Dienstag, 20. Oktober 2015

Neuerscheinungen für Scholastiker



Die Situation für scholastische Philosophen, was die Publikationen angeht, hat sich in den vergangenen zehn Jahren erheblich verbessert. Während vor zehn Jahren pro Jahr einige, wenige Neuerscheinungen zur scholastischen Philosophie zu verzeichnen waren und dies vor allem historisch orientierte Titel, erscheinen derzeit fast monatlich ein bis zwei neue Titel. Leider fast ausschließlich auf Englisch. Wie auch sonst ist die systematische Philosophie in Deutschland leider fünf bis zehn Jahre hinter der internationalen (d.i. angelsächsischen) Entwicklung hinterher. Heute möchte ich Ihnen zwei interessante Neuerscheinungen vorstellen.






Zunächst die hervorragende Arbeit des jungen irischen Philosophen Gaven Kerr, der auch auf Youtube mit einem Vortrag zum Thema Tradition der scholastischen Philosophie vertreten ist. Im renommierten Verlag Oxford University Press ist kürzlich sein Buch Aquina’s Way to God. The Proof in De Ente et Essentia erschienen. Der Titel ist in Deutschland derzeit offensichtlich vergriffen, denn er wird bei Amazon.de für den Horrorpreis von fast 170 Euro angeboten (offiziell kostet das Buch im Hardcover unter 70,00 Euro).



In seiner kleinen Schrift behandelt Kerr den wenig bekannten Gottesbeweis Thomas von Aquins in seiner Frühschrift De Ente et Essentia – Über das Sein und das Wesen. Dieser Gottesbeweis taucht, zumindest auf den ersten Blick, in den „Fünf Wegen“, also den fünf Gottesbeweisen in der Summa Theologiae nicht auf, was viele Philosophen in der Vergangenheit mit Erstaunen festgestellt haben. Allerdings wurde bereits seit Jahrzehnten darauf hingewiesen, dass der Gottesbeweis aus „De Ente“ der „zweite Weg“ in der Summa ist. Dieser „Zweite Weg“, der immer wieder in der Interpretation Probleme bereitet hat, da er eine sehr große Ähnlichkeit zum ersten Gottesbeweis (der auf Aristoteles zurückgeht) zeigt, wurde unter anderem von dem französischen Neuthomisten Etienne Gilson schon vor fast 100 Jahren mit dem Gottesbeweis in De Ente et Essentia in Verbindung gebracht. Dieser Gottesbeweis geht aus von der realen Verschiedenheit von Wesen und Existenz und führt dann zu dem Wesen, bei dem Wesenheit und Existenz identisch sind, d.h. dessen Wesen seine Existenz ist und dies trifft nur auf Gott zu oder, wie Thomas sagt, „dies nennen alle Gott“.



Gaven Kerr untersucht nun in seiner Schrift sehr ausführlich und präzise den Gottesbeweis in De Ente. Das Buch ist sehr gut lesbar und verständlich geschrieben und geht in kleinen Schritten vor. Kerr versucht zu zeigen, dass dieser Gottesbeweis aus De Ente mit den wenigsten philosophischen Voraussetzungen auskommt. Grundlage des Gottesbeweises ist vor allem der reale Unterschied zwischen Wesenheit und Existenz, doch wird dieser Unterschied, der für Thomas‘ Werk zentral ist, intensiv und mit analytischer Präzision begründet.



Ein anderer Titel sei noch erwähnt, der in den USA erschienen ist: Steven J. Jensen: Knowing the Natural Law. From Precepts andInclination to Deriving Oughts. Thema der Arbeit ist das Naturrecht und zwar in thomistischem Verständnis. Allerdings geht es nicht primär um eine Darstellung der Theorie des Naturrechts, obwohl auch dies nicht zu kurz kommt, sondern um eine Auseinandersetzung mit der sogenannten „New Natural Law Theory“, die inzwischen zwar auch nicht mehr ganz so neu ist (sie entstand in den 1960er Jahren). Diese neue Naturrechtstheorie, die auf die beiden Ethiker German Grizez und John Finnis zurückgeht, versucht den bekanntesten Einwand gegen das Naturrecht zu umgehen, indem sie den Einwand akzeptiert. Der wichtigste Einwand gegen das Naturrecht ist der Vorwurf des sogenannten „naturalistischen Fehlschlusses“, nach dem es nicht möglich ist, aus der Natur oder dem Wesen einer Sache auf ein moralisches Sollen zu schließen. Üblicherweise wird hier argumentiert, dass ontologische und moralische Ebene miteinander vermischt werden, bzw. dass aus einer Tatsache kein Sollen, keine moralische Handlungsanweisung erfolgt. Ich habe dazu mehrfach in diesem Blog Stellung genommen (z.B. hier).  Die neue Naturrechtstheorie von Finnis und Grizez versucht nun, die Moral nicht aus der Natur abzuleiten, sondern aus einigen obersten moralischen Prinzipien, insbesondere dem ersten Prinzip Thomas von Aquins, „man soll das Gute tun und das Böse unterlassen“. Dagegen ist zunächst nichts einzuwenden, allerdings handelt es sich dann nicht mehr um Naturrecht im klassischen Sinne und vor allem kann man sich bei dieser Theorie nicht auf Thomas berufen, was Finnis und Grizez allerdings tun. Steven Jensen versucht nun mit verschiedenen guten Argumenten die Berufung auf Thomas zu widerlegen und er macht zugleich deutlich, dass das Argument des naturalistischen Fehlschlusses falsch ist und auf Thomas nicht zutrifft. In dem Buch wird auch ein einflussreicher deutschsprachiger Ethiker mehrfach kritisiert, der zur Neuen Naturrechtstheorie gehört und Professor für Moralphilosophie in Rom ist: ich meine den Schweizer Opus Dei Priester Martin Rhonheimer. Beim Lesen dieses Buches wurde mir klar, worin die Grundlage seines liberalen Katholizismus besteht.



Das Buch setzt einige Kenntnisse der Ethik und des Naturrechts voraus und ist sehr empfehlenswert.

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