Wenn man unter dem Begriff „Neoaristotelismus“ alle
philosophischen Positionen zusammenfasst, die sich mehr oder weniger stark auf
Aristoteles und die aristotelische Tradition in der Philosophie beziehen (dazu
gehören insbesondere die neuen Scholastiker und Thomisten, die oft auch als
analytische Scholastiker oder Thomisten bezeichnet werden), dann gibt es eine
sehr erfreulich Entwicklung. Im aktuellen Heft der Zeitschrift RATIO. An international Journal for analytic
philosophy, eines der führenden philosophischen Fachzeitschriften für
analytische Philosophie, sind soeben gleich zwei ausgezeichnete Beiträge von
Neoaristotelikern erschienen, die ich kurz vorstellen möchte. Der erste Beitrag
von Travis Dumsday
zeigt die „ontologischen Konsequenzen des Atomismus“ auf und zieht daraus die
Konsequenz, dass diese Position unhaltbar ist. Der zweite Beitrag von Nicah
Newman verteidigt auf der Grundlage eines naturalistischen Ansatzes die
klassische Auffassung zur Sexualethik.
Dass solche Aufsätze in einem führenden Organ für
analytische Philosophie erscheinen, wäre noch vor fünf Jahren undenkbar
gewesen.
Travis Dumsday beginnt mit einem Argument gegen den
Atomismus, dass bereits von Aristoteles selbst stammt und das darauf abzielt zu
zeigen, dass Atomisten nicht in der Lage sind, Veränderung, d.h. Bewegung zu
analysieren. Da Atome, in einem philosophischen Sinn (nicht im physikalischen
Sinn), letzte, einfache Bausteine der gesamten Wirklichkeit sind, aus denen
alles, was es gibt, zusammengesetzt ist, werden diese als unausgedehnt und ohne
räumliche Teile konzipiert. Ein Gegenstand, der keine räumlichen Teile hat,
kann sich aber nur „bewegen“, in dem er diskontinuierlich von einem Ort zu
einem anderen Ort „hüpft“ und zwar vollkommen ohne Zwischenraum. Dies bedeutet
faktisch, dass der Gegenstand an einer Stelle verschwindet und an einer anderen
Stelle wieder auftaucht. Was war zwischen diesen beiden Zeitpunkten? Und woher
weiß man, dass es ein und dasselbe Objekt ist, das verschwunden ist und das
wieder erscheint? Nach aristotelischer Auffassung beinhaltet der Atomismus das,
was man heute als „Teleportation“ bezeichnet. Dies bedeutet, ein Atom oder ein
Objekt, das aus Atomen besteht, hört an einer bestimmten Stelle auf zu existieren
und beginnt an einer anderen Stelle wieder zu existieren. Es handelt sich
praktisch um eine Vernichtung und Neuerschaffung, obwohl eigentlich nur die
Veränderung erklärt werden soll.
Dies ist nur eine Andeutung. Dumsday bringt eine ganze Reihe
m.E. starker Argumente, die auch auf neuere atomistische Theorien zutreffen,
bei denen Atome als ausgedehnt vorstellt werden und schließt daraus, dass der Atomismus ingesamt falsch sein muss. Der Aufsatz ist jedenfalls
sehr zu empfehlen und kann hier käuflich erworben werden: „Some OntologicalConsequences of Atomism“.
Sehr interessant ist auch der Aufsatz von Micah Newman im
gleichen Heft der Zeitschrift Ratio. Interessant auch deshalb, weil der Autor
mehr oder weniger deutlich eine klassische thomistische Naturrechtsethik zugrunde
legt und zwar ohne das ihm dies bewusst war oder das er dies beabsichtigte. Er
selbst sagt in der zweiten Fußnote zu seinem Beitrag, dass er erst von anderen
darauf hingewiesen wurde, dass seine Argumentation ähnlich der Thomas von
Aquins sei, wie diese in der Summa Contra
Gentiles zu finden ist. Newman schreibt, dass er dies nicht intendierte, als er
seinen Aufsatz schrieb. Vermutlich war ihm der Text Thomas' nicht bekannt, wie dies leider heute oftmals der Fall ist.
Seine Absicht besteht darin, einen rein „naturalistischen
Ansatz“ in der Sexualethik zu entwickeln. Dazu bezieht er sich auf eine seit
einigen Jahren diskutierte Theorie, die unter dem Titel des „wissenschaftlichen
Essentialismus“ und hier konkret des „biologischen Essentialismus“ bekannt ist.
Diese Theorie geht davon aus, dass eine biologische Entität eine Wesenheit hat,
die durch ihre Funktion bestimmt ist, die wiederum durch die Evolution
zustande gekommen ist. Evolutionäre Kräfte bilden bestimmte biologische
Funktionen durch Selektion heraus und diese Funktionen geben den biologischen
Entitäten eine Wesensnatur. In Bezug auf die Sexualität wird diese nun auch wie
ein „Ding“ behandelt, d.h. es wird behauptet, dass Sexualität ein Wesen hat,
das durch die Evolution und die Funktion bestimmt ist, die Sexualität hat. Die
Wesenheit der Sexualität besteht nun ganz offensichtlich in der Fortpflanzung.
Dies ist die zentrale Funktion der Sexualität und genau dazu ist sie im Verlauf
der Evolution entstanden. Wir wissen, dass es zahlreiche biologische Entitäten
gibt, die sich nicht durch Sexualität fortpflanzen, aber die Sexualität hat
primär diese Wesenheit.
Gleich zu Beginn begegnet Newman dem Einwand, man könnte
doch das Vergnügen oder die Lust als Wesen der Sexualität verstehen, wie dies
heute oftmals geschieht. Doch dieser Einwand ist offensichtlich falsch, denn
(a) gibt es zahlreiche andere Dinge die Vergnügen oder Lust bereiten und
deshalb ist diese Funktion nichts spezielles, was die Sexualität auszeichnet und
(b) existiert die Lust oder das Vergnügen oder alle anderen Bestimmungen, die
mit der Sexualität verbunden sind, weil sie die primäre Funktion, nämlich die
Fortpflanzung fördern.
Im Weiteren begründet der Autor diesen Ansatz ausführlicher,
auch gegen verschiedene Einwände, wie dem bekannten Argument, dass aus ontologischeTatsachen keine moralischen Tatsachen folgen und geht dann dazu über, diesen Ansatz auf verschiedene aktuelle Fragen
anzuwenden. Selbst katholische Kardinäle, wie Kardinal Kasper, könnten davon
einiges lernen. Zunächst wendet sich Newman dem Thema der Ehe zu und zeigt,
dass die Wesenheit der Sexualität, die Fortpflanzung, am Besten in der Ehe
realisiert werden kann, wobei er diese in klassischer Weise als dauerhafte
Beziehung von Mann und Frau mit dem Ziel der Fortpflanzung und Erziehung der
Kinder aus seinem naturalistischen Ansatz begründet. Alle Bestimmungen der Ehe – Mann und Frau, Beständigkeit etc. –
werden aus dem Wesen der Sexualität abgeleitet und begründet. Das Ergebnis
unterscheidet sich nirgendwo von der klassischen aristotelisch-thomistischen
Naturrechtsethik. Weiterhin wird Homosexualität diskutiert und als eindeutig „unmoralisch“
bezeichnet, weil sie Sexualität „so behandelt, als gäbe es keinen
geschlechtlichen Unterschied“, obwohl es die Sexualität nur deshalb gibt. Wenn
die Fortpflanzung auf andere Weise geschieht als durch Sexualität, dann ist
dies eine nicht-sexuelle Fortpflanzung, wie sie bei verschiedenen Pflanzen
geschieht, z.B. durch Zellteilung. Es lohnt sich die Argumente Newmans zu
lesen, obwohl es die klassischen Argumente der Naturrechtsethik gegen die
Homosexualität sind.
Abschließend geht der Autor auf zwei weitere Handlungsweisen
ein, die Masturbation und die in vitro Fertilisation und zeigt, dass diese aus
dem rein naturalistisch verstandenen Wesen der Sexualität als unmoralisch
betrachtet werden müssen. Wer diesen sehr lesenswerten Aufsatz lesen möchte,
findet ihn hier: A Realist Sexual Ethics.
Naja, hinsichtlich der Homosexualität und ähnlichen Abweichungen ist die Naturrechtsethik des hl. Thomas ja bereits von Duns Scotus widerlegt worden. Hat Newman den auch nicht gelesen?
AntwortenLöschenBehauptungen gelten nicht. Nennen Sie das angebliche Argument von Scotus gegen die Naturrechtsethik von Thomas.
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