Freitag, 1. September 2017

Ein strenger erkenntnistheoretischer Realismus



Es ist Urlaubszeit und da hat der Scholastiker das Blog etwas vernachlässigt. Hinzu kommt dann noch, dass ich in der vergangenen Woche auf einem internationalen Philosophiekongress in München war. Es war der Kongress der European Society for Analytic Philosophy mit 700 Teilnehmern und fast 500 Vorträgen. Trotz dieser gewaltigen Menge an Vorträgen gab es nur etwa zwei oder drei Vorträge, die einen Bezug zur aristotelisch-scholastischen Philosophie erkennen ließen. Dies bestätigte meine Vermutung, dass die europäische Philosophie etwa 10 Jahre hinter der amerikanischen Philosophie zurückbleibt.
In den USA erscheint monatlich mindestens eine systematische philosophische Studie auf der Grundlage der aristotelisch-thomistischen Philosophie, in Deutschland – keine einzige. Heute möchte ich Ihnen ein weiteres, bereits erwähntes Buch vorstellen, das ich für eines der besten Neuerscheinungen aus dem Bereich des analytischen Thomismus in den letzten 10 Jahre halte: Anthony Lisska: Aquinas‘s Theory of Perception.




Anthony Lisska ist ein klassischer Vertreter des analytischen Thomismus und seine Studie aus dem Jahre 1996 „Aquinas Theory of Natural Law. An AnalyticRecontruction“ (Oxford: Clarendon Press) gehört inzwischen zu den Klassikern der Schriften zur thomistischen Ethik und zum Naturrecht. Lisska geht bereits in dieser frühen Schrift mit einer Methode vor, die sonst eher selten angewendet wird, die ich aber für die Arbeit mit historischen Texten für sehr überzeugend halte. Diese Methode wurde von dem analytischen Ontologen Gustav Bergmann etwa in den 1950er Jahren entwickelt. Bergmann gilt heute als einer der ersten, wenn nicht als der erste analytische Ontologe und hat diese Methode insbesondere in der Auseinandersetzung mit Schriften von Franz Brentano und Alexius Meinong entwickelt. Die Methode wird schon von Bergmann als „structural history of philosophy“ bezeichnet, also als strukturelle Philosophiegeschichte. Diese Methode wurde von Schülern Bergmanns weiterentwickelt, besonders von Henry Veatch und Herbert Hochberg. Bergmann beschreibt die Methode selbst mit wenigen Worten: „Worüber ich spreche ist strukturelle Geschichte, die, in einem bestimmten Sinne, weder faktisch noch kausal ist. Es ist vielmehr eine vergleichende Analyse von Ideen in ihrer logischen wechselseitigen Abhängigkeit“. Diese Abhängigkeit ist den Philosophen zu der Zeit der Abfassung ihrer Schrift selbst nicht bekannt, so dass die structural history Analyse und Interpretation erfordert.

Doch das Thema dieses Blogbeitrags soll nun nicht die Methode der Untersuchung sein, sondern die Theorie der Wahrnehmung bei Thomas von Aquin, die Lisska mit Hilfe dieser Methode besonders klar und erhellend herausarbeitet.

Nach einigen einführenden Worten über das Thema und die besondere Bedeutung des Kommentars zu Aristoteles De Anima von Thomas von Aquin, die hier im Mittelpunkt der Studie steht, beginnt Lisska mit der Darstellung der Intentionalitätstheorie bei Thomas, die sich deutlich von Intentionalitätstheorien des 19. und 20. Jahrhunderts, also vor allem Brentano und Husserl, unterscheidet. Das Prinzip der thomistischen Intentionalitätstheorie besteht in der Annahme, dass Wissen bzw. Erkenntnis darin besteht, dass die Form eines Gegenstandes ohne dessen Materie im Bewusstsein aufgenommen wird und dass die Form, die im Bewusstsein ist, identisch ist mit der Form des Gegenstandes, dass es sich also nicht um zwei, sondern um eine Form handelt. Diese These wird von Lisska in aller Ausführlichkeit und Präzision vorgestellt und begründet.

Im dritten (von insgesamt 12 Kapiteln) geht Lisska auf den Empirismus Thomas von Aquins ein, auf die Gemeinsamkeiten mit den englischen Empiristen und auf die deutlichen Unterschiede. Das vierte Kapitel behandelt die erkenntnistheoretischen Dispositionen, die notwendig sind, damit überhaupt eine Erkenntnis möglich wird, also die kausalen Kräfte und die menschliche Person. In diesem Zusammenhang wird die Akt-Potenz-Theorie erläutert, die von herausragender Bedeutung ist, um die antirepräsentationalistische Erkenntnistheorie des Aquinaten verständlich zu machen. Dies ist eines der zentralen Anliegen Lisskas: Zu zeigen, dass Thomas alles andere als ein Repräsentationalist ist, ein Missverständnis, dem auch ich leider immer wieder in Auseinandersetzungen über Thomas mit anderen Philosophen begegnet bin.

Das 5. Kapitel unter dem Titel „Objects and Faculties. Teleology in Sensation“ zeigt die Bedeutung der Teleologie im Zusammenhang mit der Erkenntnistheorie. Jedes Erkenntnisvermögen – und hier geht es zunächst um die (inneren und äußeren) sinnlichen Vermögen – sind auf einen ganz bestimmten, genau zu ihnen passenden Gegenstand gerichtet. Wichtig ist dabei die Betonung des Unterschieds von Sinnesvermögen und Sinnesorgan. Das Auge ist nicht identisch mit dem Sehvermögen und dieses ist auf Farben als seinem Gegenstand gerichtet.

Das 6. Kapitel behandelt die Voraussetzungen des visuellen Bewusstseins, dessen Objekt und Medium. Sehen setzt als Medium Licht voraus, Hören setzt die Luft voraus. Die notwendigen Bedingungen der Wahrnehmung werden im 7. Kapitel thematisiert und hier besteht, wie der Autor herausarbeitet, eine „triadische Relation“ zwischen Objekt, Medium (Licht, Luft, Wasser) und dem Vermögen. Hier wird deutlich, dass der thomistische direkte Realismus das transzendiert, was herkömmlich als direkter Realismus bezeichnet wird und ganz besonders den Repräsentationalismus.

Das 8. Kapitel analysiert dann den zentralen Begriff des sensus communis, des Gemeinsinns als dem ersten der inneren Sinnesvermögen. Dieses Vermögen kombiniert die verschiedenen Formen, die von den äußeren Sinnesvermögen aufgenommen wurden (Farben, Gerüche, Rauheit etc.) zu einem sinnlichen Gesamteindruck. In den nun folgenden Kapiteln erreicht die Studie ihren Höhepunkt. Im 9. Kapitel weist Lisska ausführlich die zahlreichen und hartnäckigen Missverständnisse um die Vorstellung und die phantasia zurück, die zu den inneren Sinnen gehören und stets, bis heute und oft auch durch die Neuscholastiker, in einem repräsentationalistische Sinne interpretiert wurden. So verwechselt Descartes den Gemeinsinn mit der Vorstellung, was notwendigerweise zum Repräsentationalismus führen muss.

Das 10. Kapitel behandelt das schwierigsten innere Sinnesvermögen, die vis cogitativa, die zum Verständnis der thomistischen Wahrnehmungstheorie von herausragender Bedeutung ist. Mit diesem Vermögen übersteigt Thomas nämlich den späteren Empirismus David Humes als auch den empiristischen Idealismus von Berkeley. Der Gegenstand der vis cogitativa ist nämlich die individuelle Substanz einer natürlichen Art. Dies wird von Lisska mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet und bildet dann bei Thomas die Grundlage der rationalen Erkenntnis, die in diesem Buch nicht behandelt wird.

Im 11. und im 12. Buch analysiert Lisska die Rolle des Phantasmas durch den Begriff der Ähnlichkeit (similitudo), indem er drei verschiedene Bedeutungen dieses Begriffs differenziert, von denen nur eine zum Verständnis des Begriffs des Phantasmas von Bedeutung ist. Das Phantasma ist kein Sinnesdatum wie Empiristen unterstellen und auch kein „Bild“. Es gibt drei verschiedene Kategorien des Phantasmas, eine, die jedem Vermögen der inneren Sinne entspricht mit einem besonderen Bezug auf die Wahrnehmung des Individuums durch die vis cogitativa.

Das Buch ist gut lesbar geschrieben, zentrale Ergebnisse werden immer wiederholt und so eignet sich dieses Buch nicht nur für Fachleute in der Erkenntnistheorie, sondern auch zur Einführung in die Wahrnehmungstheorie Thomas von Aquins. Besonders die klare Argumentation für eine realistische und antiskeptizistische Wahrnehumgstheorie des Aquinaten macht dieses Buch für jeden Interessenten wertvoll.

Bibliographische Daten:

Anthony Lisska
An Analytic Reconstruction
Oxford 2016 (Oxford University Press)
353 Seiten, 89,49 EUR (eBook 45,00 EUR)

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