Die Situation für scholastische Philosophen, was die
Publikationen angeht, hat sich in den vergangenen zehn Jahren erheblich
verbessert. Während vor zehn Jahren pro Jahr einige, wenige Neuerscheinungen
zur scholastischen Philosophie zu verzeichnen waren und dies vor allem
historisch orientierte Titel, erscheinen derzeit fast monatlich ein bis zwei
neue Titel. Leider fast ausschließlich auf Englisch. Wie auch sonst ist die
systematische Philosophie in Deutschland leider fünf bis zehn Jahre hinter der
internationalen (d.i. angelsächsischen) Entwicklung hinterher. Heute möchte ich
Ihnen zwei interessante Neuerscheinungen vorstellen.
Zunächst die hervorragende Arbeit des jungen irischen Philosophen
Gaven Kerr, der auch auf Youtube
mit einem Vortrag zum Thema Tradition der scholastischen Philosophie vertreten
ist. Im renommierten Verlag Oxford University Press ist kürzlich sein Buch
Aquina’s Way to God. The Proof in De Ente et Essentia erschienen. Der Titel ist
in Deutschland derzeit offensichtlich vergriffen, denn er wird bei Amazon.de
für den Horrorpreis von fast 170 Euro angeboten (offiziell kostet das Buch im
Hardcover unter 70,00 Euro).
In seiner kleinen Schrift behandelt Kerr den wenig bekannten
Gottesbeweis Thomas von Aquins in seiner Frühschrift De Ente et Essentia – Über
das Sein und das Wesen. Dieser Gottesbeweis taucht, zumindest auf den ersten
Blick, in den „Fünf Wegen“, also den fünf Gottesbeweisen in der Summa
Theologiae nicht auf, was viele Philosophen in der Vergangenheit mit Erstaunen
festgestellt haben. Allerdings wurde bereits seit Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass der Gottesbeweis aus „De Ente“ der „zweite Weg“ in der Summa
ist. Dieser „Zweite Weg“, der immer wieder in der Interpretation Probleme
bereitet hat, da er eine sehr große Ähnlichkeit zum ersten Gottesbeweis (der
auf Aristoteles zurückgeht) zeigt, wurde unter anderem von dem französischen
Neuthomisten Etienne Gilson
schon vor fast 100 Jahren mit dem Gottesbeweis in De Ente et Essentia in
Verbindung gebracht. Dieser Gottesbeweis geht aus von der realen
Verschiedenheit von Wesen und Existenz
und führt dann zu dem Wesen, bei dem Wesenheit und Existenz identisch sind,
d.h. dessen Wesen seine Existenz ist und dies trifft nur auf Gott zu oder, wie
Thomas sagt, „dies nennen alle Gott“.
Gaven Kerr untersucht nun in seiner Schrift sehr ausführlich
und präzise den Gottesbeweis in De Ente. Das Buch ist sehr gut lesbar und
verständlich geschrieben und geht in kleinen Schritten vor. Kerr versucht zu
zeigen, dass dieser Gottesbeweis aus De Ente mit den wenigsten philosophischen
Voraussetzungen auskommt. Grundlage des Gottesbeweises ist vor allem der reale
Unterschied zwischen Wesenheit und Existenz, doch wird dieser Unterschied, der
für Thomas‘ Werk zentral ist, intensiv und mit analytischer Präzision
begründet.
Ein anderer Titel sei noch erwähnt, der in den USA
erschienen ist: Steven J. Jensen: Knowing the Natural Law. From Precepts andInclination to Deriving Oughts.
Thema der Arbeit ist das Naturrecht
und zwar in thomistischem Verständnis. Allerdings geht es nicht primär um eine
Darstellung der Theorie des Naturrechts, obwohl auch dies nicht zu kurz kommt,
sondern um eine Auseinandersetzung mit der sogenannten „New Natural Law Theory“,
die inzwischen zwar auch nicht mehr ganz so neu ist (sie entstand in den 1960er
Jahren). Diese neue Naturrechtstheorie, die auf die beiden Ethiker German
Grizez und John Finnis zurückgeht, versucht den bekanntesten Einwand gegen das
Naturrecht zu umgehen, indem sie den Einwand akzeptiert. Der wichtigste Einwand
gegen das Naturrecht ist der Vorwurf des sogenannten „naturalistischen
Fehlschlusses“, nach dem es nicht möglich ist, aus der Natur oder dem Wesen
einer Sache auf ein moralisches Sollen zu schließen. Üblicherweise wird hier
argumentiert, dass ontologische und moralische Ebene miteinander vermischt
werden, bzw. dass aus einer Tatsache kein Sollen, keine moralische
Handlungsanweisung erfolgt. Ich habe dazu mehrfach in diesem Blog Stellung
genommen (z.B. hier). Die neue Naturrechtstheorie von
Finnis und Grizez versucht nun, die Moral nicht aus der Natur abzuleiten,
sondern aus einigen obersten moralischen Prinzipien, insbesondere dem ersten
Prinzip Thomas von Aquins, „man soll das Gute tun und das Böse unterlassen“.
Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, allerdings handelt es sich dann nicht
mehr um Naturrecht im klassischen Sinne und vor allem kann man sich bei dieser
Theorie nicht auf Thomas berufen, was Finnis und Grizez allerdings tun. Steven
Jensen versucht nun mit verschiedenen guten Argumenten die Berufung auf Thomas zu
widerlegen und er macht zugleich deutlich, dass das Argument des
naturalistischen Fehlschlusses falsch ist und auf Thomas nicht zutrifft. In dem
Buch wird auch ein einflussreicher deutschsprachiger Ethiker mehrfach
kritisiert, der zur Neuen Naturrechtstheorie gehört und Professor für
Moralphilosophie in Rom ist: ich meine den Schweizer Opus Dei Priester Martin Rhonheimer. Beim Lesen dieses Buches wurde mir klar, worin die Grundlage seines liberalen Katholizismus besteht.
Das Buch setzt einige Kenntnisse der Ethik und des
Naturrechts voraus und ist sehr empfehlenswert.
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