Unter Aristotelikern gibt es eine Diskussion über die Frage,
ob unbelebte Entitäten wie Kieselsteine, Felsbrocken oder Sandkörner Substanzen
sind oder ob nur die Moleküle, aus denen diese Dinge bestehen, als Substanzen
betrachtet werden können. Für Aristoteles, Thomas von Aquin und ältere Scholastiker
konnte diese Frage zumindest nicht in dieser Form entstehen, da sie von der
atomaren Struktur der Dinge noch nichts wussten. Natürlich setzte sich bereits
Aristoteles mit den antiken Atomisten auseinander, allerdings war deren
Atombegriff ein philosophischer Begriff und nicht ein physikalischer Begriff.
Zudem behaupteten die antiken Atomisten, dass alles was existiert,
ausschließlich aus Atomen zusammengesetzt ist und dass diese Atome sich durch
Zufall zu bestimmten komplexen Entitäten ordnen, wie Steinen, Pflanzen, Tieren
und Menschen. Diese Auffassung steht auch bei vielen materialistischen
Philosophien der Gegenwart im Hintergrund, wenn freilich auch erheblich
komplexer ausgearbeitet durch die Verbindung des Atomismus mit der
Naturwissenschaft. Die Frage der Aristoteliker nach der Substanzialität der
unbelebten Materie hat einen anderen Hintergrund.
Dieser entspringt nicht aus dem Atomismus oder auch nur aus
einer Auseinandersetzung mit dem Atomismus, sondern aus einer sozusagen „inneraristotelischen“
Problematik. Die Vertreter der Theorie, dass unbelebte Entitäten nur Komplexe
von Molekülen sind, die bloß durch eine äußere Zusammensetzung zu Dingen
werden, wie wir sie makroskopisch wahrnehmen, hat einiges für sich. Dass ein
Molekül oder ein Atom eine Substanz ist, steht außer Zweifel. Ein Molekül hat
eine bestimmte substanzielle Form. Bei den Molekülen von Steinen handelt es
sich z.B. um Quarz oder Kalk in Verbindung mit anderen Stoffen, wie Eisen usw.
Wasser ist H2O. Natürlich hat eine Ansammlung von Wasser oder von Quarzatomen
andere Eigenschaften als ein einzelnes Quarzmolekül, aber diese Änderung der
Eigenschaften ändert nichts an der substantiellen Form, nämlich, dass es sich
um ein Quarzmolekül handelt. Deshalb, so das Argument, kann man nur die Atome
und Moleküle als Substanzen betrachten und nicht die Komplexe, wie ein Sandkorn
oder einen Stein, bzw. einen Eimer Wasser.
Im Unterschied dazu verteidigen andere Aristoteliker die
überlieferte Auffassung, dass materielle Dinge wie Steine, Wasser oder auch
Luft selbst Substanzen sind. Allerdings war es schwierig, Argumente für diese
Auffassung bei Aristoteles oder späteren Aristotelikern nachzuweisen, mit denen
sie diese Behauptung untermauern konnten. Zur Lösung dieser Problematik hat die
amerikanische Thomistin Eleonore Stump,
eine der renommiertesten Thomas-Forscher der Gegenwart, ein entscheidendes
Argument beigetragen.
Stump hat in einem wichtigen Aufsatz aus dem Jahre 2013* einen
Indikator für das Vorliegen einer Substanz vorgeschlagen, der meines Erachtens überzeugend
ist und die traditionelle Position der Aristoteliker verteidigen kann. Der
Indikator für das Vorhandensein einer Substanz und damit für das Bestehen einer
substanziellen Form ist nach Stump der Besitz nicht-reduzierbarer kausaler
Kräfte. Ein Stein besitzt solche kausalen Kräfte, die sich nicht auf die
kausalen Kräfte der Moleküle zurückführen lassen. Natürlich haben auch die
Moleküle, aus denen ein Stein besteht, kausale Kräfte, doch diese unterscheiden
sich ganz deutlich von den kausalen Kräften eines Steines. Wenn ein
Quarzmolekül meinen Kopf trifft, wird mir dies keine Schmerzen bereiten, ein
Stein an meinem Kopf hingegen kann mir erhebliche Schmerzen verursachen. Ein
Wassermolekül macht nicht nass, ein Eimer Wasser sehr wohl. Diese kausale Kraft
eines Eimer Wassers ist nicht auf die Wassermoleküle reduzierbar, denn
Wassermoleküle sind nicht nass.
Die kausalen Kräfte eines Steins, einer bestimmten Menge
Wasser und anderer unbelebter Dinge weisen darauf hin, dass es sich um eine
eigene substanzielle Form handelt, die sich von der substanziellen Form der
zugrundeliegenden Moleküle unterscheidet.
Demgegenüber ist ein Haufen
Kieselsteine nur eine akzidentelle Ansammlung von Substanzen. Selbst wenn diese
Ansammlung neue Eigenschaften hat, ändert dies nichts an der substanziellen
Form der Steine.
Man könnte jetzt noch die Frage stellen, ab welcher Menge von
Molekülen eine neue substanzielle Form entsteht, die kausale Kräfte besitzt,
die die Moleküle unterhalb dieser Menge nicht besitzen. Allerdings ist das
keine philosophische Frage, sondern eine Frage der Physik. Ein bestimmtes
Forschungsgebiet der Physik, die Clusterphysik, behandelt solche Fragen, wenn
auch nicht unter einem philosophischen Gesichtspunkt.
· * Eleonore Stump (2013): Emergence,
Causal Powers, and Aristotelianism in Metaphysics”, in: Powers and Capacities
in Philosophy: The New Aristotelian, ed. By Ruth Groff and John Greco (London:
Routledge).
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