Dienstag, 3. Dezember 2019

Die Wahrheit des Szientismus


In den letzten Jahrzehnten scheint sich der Szientismus als die vorherrschende Strömung nicht nur in der Philosophie, sondern auch im alltäglichen Leben durchgesetzt zu haben. Wir erwarten von der Wissenschaft und insbesondere von der Naturwissenschaft die Antwort auf alle wesentlichen Fragen. Ein Blick in die Medien und insbesondere in die populären Wissenschaftsmagazine, ob im Fernsehen oder in anderen Medien, macht diesen Trend deutlich. Es sind fast die einzigen Sendungen und Magazine, die einen Zuwachs an Zuschauern und Lesern verzeichnen können. 


Der in der Öffentlichkeit wohl bekannteste Vertreter des Szientismus ist der im März des vergangenen Jahres verstorbene Physiker Stephen Hawkins, der eine starke Abneigung gegen die Philosophie hatte, obwohl ein großer Teil seiner Aussagen eher metaphysischer als physikalischer Natur sind. Die Gründe für diese Entwicklung sind vielfältig. Eines der wichtigsten Gründe für die heutige Vorherrschaft des Szientismus dürfte der wohl nicht zu leugnende enorme Fortschritt der Wissenschaften in den vergangenen 100 Jahren sein. Von Szientisten wird deshalb auch dieser Fortschritt der Wissenschaft als das entscheidende Argument für die Wahrheit des Szientismus ins Feld geführt und dafür argumentiert, dass die wissenschaftliche Methode die Einzige ist, die zu zuverlässigen und wahren Ergebnissen führt.



Die moderne szientistische Weltanschauung unterscheidet sich von der szientistischen Weltanschauung die vor etwa 100 Jahren im Umfeld des Wiener Kreises entstanden ist, also dem Szientismus, der unter dem Namen des Logischen Empirismus nicht nur in der Philosophie, sondern auch in den Natur- und Sozialwissenschaften großen Einfluss ausgeübt hat. Die wichtigsten Vertreter dieser Strömung waren Rudolph Carnap, Otto Neurath, Herbert Feigl, Moritz Schlick und in einem weiteren Sinne auch Philosophen wie Ludwig Wittgenstein und Willard van Orman Quine. Es ist heute in der Philosophie allgemein anerkannt, dass der ursprüngliche Ansatz dieser philosophischen Richtung bereits nach kurzer Zeit gescheitert ist. Gleichwohl ist der Einfluss dieser streng szientistischen Richtung der Philosophie auf die weitere Entwicklung der Philosophie in Europa und den USA nicht zu unterschätzen. Insbesondere die sogenannte analytische Philosophie hat den szientistischen Ansatz des Wiener Kreises übernommen und beständig weiterentwickelt. Während die Vertreter des Wiener Kreises und auch noch die ersten analytischen Philosophen Philosophie auf den engen Bereich der Wissenschaftstheorie beschränkten, wurde später, ab etwa Ende der 1950er Jahre, allmählich die analytische Philosophie auf nahezu alle philosophischen Gebiete ausgeweitet, so z.B. auf die Erkenntnistheorie, die Ontologie und Metaphysik, Religionsphilosophie, die Ethik bis hin zur Ästhetik. Im Hintergrund dieser Entwicklung war aber stets eine szientistische Weltanschauung mit der dazu gehörenden empiristischen Methodik vorherrschend.[1]



Im Folgenden möchte ich die szientistische Weltanschauung allgemein charakterisieren und die von Edward Feser (2014) herausgestellten vier grundsätzlichen Probleme des Szientismus vorstellen. Ich werde dann die Grundlagen und Methoden der wissenschaftlichen Erkenntnis analysieren und zu zeigen versuchen, dass die Wissenschaften grundsätzlich keine vollständige Erkenntnis der Welt liefern können, sondern durch ihre Methodik auf einen engen Bereich der Wirklichkeit beschränkt sind. Zudem werde ich auf der Grundlage der Analyse von Edward Feser deutlich zu machen versuchen, dass auch die sogenannte „Begriffsanalyse“ der rationalistischen Strömung der analytischen Philosophie keine Alternative darstellt.



Was ist Szientismus?



Unter Szientismus verstehe ich hier und im Folgenden die Auffassung, dass allein die empirischen Wissenschaften und insbesondere die Naturwissenschaften bzw. deren Methoden uns eine objektive Erkenntnis der Wirklichkeit geben und grundsätzlich alle sinnvollen Fragen beantworten können. Philosophie und insbesondere Metaphysik sind dabei gewissenmaßen ‚Mägde‘ der empirischen Wissenschaften. Sie stehen in einer Dienstfunktion für die empirischen Wissenschaften, indem sie z.B. deren Methoden analysieren. Was darüber hinaus geht, insbesondere Fragen der Metaphysik, wird als „sinnlos“ beurteilt. Dies bedeutet für die Wahrheitsfrage, dass allein wissenschaftliche Aussagen einen Anspruch auf Wahrheit erheben dürfen, also Aussagen, die sich empirisch falsifizieren lassen. Bekannte radikale Vertreter des Szientismus in der Gegenwartsphilosophie sind z.B. Alex Rosenberg (2011) Daniel Dennett (1995) und die Eheleute Churchland (32013). Außer bei Philosophen findet sich eine szientistische Weltanschauung nicht selten auch bei Naturwissenschaftlern, die die Grenze zwischen empirischer Wissenschaft und Philosophie nicht beachten. Am bekanntesten und auch repräsentativsten dürfte hier der schon erwähnte Stephen Hawkins sein. In seinem Lebenslauf schrieb er „Es gibt keine Singularität und kein einziges Ereignis, das als Schöpfung identifiziert werden könnte.“ (vgl. DIE ZEIT Nr. 13/2018). Wie viele Szientisten führt auch Hawkins die Entstehung und den Bestand des Universums auf die Naturgesetze zurück, allerdings ohne die Frage zu beantworten, was denn ein Naturgesetz ist. Naturgesetze werden so gewissermaßen als Gottesersatz behandelt oder als freischwebende platonische Entitäten, die selbst wirksam sind. Doch kein Naturgesetz bewirkt irgendetwas. Naturgesetze sind mathematisch formulierte Abkürzungen und Beschreibungen von etwas, das in der Realität geschieht. Naturgesetze sind Gesetze der Naturen, der Wesenheiten der Dinge (D. Oderberg 2007). Gesetze sind Abstraktionen von Regularitäten, die sich aus der Natur der Entitäten ergeben und keine freischwebenden platonischen Ideen. Und selbst dann, wenn sie Letzteres wären, könnten sie keinerlei Wirkungen in der Realität hervorbringen. Daher sind Sätze wie: „Da es ein Gesetz wie das der Gravitation gibt, kann und wird sich das Universum (…) aus dem Nichts erzeugen“ (S. Hawkins 2010, 177) grober Unfug. Wenn es ein Gesetz gibt, dann gibt es bereits Etwas und nicht Nichts. Gesetze sind aber Gesetze von Etwas. Ohne dass Etwas existiert, gibt es auch keine Gesetze.



Neben diesen radikalen Vertretern des Szientismus, die auch unter Gegenwartsphilosophen als umstritten gelten, ist ein Großteil der heutigen analytischen Philosophen von einer szientistischen Weltanschauung beeinflusst, wenn auch nicht bestritten werden soll, dass sich in den vergangenen Jahrzehnten eine Entwicklung angebahnt hat, die sich von dieser Weltanschauung entfernt. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte der sehr einflussreiche Philosoph Thomas Nagel (2012) sein, der mit seinem letzten Buch Geist und Kosmos. Warum die materialistische, neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, nicht nur in den USA für großes Aufsehen sorgte. Der Szientismus ist eine Variante des Naturalismus bzw. des Materialismus, wobei die Unterschiede für unseren Zusammenhang von untergeordneter Bedeutung sind. Naturalisten anerkennen im Allgemeinen eine Eigenständigkeit der Philosophie für bestimmte Fragestellungen. So versteht sich z.B. Thomas Nagel auch weiterhin als Naturalist, sieht aber auch die Notwendigkeit, teleologische Aspekte im Sinne des Aristoteles in die Philosophie zu integrieren, was für eine streng szientistische Philosophie undenkbar ist.



Der Szientismus ist mit vier grundsätzlichen Problemen konfrontiert, die ich im Weiteren diskutieren möchte. Zunächst (1) zerstört sich der Szientismus selbst und er kann diese Selbstzerstörung nur dadurch aus dem Weg gehen, dass er trivial und philosophisch uninteressant wird. (2) Es lässt sich zeigen, dass die naturwissenschaftliche Methode prinzipiell nicht in der Lage ist, eine vollständige Beschreibung der Natur zu geben. (3) Damit hängt zusammen, dass die sogenannten Naturgesetze, mit deren Hilfe der Szientismus und die Naturwissenschaften Phänomene erklären, prinzipiell nicht in der Lage sind, eine vollständige Erklärung dieser Phänomene und der Natur zu geben. Und viertens ist das Hauptargument für den Szientismus, nämlich das bereits erwähnte Argument, dass auf den großen Erfolg der Naturwissenschaft bei der Vorhersage von Ereignissen und den technologischen Fortschritt verweist, kraftlos. (Edward Feser 2014, 10).



Probleme des Szientismus



Ein zentrales Problem des Szientismus, mit dem teilweise bereits die Logischen Empiristen sich konfrontiert sah, ist seine eigene Selbstwiderlegung. Der Szientismus behauptet nämlich, dass die wissenschaftliche Methode die einzige zuverlässige Methode ist, um zu sicheren wahren Erkenntnissen zu gelangen (z.B. A. Rosenberg 2011, 6). Allein diese Behauptung lässt sich selbst nicht mit Hilfe der wissenschaftlichen Methode, d.h. empirisch beweisen, ja es lässt sich mit dieser Methode nicht einmal beweisen, dass diese Methode überhaupt eine rationale Form der Forschung ist (E. Feser 2014, 10). Die wissenschaftliche Methode beruht nämlich auf einer Reihe von philosophischen Annahmen, wie der Annahme, dass es eine objektive, von uns unabhängige Wirklichkeit gibt oder dass die Welt von Regularitäten beherrscht wird, die sich in bestimmten Gesetzen ausdrücken lassen. Auch dass der menschliche Verstand durch seinen Wahrnehmungsapparat in der Lage ist, die Welt um uns herum zu erfassen und zu beschreiben gehört zu den philosophischen Annahmen, die üblicherweise von den Naturwissenschaften vorausgesetzt werden. Da die Wissenschaften und die wissenschaftliche Methode diese Dinge voraussetzen, können sie dies alles nicht rechtfertigen, ohne in eine zirkuläre Argumentation zu geraten. Um diese zirkuläre Argumentation zu verlassen, müsste die Wissenschaft gewissenmaßen aus sich selbst, bzw. aus ihrer Methode heraustreten und von diesem außerwissenschaftlichen Standpunkt aus beweisen, dass sie ein richtiges Bild der Wirklichkeit zu geben in der Lage ist. Doch dieser außerwissenschaftliche Standpunkt ist der Standpunkt der Philosophie. Ein solcher außerwissenschaftlicher Standpunkt würde zugleich die Behauptung des Szientismus falsifizieren, dass die Wissenschaft allein in der Lage ist, uns eine rationale und zuverlässige Beschreibung der Welt zu geben.



Die Philosophie untersucht nicht nur die philosophischen Voraussetzungen der Naturwissenschaften (und anderer Wissenschaften), sondern sie stellt auch die Frage, wie die Ergebnisse der Wissenschaften zu interpretieren sind. Dazu gehören Fragen wie die, ob die Welt im Wesentlichen aus Substanzen oder aus Ereignissen besteht oder was Kausalität ist. Wissenschaftliche Gesetze setzen Universalien voraus, was die Frage aufwirft, was Universalien sind, ob diese auch außerhalb der Einzeldinge vorkommen oder nur in den Dingen. Selbstverständlich können wissenschaftliche Entdeckungen metaphysische Fragen erhellen, aber sie können keine metaphysischen Fragen beantworten. Wenn aber die Wissenschaften von der Philosophie abhängig sind, sowohl hinsichtlich ihrer Rechtfertigung als auch bezüglich der Interpretation wissenschaftlicher Ergebnisse, dann ist damit die zentrale Behauptung des Szientismus widerlegt, dass die wissenschaftliche Methode allein in der Lage ist, eine zuverlässige und wahre Erkenntnis der Welt zu geben.



Nun könnte der Szientist auf die Idee kommen, dieses Problem dadurch zu lösen, dass er die Philosophie in die wissenschaftliche Methode miteinbezieht und behauptet, die Philosophie sei ein Teil der Wissenschaften. Doch in diesem Fall wird der Szientismus vollkommen trivial (E. Feser 2014, 11). Der Begriff der Wissenschaft würde dann jede rationale Untersuchung einschließen und selbst das, was dem Szientismus widerspricht, wie z.B. die Existenz Gottes, die mit Hilfe der Philosophie aus der Untersuchung der Natur bewiesen werden kann, wie bei Aristoteles.



Die Wissenschaften sind prinzipiell nicht in der Lage, eine vollständige Beschreibung der Welt zu geben



Bei dem auch bei nicht philosophisch gebildeten Menschen weit verbreiteten Szientismus, wonach uns die Wissenschaften zumindest prinzipiell eine letzte Erklärung der Wirklichkeit liefert und damit letzte wahre Erkenntnisse, wird oftmals nicht erkannt oder vergessen, worin die wissenschaftliche Methode besteht. Die Methoden der Wissenschaften selbst sind es, die eine vollständige Beschreibung der Realität unmöglich machen. Insbesondere die Physik, die als Modell der wissenschaftlichen Methode gilt, aber auch andere Naturwissenschaften, bestehen auf einer rein quantitativen Beschreibung der Welt in der Sprache der Mathematik, in der das „Buch der Natur“ geschrieben ist, wie bereits Galileo sagte. Mit Hilfe dieser Methode kann die Physik, mehr als andere Wissenschaften, quantitative Phänomene der Natur exakt vorhersagen und kontrollierbar machen. Und genau darin besteht der große technologische Erfolg der Physik. Alles, was nicht dieser methodischen Voraussetzung unterworfen werden kann, und dazu gehören alle qualitativen Aspekte der Natur, wird unberücksichtigt gelassen. Gegen dieses methodische Vorgehen ist grundsätzlich nichts einzuwenden, da jede Wissenschaft ihr Forschungsgebiet und ihre Methoden selbst bestimmt. Dies wird erst zum Problem, wenn dann umgekehrt behauptet wird, es gäbe zumindest prinzipiell nichts anderes in der Natur zu entdecken, als das, was die Naturwissenschaft mit Hilfe ihrer quantitativen Methode entdecken kann. Edward Feser hat dieses Vorgehen an verschiedenen Stellen mit einer Analogie beschrieben, wonach eine Person, die mit einem Metalldetektor ein bestimmtes Gebiet absucht und dort verschiedene metallische Gegenstände entdeckt, daraus schließt, dass es in diesem Gebiet nichts anderes zu entdecken gibt, als metallische Gegenstände.



Unsere natürliche Erfahrung ist im Unterschied zur Naturwissenschaft durch und durch qualitativ. Was wir wahrnehmen sind Farben, Formen, Gerüche, Geschmack, Wärme und Kälte, Ziele und Zwecke. Die Inhalte unserer Gedanken sind ebenso qualitativ bestimmt, wie unsere Entscheidungen. All diese Inhalte haben Bedeutungen und Sinn. Die Physik abstrahiert von all diesen qualitativen Bestimmungen und betrachtet ausschließlich das, was quantitativ erfasst und dadurch möglichst in mathematischen Formeln ausgedrückt werden kann. Natürlich sind all diese physikalisch-naturwissenschaftlichen Erkenntnisse im Allgemeinen wahr, aber sie sind nicht alles, was man Wahres über die physische Welt wissen und sagen kann. Durch die quantitative Methode wird genau das erfasst, was an der Natur kontrollierbar ist und was deshalb präzise Vorhersagen über künftige physikalische Ereignisse ermöglicht und genau dies ist für eine technologische Anwendung erforderlich. Ob die technologische Naturbeherrschung der eigentliche Ursprung der modernen Naturwissenschaften ist, wie Martin Heidegger meinte, sei dahingestellt. Jedenfalls beruht der Erfolg der modernen Naturwissenschaften auf dieser quantitativen Methode, die mit einer Abstraktion von allen, für unser Leben zentralen und bestimmenden qualitativen Aspekten, verbunden ist. Weil uns die Naturwissenschaften nichts über diese qualitativen Aspekte der Realität sagt, bedeutet dies nicht, dass es diese Aspekte nicht gibt, oder dass sie bloß etwas Subjektives sind. Auch der Erfolg der Naturwissenschaften für die technologischen Entwicklung zeigt in keiner Weise, dass es keine anderen Bestimmungen der Realität gibt, als die von den Wissenschaften entdeckten quantitativen Merkmale.



Am Anfang der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft steht eine Unterscheidung, durch die alle qualitativen Aspekte der Wirklichkeit in das Subjekt verlegt wurden und nur die quantitativen Bestimmungen als objektiv und real betrachtet wurden. Ich meine die Unterscheidung zwischen primären und sekundären Eigenschaften, eine Unterscheidung, die auch heute mit bestimmten Veränderungen in szientistischen Philosophien beibehalten wird. Demnach sind Farben, Töne, Geschmack, Gerüche usw. nicht in der realen Welt vorhanden, sondern nur im Bewusstsein der Wahrnehmenden. In der realen Welt existieren hingegen nur bestimmte Lichtreflexionseigenschaften, gewisse Schallwellen und das, was uns die Physik über diese Eigenschaften sagt, also das, was an diesen Eigenschaften physikalisch quantifizierbar ist. Wie Thomas Nagel (2013, 55f.) gezeigt hat, macht dies aber die qualitativen Eigenschaften noch problematischer, denn jetzt werden diese Eigenschaften in das menschliche Bewusstsein verlegt und das Bewusstsein kann nicht mit den Methoden der Materie erklärt werden. Wenn nämlich die Materie, einschließlich die Materie des Gehirns, keine qualitativen Merkmale besitzt und das Bewusstsein gerade dadurch charakterisiert wird, dass es qualitative Merkmale erfasst, kann das Bewusstsein nicht materiell erklärt werden. Dies führt zu dem bekannten Dualismus Descartes mit all seinen unlösbaren Problemen. Auch jede weitere Forschung bezüglich der qualitativen Bestimmungen bzw. einer Erklärung des Bewusstseins ist prinzipiell nicht in der Lage, diese qualitativen Bestimmungen anders als durch quantitative Bestimmungen zu reduzieren und sie gerade dadurch ihrer Eigentümlichkeit zu berauben. Es ist gerade die Methode der Wissenschaften, die jede Qualität ausschließt. Wenn daher ein Wissenschaftler irgendeine physische Eigenschaft findet, die in einer bestimmten Weise mit einem qualitativen Merkmal des Bewusstseins korreliert und dann annimmt, dass er damit die Qualität erklärt hat, unterliegt er einer Illusion. Er verwechselt dann die theoretische, quantitative Beschreibung der Materie, die er an Stelle der Qualität gesetzt hat, mit der Qualität selbst (Feser 2014, 17).



Naturgesetze erklären nicht, sondern beschreiben



Naturgesetze sind prinzipiell nicht in der Lage eine vollständige oder auch nur zureichende Erklärung der Welt zu liefern und zwar deshalb nicht, weil ein Naturgesetz nichts erklärt, sondern nur beschreibt. Ein Naturgesetz ist eine abstrakte, bzw. abgekürzte mathematische Beschreibung einer natürlichen Regularität und keine Erklärung. Das Naturgesetz erklärt nicht das in Frage stehende Phänomen. Weiter oben habe ich einen Satz des Physikers Stephen Hawkins zitiert, wonach die Naturgesetze die Entstehung und den Bestand des Universums erklären sollen. Ähnliches hat der amerikanische Physiker Lawrence Krauss in seinem Buch A Universe from Nothing (2012) behauptet. Dabei versucht der Autor zu zeigen, wie die Energie in einem vollkommen leeren Universum zusammen mit den Naturgesetzen das Universum hervorgebracht hat (Feser 2014, 18). Allerdings sind Energie, leerer Raum und Naturgesetze nicht nichts, was Krauss zum Ende des Buches auch selbst bemerkt. Deshalb schlägt er vor, dass allein die Naturgesetze die Aufgabe übernehmen könnten, die Entstehung des Universums aus dem Nichts zu erklären, aber auch Naturgesetze sind nicht Nichts. Wie bereits Hawkins plädiert Krauss deshalb für ein Universum unendlich vieler Ebenen, bzw. ein Blasenuniversum, ein sogenanntes Multiversum, bei dem sich die Erklärung des Anfangs erledigt, weil dieses Multiversum keinen Anfang und kein Ende hat.



Abgesehen davon, dass die Theorie des Multiversums auch in der Physik mehr als umstritten ist, der Verweis auf die Naturgesetze, die dies alles „bewirkt“ haben sollen, erklärt nichts. Es bleibt nämlich die Frage offen, was ein Naturgesetz ist, wie es irgendeine Wirkung haben kann und woher das Naturgesetz kommt. Die Antworten auf diese Fragen werden aber von der Naturwissenschaft vorausgesetzt und können mit ihren Methoden nicht beantwortet werden.



Für die Beantwortung der Frage, was ein Naturgesetz ist, gibt es zahlreiche und unterschiedliche Theorien, die ich hier nicht vorstellen kann. Die aristotelisch-scholastische Antwort lautet, dass ein Naturgesetz, das bestimmte materielle Dinge oder Systeme beherrscht, eine Kurzfassung für die Beschreibung der Art und Weise ist, wie ein Ding oder ein System tätig ist und zwar unter der Voraussetzung seiner Wesenheit. Trifft diese Bestimmung der Naturgesetze zu, dann setzen Naturgesetze die Existenz und Tätigkeit physischer Dinge voraus, die den Gesetzen folgen. Dies bedeutet, dass diese Gesetze nicht die Existenz und Tätigkeit der Dinge erklären können. Naturgesetze sind Gesetze der Naturen, der Wesenheiten. Sie folgen aus der Wesenheit der Dinge, oder um es mit einem scholastischen Prinzip auszudrücken: agere sequitur esse.



Der Erfolg der Wissenschaften als Argument für die Wahrheit der Wissenschaft



Obwohl der Szientismus, wie dargelegt, theoretisch kaum zu verteidigen ist, gibt es zahlreiche intelligente Menschen, die diese Position verteidigen, entweder explizit oder zumindest implizit. Der Grund dafür scheint meines Erachtens der Erfolg der Wissenschaft für die technologische Entwicklung zu sein. Wegen der Fähigkeit der Naturwissenschaften, bestimmte Ereignisse präzise vorherzusagen und auf der Grundlage der naturwissenschaftlichen Entdeckungen Maschinen und Geräte zu entwickeln, die sogar in der Lage sind, unser Sonnensystem zu verlassen, schließen viele Menschen, dass der Szientismus und alles was aus ihm folgt, wahr sein muss (Feser 2014, 21). Um einen bekannten deutschen Vertreter des (biologistischen) Szientismus zu zitieren: „In den Realwissenschaften gibt es […] einen nachweisbaren Erkenntnisfortschritt, der auf objektiven Daten bzw. Fakten und der […] Theorienbildung basiert. Im Gegensatz dazu geben viele ‚Geisteswissenschaftler‘ nur subjektive Spekulationen von sich, denen nicht selten die faktische Grundlage fehlt.“ (Ulrich Kutschera 2011, 241f.).



Das Argument kann wie folgt zusammengefasst werden (ibid.):



1.     Die prädikative Kraft und die technologische Anwendbarkeit der Wissenschaften sind unvergleichbar mit anderen Quellen des Wissens.

2.     Deshalb ist das, was die Wissenschaft entdeckt vermutlich alles, was wirklich ist.



Dass dies ein schlechtes Argument ist, ist offensichtlich, doch es ist genau das Argument, das den größten Erfolg bei der Vereidigung des Szientismus hat und das von Szientisten wie Alex Rosenberg (2011, 23) ins Feld geführt wird. Edward Feser (2014, 22) hat zur Verdeutlichung der Schwäche dieses Arguments ein analoges Argument vorgestellt:



1.     Metalldetektoren haben mit weit größerem Erfolg Geldstücke und andere metallische Gegenstände an mehr Orten entdeckt als alle anderen Methoden.

2.     Deshalb ist das, was Metalldetektoren entdecken (Geldstücke und andere metallische Gegenstände) vermutlich alles, was wirklich ist.



Metalldetektoren wurden dafür entwickelt, metallische Gegenstände zu entdecken, die im Erdreich verborgen sind. So vollkommen sie diese Aufgabe auch erfüllen mögen, daraus folgt nicht, dass es im Erdreich nichts anderes zu entdecken gibt, als metallische Gegenstände. In ähnlicher Weise gilt, dass das, was die Physik oder andere Naturwissenschaften entdecken, nicht alle Aspekte der Wirklichkeit oder auch nur der physischen Wirklichkeit erfasst. Alles was die Naturwissenschaften und insbesondere die Physik erfasst, beruht auf der Quantifizierung und mathematischen Modellierung, die zu präzisen Vorhersagen und zur technologischen Anwendbarkeit der so gewonnenen Erkenntnisse führt. Aber es folgt daraus ebenso wenig, wie aus dem Erfolg der Metalldetektoren folgt, dass es nur metallische Gegenstände gibt, dass es keine anderen Aspekte der Wirklichkeit gibt, als die von den Naturwissenschaften entdeckten Aspekten der natürlichen Welt.



Verteidiger des Szientismus die dagegen einwenden, dass Metalldetektoren nur dazu entwickelt wurden, metallische Gegenstände zu entdecken, die nur ein Teil der Wirklichkeit sind, während die Wissenschaften die gesamte Wirklichkeit erfasst, argumentieren zirkulär, denn genau das ist es, was in Frage steht.



Auch der szientistische Einwand, dass Philosophie und Theologie so gut wie keinerlei Vorhersagen und keinerlei technische Anwendbarkeit ihrer Erkenntnisse vorweisen kann, ist ein non sequitur. Der Einwand ist ähnlich eindrucksvoll wie die Forderung nach einer Liste der Erfolge von Metalldetektoren bei der Gartenarbeit, beim Kochen und Malen, wobei dann aus der Tatsache, dass es keine solche Liste gibt, gefolgert wird, dass Spaten, Spachtel und Pinsel nutzlos sind, weggeworfen werden können und durch Metalldetektoren ersetzt werden sollten (Feser 2014, 23). Aus der Tatsache, dass eine bestimmte Methode besonders nützlich für bestimmte Zwecke ist, folgt nicht, dass sie auch für alle anderen Zwecke angewandt werden sollte.



Begriffsanalyse



Zum Abschluss noch einige Worte zur sogenannten „Begriffsanalyse“, die in der analytischen Philosophie als Alternative zum Szientismus entwickelt wurde. Wenn der Szientismus keine Alternative zur Philosophie darstellt, so wird argumentiert, dann bleibt für die Philosophie nur eine einzige Aufgabe übrig, nämlich die Analyse von Begriffen und was im Weiteren daraus folgt. Bei der Begriffsanalyse geht es darum, unsere vorphilosophischen intuitiven Überzeugungen und Verständnisse von bestimmten philosophischen Problemen, z.B. der Frage, was Wissen ist, bewusst zu machen, sprachlich zu formulieren und kritisch zu untersuchen. Mit Hilfe dieser Methode sollen dann alle wesentlichen Grundbegriffe geklärt und in einem sinnvollen und konsistenten System zusammengestellt werden. „Man geht meist von typischen Fällen aus, auf die ein philosophischer Begriff wie jener der Handlung angewendet wird und achtet darauf, was sie alle gemeinsam haben. Wenn wir einen Begriff auf verschiedene Fälle anwenden, unterstellen wir nämlich, dass sie eine gemeinsame Eigenschaft haben. Mit dem Begriff bzw. mit dem sprachlichen Ausdruck des Begriffs, einem Prädikat, beziehen wir uns auf diese gemeinsame Eigenschaft. Diese Eigenschaft tritt wiederum unter bestimmten Bedingungen auf, sie ist mit anderen Eigenschaften verknüpft. So beruhen etwa alle Fälle von Handlungen auf Überlegungen und Entscheidungen, und sie entspringen dem Willen einer Person.“ (Christoph Schamberger 2017, 36).



Die Voraussetzung, dass es außer der Wissenschaft nur noch die Möglichkeit der Begriffsanalyse gibt, ist im Wesentlichen eine Variante von „David Humes Fork“. Hume schreibt dazu, dass „all the objects of human reason or inquiry may naturally be divided into two kinds, to wit, Relation of Ideas, and Matters of Facts.” (Hume, Enquiry Concerning Human Understanding, Section IV, Part I; zitiert nach E. Feser 2014, 26). Das dieser Satz sich selbst widerlegt ist offensichtlich, denn der Satz Humes ist weder eine begriffliche Wahrheit (was er mit „Relation of Ideas“ sagen will), noch empirisch zu überprüfen (dies ist gemeint mit „Matters of Facts“). Dasselbe gilt aber auch von modernen Philosophen, die der Auffassung sind, dass „alle Gegenstände des menschlichen Verstandes und der Forschung“ entweder eine Angelegenheit der Naturwissenschaft oder der Begriffsanalyse sind. Eine solche Aussage ist zutiefst metaphysisch und lässt sich weder mit der Begriffsanalyse und noch viel weniger mit der Naturwissenschaft beweisen. Zudem gibt es Wahrheiten, die nicht einmal zur Philosophie gehören und gleichwohl keine Wahrheiten der Naturwissenschaften oder der Begriffsanalyse sind, aber von beiden vorausgesetzt werden, nämlich Logik und Mathematik. Die Wahrheiten der Logik und Mathematik haben z.B. eine Notwendigkeit, die sich bei der Naturwissenschaft nicht finden lässt und eine Objektivität, die der Begriffsanalyse mangelt. Es trifft somit nicht zu, dass Naturwissenschaft und Begriffsanalyse alles abdecken, was an Wahrheiten erkannt werden kann.



Schluss



Ich habe mit verschiedenen Argumenten deutlich zu machen versucht, dass der Szientismus falsch ist, dass er keinen Wahrheitsanspruch erheben kann. Zugleich bestreite ich nicht, dass die Wissenschaften zu wahren Erkenntnissen gelangt, allerdings bestreite ich, dass die Erkenntnisse und Wahrheiten der Wissenschaften die einzigen Wahrheiten sind, die es gibt. Die empirischen Wissenschaften können auf Grund ihrer methodischen Begrenzung auf quantifizierbare Inhalte nur einen kleinen Ausschnitt der Wirklichkeit erfassen. Die empirischen Wissenschaften beruhen auf Voraussetzungen, die sie mit ihren eigenen Methoden nicht hinterfragen können, da diese Voraussetzungen die Wissenschaften übersteigen und nur von einem Standpunkt außerhalb der Wissenschaft beantwortet werden können. Dieser „außerwissenschaftliche“ aber nicht unwissenschaftliche Standpunkt ist der Standpunkt der Philosophie. Die Philosophie kann sicherlich nicht die empirischen Wissenschaften ersetzen, aber ebenso wenig können die Wissenschaften die Philosophie ersetzen.







Bibliografie



Churchland, Paul M. (32013): Matter and Consciousness, Cambridge, Massachusetts (MIT Press).

Dennett, Daniel (1995): Darwin’s Dangerous Idea: Evolution and the Meanings of Life, New York (Simon & Schuster) deutsch (1997): Darwins gefährliches Erbe. Die Evolution und der Sinn des Lebens (Hoffmann & Campe).

Feser, Edward (2014):  Scholastic Metaphysics. A Contemporary Introduction, Heusenstamm 2014 (editiones scholasticae).

Hawkins, Stephen; Mlodinow, Leonard (2010): Der große Entwurf, Reinbeck (Rowohlt).

Krauss, Lawrence (2012): A Universe from Nothing, New York (Free Press).

Kutschera, Ulrich (2011): Darwiniana Nova. Verborgene Kunstformen der Natur. Münster, (LIT-Verlag).

Nagel, Thomas (2012): Mind & Cosmos: Why the Materialist Neo-Darwinian Conception of Nature is Almost Certainly False, Oxford (Oxford University Press), deutsch (2013): Geist und Kosmos. Warum die materialistische neodarwinistische Konzeption der Natur so gut wie sicher falsch ist, Berlin (suhrkamp taschenbuch wissenschaft).

Oderberg, David (2007): Real Essentialism, New York, Abingdon (Routledge).

Rosenberg, Alex (2011): The Atheist’s Guide to Reality, New York (W.W. Norton and Company).

Schamberger, Christoph (2017): „Was leistet die Begriffsanalyse?“, Stellungnahmen von Gottfried Gabriel, Joachim Horvath, Christoph Schamberger und Frieder Vogelmann, Information Philosophie Heft 2.






[1] Es sei erwähnt, dass sich neben der empiristischen Strömung in der analytischen Philosophie auch eine rationalistische Strömung entwickelte, die Philosophie auf Sprachanalyse beschränken wollte und sich im Verlauf ihrer weiteren Entwicklung mehr und mehr für ontologische Fragestellungen und dem klassischen Rationalismus öffnete.

Der Beitrag stammt von Dr. Rafael Hüntelmann und wurde zuerst 2019 veröffentlicht in: DIVINITAS. Rivista Internazionale di Ricerca e di Critica Teologica, Anno LIX, Numero unico 2016.

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