Es ist Urlaubszeit und da hat der Scholastiker das Blog
etwas vernachlässigt. Hinzu kommt dann noch, dass ich in der vergangenen Woche
auf einem internationalen Philosophiekongress in München war. Es war der
Kongress der European Society for
Analytic Philosophy mit 700 Teilnehmern und fast 500 Vorträgen. Trotz
dieser gewaltigen Menge an Vorträgen gab es nur etwa zwei oder drei Vorträge,
die einen Bezug zur aristotelisch-scholastischen Philosophie erkennen ließen.
Dies bestätigte meine Vermutung, dass die europäische Philosophie etwa 10 Jahre
hinter der amerikanischen Philosophie zurückbleibt.
In den USA erscheint monatlich mindestens eine systematische
philosophische Studie auf der Grundlage der aristotelisch-thomistischen
Philosophie, in Deutschland – keine einzige. Heute möchte ich Ihnen ein
weiteres, bereits erwähntes Buch vorstellen, das ich für eines der besten Neuerscheinungen
aus dem Bereich des analytischen Thomismus in den letzten 10 Jahre halte: Anthony
Lisska: Aquinas‘s Theory of Perception.
Anthony Lisska ist ein klassischer Vertreter des
analytischen Thomismus und seine Studie aus dem Jahre 1996 „Aquinas Theory of Natural Law. An AnalyticRecontruction“
(Oxford: Clarendon Press) gehört inzwischen zu den Klassikern der Schriften zur
thomistischen Ethik und zum Naturrecht. Lisska geht bereits in dieser frühen
Schrift mit einer Methode vor, die sonst eher selten angewendet wird, die ich
aber für die Arbeit mit historischen Texten für sehr überzeugend halte. Diese
Methode wurde von dem analytischen Ontologen Gustav Bergmann etwa in den 1950er Jahren entwickelt. Bergmann gilt
heute als einer der ersten, wenn nicht als der
erste analytische Ontologe und hat diese Methode insbesondere in der
Auseinandersetzung mit Schriften von Franz Brentano und Alexius Meinong
entwickelt. Die Methode wird schon von Bergmann als „structural history of philosophy“ bezeichnet, also als strukturelle
Philosophiegeschichte. Diese Methode wurde von Schülern Bergmanns
weiterentwickelt, besonders von Henry Veatch und Herbert Hochberg. Bergmann
beschreibt die Methode selbst mit wenigen Worten: „Worüber ich spreche ist
strukturelle Geschichte, die, in einem bestimmten Sinne, weder faktisch noch kausal
ist. Es ist vielmehr eine vergleichende Analyse von Ideen in ihrer logischen
wechselseitigen Abhängigkeit“. Diese Abhängigkeit ist den Philosophen zu der
Zeit der Abfassung ihrer Schrift selbst nicht bekannt, so dass die structural history Analyse und
Interpretation erfordert.
Doch das Thema dieses Blogbeitrags soll nun nicht die Methode
der Untersuchung sein, sondern die Theorie der Wahrnehmung bei Thomas von
Aquin, die Lisska mit Hilfe dieser Methode besonders klar und erhellend
herausarbeitet.
Nach einigen einführenden Worten über das Thema und die
besondere Bedeutung des Kommentars zu
Aristoteles De Anima von Thomas von Aquin, die hier im Mittelpunkt der
Studie steht, beginnt Lisska mit der Darstellung der Intentionalitätstheorie
bei Thomas, die sich deutlich von Intentionalitätstheorien des 19. und 20.
Jahrhunderts, also vor allem Brentano und Husserl, unterscheidet. Das Prinzip
der thomistischen Intentionalitätstheorie besteht in der Annahme, dass Wissen
bzw. Erkenntnis darin besteht, dass die Form eines Gegenstandes ohne dessen
Materie im Bewusstsein aufgenommen wird und dass die Form, die im Bewusstsein ist,
identisch ist mit der Form des Gegenstandes, dass es sich also nicht um zwei,
sondern um eine Form handelt. Diese These wird von Lisska in aller
Ausführlichkeit und Präzision vorgestellt und begründet.
Im dritten (von insgesamt 12 Kapiteln) geht Lisska auf den
Empirismus Thomas von Aquins ein, auf die Gemeinsamkeiten mit den englischen
Empiristen und auf die deutlichen Unterschiede. Das vierte Kapitel behandelt
die erkenntnistheoretischen Dispositionen, die notwendig sind, damit überhaupt
eine Erkenntnis möglich wird, also die kausalen Kräfte und die menschliche Person.
In diesem Zusammenhang wird die Akt-Potenz-Theorie erläutert, die von
herausragender Bedeutung ist, um die antirepräsentationalistische
Erkenntnistheorie des Aquinaten verständlich zu machen. Dies ist eines der
zentralen Anliegen Lisskas: Zu zeigen, dass Thomas alles andere als ein
Repräsentationalist ist, ein Missverständnis, dem auch ich leider immer wieder
in Auseinandersetzungen über Thomas mit anderen Philosophen begegnet bin.
Das 5. Kapitel unter dem Titel „Objects and Faculties. Teleology
in Sensation“ zeigt die Bedeutung der Teleologie im Zusammenhang mit der
Erkenntnistheorie. Jedes Erkenntnisvermögen – und hier geht es zunächst um die (inneren
und äußeren) sinnlichen Vermögen – sind auf einen ganz bestimmten, genau zu
ihnen passenden Gegenstand gerichtet. Wichtig ist dabei die Betonung des
Unterschieds von Sinnesvermögen und Sinnesorgan. Das Auge ist nicht identisch
mit dem Sehvermögen und dieses ist auf Farben als seinem Gegenstand gerichtet.
Das 6. Kapitel behandelt die Voraussetzungen des visuellen
Bewusstseins, dessen Objekt und Medium. Sehen setzt als Medium Licht voraus,
Hören setzt die Luft voraus. Die notwendigen Bedingungen der Wahrnehmung werden
im 7. Kapitel thematisiert und hier besteht, wie der Autor herausarbeitet, eine
„triadische Relation“ zwischen Objekt, Medium (Licht, Luft, Wasser) und dem
Vermögen. Hier wird deutlich, dass der thomistische direkte Realismus das
transzendiert, was herkömmlich als direkter Realismus bezeichnet wird und ganz
besonders den Repräsentationalismus.
Das 8. Kapitel analysiert dann den zentralen Begriff des sensus communis, des Gemeinsinns als dem
ersten der inneren Sinnesvermögen. Dieses Vermögen kombiniert die verschiedenen
Formen, die von den äußeren Sinnesvermögen aufgenommen wurden (Farben, Gerüche,
Rauheit etc.) zu einem sinnlichen Gesamteindruck. In den nun folgenden Kapiteln
erreicht die Studie ihren Höhepunkt. Im 9. Kapitel weist Lisska ausführlich die
zahlreichen und hartnäckigen Missverständnisse um die Vorstellung und die phantasia
zurück, die zu den inneren Sinnen gehören und stets, bis heute und oft auch
durch die Neuscholastiker, in einem repräsentationalistische Sinne
interpretiert wurden. So verwechselt Descartes den Gemeinsinn mit der
Vorstellung, was notwendigerweise zum Repräsentationalismus führen muss.
Das 10. Kapitel behandelt das schwierigsten innere
Sinnesvermögen, die vis cogitativa,
die zum Verständnis der thomistischen Wahrnehmungstheorie von herausragender
Bedeutung ist. Mit diesem Vermögen übersteigt Thomas nämlich den späteren
Empirismus David Humes als auch den empiristischen Idealismus von Berkeley. Der
Gegenstand der vis cogitativa ist
nämlich die individuelle Substanz einer natürlichen Art. Dies wird von Lisska
mit aller Deutlichkeit herausgearbeitet und bildet dann bei Thomas die
Grundlage der rationalen Erkenntnis, die in diesem Buch nicht behandelt wird.
Im 11. und im 12. Buch analysiert Lisska die Rolle des Phantasmas
durch den Begriff der Ähnlichkeit (similitudo),
indem er drei verschiedene Bedeutungen dieses Begriffs differenziert, von denen
nur eine zum Verständnis des Begriffs des Phantasmas von Bedeutung ist. Das
Phantasma ist kein Sinnesdatum wie
Empiristen unterstellen und auch kein „Bild“. Es gibt drei verschiedene
Kategorien des Phantasmas, eine, die jedem Vermögen der inneren Sinne
entspricht mit einem besonderen Bezug auf die Wahrnehmung des Individuums durch
die vis cogitativa.
Das Buch ist gut lesbar geschrieben, zentrale Ergebnisse
werden immer wiederholt und so eignet sich dieses Buch nicht nur für Fachleute
in der Erkenntnistheorie, sondern auch zur Einführung in die
Wahrnehmungstheorie Thomas von Aquins. Besonders die klare Argumentation für
eine realistische und antiskeptizistische Wahrnehumgstheorie des Aquinaten
macht dieses Buch für jeden Interessenten wertvoll.
Bibliographische Daten:
Anthony
Lisska
An Analytic
Reconstruction
Oxford 2016
(Oxford University Press)
353 Seiten,
89,49 EUR (eBook 45,00 EUR)
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