sind. Im konkreten Fall ist für einen
Konsequentialisten die Folter genau dann erlaubt, wenn dadurch ein
Menschenleben gerettet werden kann. Der Polizeibeamte sah zur Rettung des
Lebens des entführten Kindes keine andere Möglichkeit, als den vermeintlichen
Entführer zu foltern und von ihm dadurch ein Geständnis zu bekommen. Wäre das
Kind nicht durch einen unbeabsichtigten Unfall (die Abdeckung des Kamins mit
einer Plastikplane, die durch den Wind über den Schornstein geweht wurde und so
den Abzug des Rauchs verhinderte) an Kohlenmonoxid erstickt (was keiner der
Beteiligten wissen konnte), dann hätte die Folter die besten Konsequenzen
gehabt, denn das Mädchen wäre gerettet worden und dies hätte die Handlung des
Polizisten gerechtfertigt.
Im Anschluss an den Film wurde eine Dokumentation gezeigt,
bei der es auch um Frage ging, ob das Urteil – der Freispruch des Angeklagten –
gerecht sei. Im Allgemeinen wurde hier eine enge Verbindung zwischen deontischer
und konsequentialistischer Ethik hergestellt. Diejenigen, die das Urteil als
gerecht bewerteten, waren zugleich überzeugt, dass die deontische Ethik die
Grundlage der Rechtsprechung sein sollte (obwohl dies in keinem Fall explizit formuliert
wurde), während diejenigen, die das Urteil als ungerecht empfanden, eine
konsequentialistische Ethik akzeptieren mussten. Doch diese Alternative besteht
nicht.
Man kann durchaus der Auffassung sein, dass die Freilassung
des Angeklagten, der durch die Nennung des Ortes, an dem sich die Entführte
befand, zumindest an der Entführung beteiligt war, ungerecht ist, und dennoch
gegen die Folter als Methode zur Erlangung eines Geständnisses sein. Sowohl die
deontische als auch die konsequentialistische Ethik sind eigentlich
unmenschlich. Der deontische Ethiker kennt nur die Pflicht als oberstes Gebot
und muss im Extremfall selbst ein Freund oder Ehepartner verraten, wenn dieser
eines Verbrechens beschuldigt wird, wenn er die Pflicht, stets die Wahrheit zu
sagen, in einem Verhör entsprechen will. Der Konsequentialist hingegen ist
unmenschlich, da für ihn die Ethik praktisch die Anwendung der Ökonomie auf das
menschliche Handeln darstellt, bei dem allein die Maximierung des Erfolgs eine
Rolle spielt. Wenn man dies in Bezug zu diesem Fall anwendet, könnte man
zugespitzt sagen, dass der Polizist, der nicht alle Möglichkeiten anwendet, um
das entführte Kind zu retten, am Tod des Kindes ebenso schuldig ist, wie der Entführer
selbst.
Für die natürliche Ethik sieht der Fall ganz anders aus.
Auch hier ist Folter als Methode zur Erlangung eines Geständnisses in keinem
Fall erlaubt und insofern kann man dem deontischen Ethiker zustimmen.
Allerdings aus anderen Gründen als denen einer deontischen Pflichtenethik. Die
natürliche Ethik geht davon aus, dass der Mensch eine Natur oder Wesenheit
besitzt, zu der zahlreiche unterschiedliche Vermögen, Fähigkeiten, Kräfte oder
Dispositionen gehören, die auf Ziele gerichtet sind. Aus dieser Natur des
Menschen ergeben sich seine Rechte und Pflichten, sie sind also nicht
freischwebend, wie bei der deontischen Ethik. Das Verhältnis von Rechten und
Pflichten ist derart, dass die Pflichten den Rechten vorhergehen. Rechte
bestehen auf Grund von Pflichten. Wir haben als Menschen die Fähigkeit zur
Erkenntnis der Wahrheit und deshalb die Pflicht, unser Wissen und unsere
Erkenntnisse zu erweitern. Genau deshalb haben wir auch das Recht auf Erziehung
und Bildung, natürlich immer angemessen an unsere Fähigkeiten und Vermögen. Wir
haben die allgemeine Pflicht alles zu tun, um unsere Natur zu vervollkommne und
daher unsere natürlichen Ziele und Zwecke zu erstreben, d.h. unsere Vermögen
und Kräfte zu entfalten. Dazu haben wir aber dann auch das Recht. Das
fundamentalste Recht ist das Recht auf Leben, denn ohne das Leben sind wir
nicht in der Lage, irgendwelche anderen Ziele und Zwecke zu erfüllen oder
unsere Vermögen zu entfalten.
Ein zentraler Punkt, der die natürliche Ethik vom
Konsequentialismus unterscheidet, ist die Unterscheidung zwischen Handeln und
Unterlassen. Der Konsequentialist bestreitet, dass es diese Unterscheidung
gibt, bzw. dass sie irgendeinen moralisch relevanten Sinn macht. Man kann
schuldig werden durch eine Handlung, aber auch, indem man eine geforderte
Handlung unterlässt. Wenn ich einen Ertrinkenden nicht helfe, obwohl ich dies
könnte, bin ich an seinem Tod mitschuldig. Wenn ich einen Nichtschwimmer ins
Wasser werfe und er ertrinkt, bin ich ebenfalls an seinem Tod schuldig. Im
zweiten Fall handelt es sich um Mord oder Todschlag, im ersten Fall hingegen
werde ich für eine unterlassene Hilfeleistung verurteilt. Für den Konsequenzialisten
gibt es diesen Unterschied nicht, denn die Wirkung ist in beiden Fällen die
Gleiche: Die Person ist tot. Doch worauf beruht nun diese Unterscheidung? Sie
beruht auf einem Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten von Pflichten:
Handlungspflichten und Unterlassungspflichten. Unterlassungspflichten sind
universell, denn man kann von jedem Menschen verlangen, dass er z.B. den
Diebstahl, den Ehebruch oder das Lügen unterlässt. Abgesehen von den drei
ersten Geboten sind die sieben anderen Gebote der zehn Gebote
Unterlassungsgebote. Handlungsgebote hingegen können nur von einer Person
verlangt werden, die dazu in der Lage ist. Es gibt zahlreiche Gründe, warum
jemand zu einer bestimmten Handlung nicht in der Lage ist und wenn dies der
Fall ist, dann gibt es für ihn auch keine Pflicht zu dieser Handlung. Wenn
jemand selbst nicht schwimmen kann und eine ertrinkende Person um Hilfe ruft,
ist er nicht verpflichtet ins Wasser zu springen, um den Ertrinken zu retten.
Das entbindet ihn freilich nicht von jeder Hilfeleistung. Er ist verpflichtet,
Hilfe zu holen oder alles zu tun, was in seiner Macht steht, um dem
Ertrinkenden zu helfen. Auf unseren konkreten Fall bezogen: Der Polizeibeamte
ist nicht schuldig am mögliche Tod des entführten Kindes, wenn er von dem
Beschuldigten auch nach allen verfügbaren und rechtlich erlaubten Verhörmethoden
nicht erfährt, wo das Entführungsopfer versteckt ist.
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