Der vierte Gottesbeweis Thomas von Aquins stellt an den modernen
Menschen vermutlich die höchsten Anforderungen. Denn hier wird vorausgesetzt,
dass es eine Hierarchie des Seienden gibt. Angesichts des heute allgemein verbreiteten
Egalitarismus, also der Auffassung, dass alles gleich ist oder zumindest gleich
sein sollte, ist die Vorstellung einer Über- und Unterordnung nicht ganz leicht
zu vermitteln. Ich will es dennoch versuchen.
Der „vierte Weg“ geht von der unbestreitbaren Erfahrung aus,
dass es in unserer Welt Dinge gibt, die gut sind, die eins sind (ein Glas
Wasser ist ein Glas Wasser ist eine
Einheit; ein Baum ist eine Einheit, trotz seiner verschiedenen Teile usw.). Wie
gesagt ist diese Erfahrung kaum zu bestreiten.
Nun ist es aber so, dass wir etwas als gut bezeichnen und
etwas anderes der gleichen Art als besser. Es gibt Eichenbäume, die schöner
aussehen als andere Eichenbäume. Alle Eichhörnchen sind in gewisser Weise gut,
insofern sie seiend sind. Es gibt aber Eichhörnchen, die das, was ein
Eichhörnchen ausmacht, besser zeigen als andere. Beim Skispringen sind einige
Springer besser als die anderen, obwohl sicher alle, die an den
Skispringerweltmeisterschaften teilnehmen, gut sind. Bestimmte Dinge zeigen
eine größere Einheit als andere Dinge. In allen diesen Fällen und in
zahlreichen anderen kann man von einer gewissen Hierarchie sprechen, denn das
eine ist besser, schöner, wahrer und einheitlicher als das andere. Dies gilt
nicht nur im Vergleich von Entitäten ein und derselben Art, sondern auch im
Vergleich von Arten und Gattungen miteinander. Säugetiere sind Insekten deutlich
überlegen, sie sind besser als Insekten. Dies zeigt sich schon daran, dass wir
lästige Insekten beseitigen, während wir dies mit lästigen Säugetieren wohl
nicht so ohne weiteres tun werden.
Nun behauptet Thomas von Aquin, dass etwas nur dann als
besser, edler oder schöner bezeichnet werden kann, wenn es ein Maß gibt, an dem
diese Qualifizierung gemessen werden kann. Es muss so etwas wie „das Schöne“, „das
Gute“, „das Edle“, „das Wahre“ geben. Jede Gute unserer Erfahrungswelt ist
immer ein begrenzt Gutes. Das Gleiche
gilt vom Schönen, Wahren usw. Selbst das schönste Eichhörnchen und der beste
Skispringer ist immer begrenzt. Man könnte sich jederzeit einen besseren
Skispringer oder ein schöneres Eichhörnchen vorstellen. Wenn wir nun aber etwas
als „schöner“ oder „besser“ erkennen, dann muss es ein unbegrenzt Gutes oder
Schönes geben, das als Maß für alles andere gilt, denn sonst könnte jederzeit
noch etwas auftauchen, was schöner oder besser ist als alles Bisherige. An
diesem unbegrenzt Guten, Einen, Schönen haben alle anderen guten, schönen etc.
Dinge teil, insofern sie gut, schön usw. sind.
Spätestens hier kommt nun die Transzendentalienlehre Thomas von Aquins ins Spiel. Ich kann diese
hier nicht erläutern. Diese Theorie argumentiert, dass etwas, dass Seiend ist,
auch gut ist, wahr ist, eines ist, ein Ding ist usw. Die Anzahl der Transzendentalien
ist umstritten, spielt für unseren Zusammenhang aber keine Rolle. Die
transzendentalen Begriffe sind miteinander austauschbar.
Bei den Worten Seiendes und Ding ist dies noch nachvollziehbar.
Vielleicht auch bei Seiend und Eines. Aber bei Wahr und Gut wird es
schon schwieriger. Thomas ist aber der Auffassung, dass es sich bei Seiend und
Gut bzw. Seiend und Wahr nur um unterschiedliche Hinsichten auf ein und
dasselbe handelt. Man kann dies vergleichen mit Freges Unterscheidung von Sinn
und Bedeutung. Der Morgenstern und der Abendstern sind ein und derselbe „Stern“,
nämlich der Planet Venus. Die Worte, mit denen dieser „Stern“ bezeichnet wird,
haben nur einen unterschiedlichen Sinn. „Morgenstern“ ist der Stern am
Firmament, den man am Morgen am längsten sieht und „Abendstern“ ist der Stern,
der am Abendhimmel als erstes und am deutlichen zu erkennen ist. So ähnlich
verhält es sich auch bei den Begriffen Sein und Gut, bzw. Wahr, Eines etc. Das
Seiende in Hinsicht auf den Willen ist etwas Gutes. Das Seiende in Hinsicht auf
den Verstand ist das Wahre. Daher sind die Begriffe Seiend und Gut, Wahr, Eines
etc. austauschbar, konvertibel, wie
es bei Thomas heißt.
Wenn man dem zustimmen kann, dann folgt daraus aber, dass es
ein Seiendes geben muss, dass in höchstem Maße Seiend ist. Und ein solches „in
vollkommenstem Maße Seiendes“ ist dann zugleich vollkommen gut, vollkommen eins,
vollkommen wahr usw. Ein solches Seiendes ist mit anderen Worten das Sein
selbst, es ist das Gute selbst, das Wahre selbst. Alle Dinge unserer
Erfahrungswelt haben an diesem Sein selbst in bestimmter Art und Weise, mehr
oder weniger, teil. Jedes Gute ist insofern gut, als es am Guten selbst
teilhat.
Im Unterschied zu dem unklaren Begriff der Teilhabe, wie er
bei Platon verwendet und schon von Aristoteles kritisiert wurde, versteht
Thomas die Teilhaberelation als eine Relation von Ursache und Wirkung. Die
höchste Gut bewirkt dementsprechend die Gutheit der Eichhörnchen, der Orchideen
oder der Menschen. Das Entsprechende gilt auch für die Einheit, die Wahrheit
oder Schönheit, d.h. für alle Transzendentalien.
Dieses in höchster Weise Vollkommene, das Sein selbst, das
Gute selbst usw. ist die Ursache für jedes andere Seiende, Gute, Wahre und
Schöne. Und da diese verschiedenen Bestimmungen ein und dasselbe meinen, ist
dieses Sein selbst: Gott.
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