1. Alles, was existiert,
hat eine Wesenheit oder eine Natur.
Die Wesenheit oder Natur einer Entität ist das, was diese ist. Sie lässt sich
prinzipiell in einer Definition
ausdrücken, auch wenn dies in vielen Fällen nicht einfach oder überhaupt gar
nicht möglich ist. Keine einzige Wesenheit ist für uns vollständig erkennbar,
doch ist dies auch nicht erforderlich, um Wesenheiten grundsätzlich erkennen zu
können. Es ist ein oft geäußerter Einwand gegen die Behauptung, dass es
Wesenheiten gibt, dass diese nur unklar erkennbar sind. So gibt es z. B. bei
vielen Wesenheiten die Schwierigkeit einer klaren Abgrenzung von anderen
Wesenheiten. Als Beispiel kann man hier die Abgrenzung zwischen Baum und
Strauch anführen. Dennoch weiß jeder, was ein Baum und was ein Strauch ist,
auch wenn dies in bestimmten Fällen nicht genau bestimmt werden kann. Es gibt
freilich viele weitere Einwände gegen die Annahme von Wesenheiten. Wer aus
welchen Gründen auch immer Wesenheiten grundsätzlich abstreitet, kann die
Argumentation der natürlichen Ethik nicht nachvollziehen.
2. Die Tätigkeit eines
Existierenden folgt aus seiner Wesenheit oder Natur.
Wenn es Wesenheiten gibt, dann folgt aus ihnen die Tätigkeit
derjenigen Dinge, die diese Wesenheiten haben. Mit anderen Worten ausgedrückt:
Die Naturgesetze sind Gesetze der Naturen, der Wesenheiten. Dass eine Rose im
Sommer blüht, wenn die entsprechenden Bedingungen gegeben sind, folgt aus der
Natur der Rose.
3. Auch der Mensch hat
eine Wesenheit, und aus dieser folgt seine Tätigkeit und sein Handeln.
Alle Tätigkeiten und Handlungen des Menschen sind menschliche
Handlungen. Sie folgen aus seiner Natur als der eines rationalen
(vernunftbegabten) Sinnenwesens. Dass Menschen lachen, ist eine menschliche
Tätigkeit, ebenso wie dass Menschen Philosophie studieren.
4. Jede Tätigkeit einer
Wesenheit ist auf ein Ziel oder einen Zweck gerichtet.
Tätigkeiten sind nie sinn- oder zwecklos, sondern sind stets
intentional, d. h. auf ein Ziel gerichtet. Dies gilt nicht nur von menschlichen
Handlungen – wenn auch hier in besonderem, d. h. bewusstem Sinne –, sondern
ebenso von allen anderen Lebewesen. Die Balz der Vögel ist letztlich auf die
Erhaltung der Art gerichtet, wenn dies den Vögeln auch überhaupt nicht bewusst
ist oder bewusst sein muss. Das Ziel jeder Tätigkeit ist stets irgendein Gut,
z. B. die Fortpflanzung und die Erhaltung der Art; die Ernährung, die das Ziel
der Selbsterhaltung hat; der Fluchtinstinkt oder das Anschleichen der
Raubkatze, die ebenfalls der Selbsterhaltung dienen.
5. Während die
Tätigkeit der unbelebten und belebten Entitäten nicht frei ist und sie stets in
derselben Weise tätig sind und dabei ihre vorgegebenen Ziele zumeist erreichen,
ist der Mensch frei und kann in einer Weise handeln, die seinem Ziel
widerspricht.
Aus den zuvor erwähnten Beispielen wird deutlich, dass Tiere,
aber ebenso auch Pflanzen und die unbelebte Natur gesetzmäßig tätig sind, d. h.
dass diese Lebewesen nicht frei tätig sind, sondern z. B. bestimmten Trieben
folgen. Die Tätigkeit der Atome und Moleküle folgt bestimmten Gesetzen, die von
der Physik und Chemie beschrieben werden, und diese Gesetze folgen aus der
Natur der Atome und Moleküle. Heliumatome z. B. verbinden sich nicht mit
anderen Atomen, während Wasserstoffatome reaktionsfreudig sind. Auch
verschiedene Tätigkeiten des Menschen, wie der Herzschlag und die Funktionen
anderer innerer Organe, folgen diesen physikalisch-chemischen Gesetzen. Doch
darüber hinaus kann der Mensch sich frei entscheiden. Wie bei allen anderen
Entitäten ergeben sich auch aus der menschlichen Natur objektive Ziele, doch
der Mensch kann diesen Zielen zuwiderhandeln. Die Ernährung dient der
Selbsterhaltung und hat beim Menschen darüber hinaus auch kulturelle und
soziale Zwecke. Wer jedoch mehr isst, als den Zwecken der Selbsterhaltung
zuträglich ist, der wird nicht nur auf Dauer krank, sondern handelt den
objektiven Zielen seiner Natur zuwider (woraus die Krankheit folgt). Der Besitz
von Eigentum ist zweifellos ein Gut, das zur Erhaltung der menschlichen Natur
erforderlich ist, aber auch zum Unterhalt der Familie, und das viele weitere
Zwecke verfolgt. Wer sich diesen Besitz aber durch einen Banküberfall oder
Einbruch erwirbt, handelt gegen die menschliche Natur. Diese Möglichkeit hat
das Tier nicht; es handelt nicht gegen seine Natur, sondern verfolgt die
vorgegebenen objektiven Zwecke seiner Natur, auch wenn es dabei nicht immer
erfolgreich sein muss.
6. Die sich aus der
menschlichen Natur ergebenden Ziele oder Zwecke sind der objektive Maßstab für
die Pflichten und Rechte des Menschen.
Bei den fundamentalen Pflichten und Rechten des Menschen sind
es entsprechend auch die grundlegenden Ziele der menschlichen Natur, aus der
sich diese ergeben. Der Mensch ist ein rationales Wesen; dies ist die
spezifische Differenz seiner Natur zum Tier. Daraus folgt, dass alle
Tätigkeiten und Handlungen des Menschen so sein sollen, dass sie von der
Rationalität bestimmt werden. Dies bedeutet, dass die körperlichen und
emotionalen Triebe oder Bedürfnisse den rationalen Erfordernissen untergeordnet
werden müssen. Im Unterschied zum Tier ist der Mensch auf ein letztes Ziel
gerichtet, nämlich die ewige Glückseligkeit, eudaimonia, wie es bei Aristoteles heißt. Dass diese Glückseligkeit
nicht in irgendeinem endlichen Gut bestehen kann, wussten bereits Platon und
Aristoteles, die beide diese Glückseligkeit in der philosophischen Erkenntnis
und besonders in der höchsten philosophischen Erkenntnis erblickten, nämlich
der Erkenntnis Gottes. Dementsprechend sollen die menschlichen Handlungen so
geordnet sein, dass sie diesem letzten Ziel zumindest nicht widersprechen. Dies
bedeutet, dass jede andere Tätigkeit als
Mittel dem letzten Ziel untergeordnet werden soll.
7. Eine den
menschlichen Zielen zuwiderlaufende freie und bewusste Handlung ist moralisch
schlecht oder böse; eine freie und bewusste Handlung, die im Einklang mit den
natürlichen Zielen oder Zwecken des Menschen steht, ist moralisch gut.
Die moralischen Eigenschaften Gut und Böse ergeben
sich entsprechend aus den Zielen der menschlichen Natur, denn gut ist das, was
diesen Zielen entspricht. Da der Mensch sich nur verwirklichen kann, solange er
lebt, wird ihm das wichtigste Gut genommen, wenn man ihn tötet. Und dies ist
unabhängig davon, ob er krank ist oder sehr schwer leidet, denn auch das
persönliche Leid ist nicht ein Hinderungsgrund zur Erreichung des letzten
Zieles, sondern kann sogar ein besonderes Mittel dazu sein. Daraus folgt das
fundamentale Recht auf Leben. Alle weiteren Rechte und Pflichten lassen sich
auf dieser Grundlage ableiten.
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