Die Frage, was materielle Gegenstände individuiert, bzw.
wodurch diese individuiert werden, gehört zu den immer wieder diskutierten
philosophischen Fragen. Einzig für Nominalisten stellt diese Frage kein Problem
dar, denn für sie existieren ausschließlich individuelle Entitäten, so dass die
Individualität einer Entität keiner weiteren Erklärung bedarf, da sie einfach
ist. Für die aristotelisch-thomistische Tradition wie auch für jede andere
philosophische Theorie, die die Existenz von Universalien annimmt, stellt die
Frage der Individuation hingegen eine Herausforderung dar, die nicht leicht zu beantworten
ist. In folgenden Beitrag werde ich die Theorie der Individuation in der
aristotelisch-thomistischen Philosophie darstellen und diese Theorie mit
einigen anderen philosophischen Theorien konfrontieren.
Das Problem
Der Hylemorphismus der aristotelischen Philosophie
analysiert eine materielle Substanz durch die Erklärung einer Zusammensetzung
dieser Substanz durch Materie und Form. Dabei ist die Form etwas, dass allen
Substanzen einer bestimmten Art zukommt. Die Form ist somit etwas Allgemeines,
ein Universale. Die substanzielle Form des Menschen kommt allen Menschen zu,
seien es Frauen oder Männer, Afrikaner, Asiaten oder Amerikaner. Es ist immer
ein und dieselbe substanzielle Form, die allen diesen Menschen zukommt. Gleichwohl
gibt es nicht „den Menschen“. Es gibt nur Franz, Susanne, Abedi, Chiaki oder
Sokrates, es gibt nur individuelle Menschen, Männer und Frauen
unterschiedlicher Herkunft und Hauptfarbe und mit verschiedenen Eigenschaften
und Charakterzügen. Was individuiert aber die Form des Menschseins, die allen
Menschen zukommt?
Die aristotelische Antwort auf diese Frage lautet: die Materie.
Was in der aristotelisch-thomistischen Philosophie mit „Materie“ gemeint ist,
unterscheidet sich deutlich von dem, was dieses Wort im Alltag, aber auch in
der neuzeitlichen Philosophie bedeutet. „Materie“ im Allgemeinverständnis
bedeutet so viel wie „materieller Gegenstand“, also vor allem Steine, Holz,
Erde, Wasser oder Berge und Seen. Ähnliches gilt auch für das
Materieverständnis der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft, wobei
Letztere sich stärker auf die atomare Struktur der materiellen Dinge
konzentriert. Bei dieser „Materie“ handelt es sich um materielle Körper und
diese sind nach der aristotelischen Philosophie bereits geformt, d.h. ihnen
kommt bereits eine substanzielle Form zu.
Die Materie, insbesondere in der thomistischen Philosophie, ist
hingegen vollkommen „ungeformte“ Materie. Dies bedeutet, die Materie hat
überhaupt keinerlei Bestimmung, sie ist weder groß noch klein noch überhaupt
ausgedehnt, sie ist nicht farbig und hat auch keine andere Bestimmung. Das
Einzige was man von dieser Materie sagen kann ist, dass sie jede Bestimmung
annehmen kann. Sie kann also groß werden, aber auch klein. Sie kann rot
oder braun werden, die kann ein Huhn, ein Ochse oder ein Berg werden. Sie kann
also praktisch alles werden, und zwar gerade deshalb, weil sie selbst keinerlei
Bestimmung hat, die das einschränken könnte, was sie werden kann. Diese Materie
ist reine Möglichkeit, reine Potenzialität. Aus Holz kann nur etwas Bestimmtes
werden, eben das, was aus Holz besteht und was man aus Holz machen kann. Das
Gleiche gilt für alle materiellen Dinge im Sinne des zuvor bezeichneten
Alltagsverständnisses. Aus der Materie im Sinne der aristotelisch-thomistischen
Philosophie kann aber alles werden, da sie reine Potenz, reine Möglichkeit ist.
Man kann diese Materie auch nicht besichtigen, messen, berechnen oder sonst in
irgendeiner Weise empirisch nachweisen, denn sie ist kein empirischer
Gegenstand.
Das bedeutet aber, dass die rein potenzielle Materie, die materia
prima, wie sie in der Fachterminologie bezeichnet wird, etwas Allgemeines
ist. Diese Materie ist also ebenso allgemein wie die Form. Wenn jeder individuelle
materielle Gegenstand – die unbelebte und die belebte Natur, Pflanzen, Tiere
und Menschen – aus Form und Materie zusammengesetzt ist, dann ergibt sich die
Frage, wie aus zwei Allgemeinheiten etwas Individuelles werden kann. Wenn man
eine allgemeine substanzielle Form wie das Menschsein und eine allgemeine,
völlig bestimmungslose Materie miteinander verbindet, entsteht kein Theo und keine
Thea. Die Materie in diesem Sinne kann also kein Individuator sein. Was also
individuiert eine materielle Substanz, wenn weder die substanzielle Form noch
die materia prima als solche ein Individuationsprinzip darstellen?
Individuation
Bei der zuvor gegebenen Problemstellung könnte man den Eindruck
gewinnen, es gäbe zunächst die substanzielle Form und eine materia prima,
die dann miteinander verbunden werden. Dies ist natürlich nicht der Fall. Das
einzige was es gibt, was im eigentlichen Sinne existiert, ist die Substanz, die
eben aus Materie und Form zusammengesetzt ist. Unter Thomisten gibt es seit
sehr langer Zeit eine Kontroverse über die Frage, was nun das
Individuationsprinzip ist (vgl. Renard 1946, 218f.; Phillips 1950, Chapter XII;
Koren 1960, 150-155; Oderberg 2002 und 2007, 108-117, Wippel 2000, 351-375) und
selbst Thomas von Aquin, der sich im Verlauf seines Lebens immer wieder mit
dieser Frage beschäftigt hat, hat seine Auffassung modifiziert (vgl. G. Kerr
2019, Fußnote S.133). David Oderberg (2007, 108-117), einer der renommiertesten
Thomisten der Gegenwart, vertritt eine mittlere Position zwischen den
verschiedenen konkurrierenden Auffassungen zum Individuationsprinzip. Es geht
davon aus, dass es nicht ein einziges Prinzip der Individuation gibt, sondern
dass man stattdessen drei verschiedene Elemente zusammennehmen sollte. Wie Suarez
(Gracia 1994, 475-510) geht Oderberg davon aus, dass jede materielle Substanz
durch sich selbst ein Prinzip der Individuation ist. Demnach ist die Einheit
von prima materia und substanzieller Form das, was die individuelle
Substanz konstituiert. Dies bedeutet, dass die Individualität notwendig aus dem
substanziellen Sein einer Entität folgt. Nach meiner Auffassung kann Suarez
dies nur behaupten, weil er eine von Thomas verschiedene Theorie der prima
materia vertritt.
Da die Form eine höhere Bedeutung für die Identität einer
vollständigen zusammengesetzten Substanz hat als die Materie, denn sie
vervollkommnet und bestimmt die Substanz, ist es die Form, die die völlig
indifferente und unbestimmte Materie bestimmt und vereinzelt. Erst an dritter
Stelle nennt Oderberg dann das Individuationsprinzip Thomas von Aquins als
eines hauptsächlichen und intrinsischen Prinzips, nämlich die quantitativ bezeichnete
Materie (materia signata quantitativa). Oderberg fasst seine Auffassung kurz
folgendermaßen zusammen:
„The three claims are, then, to be reconciled in
this way: it is the initial or logically prior influence of common form on
otherwise indifferent matter which gives matter the character by which it
individuates the substance which, as a whole composite, is constituted as an
individual entity. So when we say that the substance is the principle of its
individuation by its own entity, we pay regard to the fact that every material
substance, being a this-such, is therefore individual; but we do not exclude
the further fact that every material substance has a component, namely its
matter, by virtue of which it is a this-such. Individuals can self-individuate
without that self-individuation being primitive or incapable of further
analysis, just as a pianist can by definition play the piano without their
pianism being incapable of further analysis.”
Aus dieser Zusammenfassung wird deutlich, dass für Oderberg
die Selbstindividuierung einer Substanz im Sinne von Suarez die entscheidende
Interpretation der Individualität der materiellen Substanzen darstellt und die
beiden anderen Punkte nur eine Analyse oder Erklärung für die Selbstindividuierung
geben.
Ich möchte Oderberg in dieser Frage wiedersprechen und dafür
argumentieren, dass die klassische Auffassung der Thomisten (gegenwärtig z.B.
verteidigt von Edward Feser 2014, 198-201) durchaus zutreffend ist. Nach dieser
Auffassung hat jeder materielle Körper eine Ausdehnung, bzw. Dimensionen. Daher
muss die prima materia, wenn sie eine Form annimmt, ipso facto bestimmte
Dimensionen annehmen. Gaven Kerr (2019, 133) spricht von einer „dimensive
quantity“. Nun ist aber jede Größe, bzw. Ausdehnung individuierend, denn diese
bestimmte räumliche Dimension, und jene räumliche Dimension ist wesentlich
verschieden von jeder anderen räumlichen Dimension. Nimmt man noch zusätzlich
zeitliche Dimensionen hinzu (wie dies z.B. D. Oderberg tut), dann haben wir
einzelne individuelle räumliche und zeitliche Ausdehnungen, die die
Verschiedenheit zwischen individuellen materiellen Substanzen begründen. Dies
bedeutet, dass die prima materia als etwas, dass Ausdehnung erfordert,
um eine Form anzunehmen (materia prima als hier und jetzt
gekennzeichnete), dasjenige ist, was eine Substanz von der anderen
unterscheidet.
Wichtig ist zu betonen, dass es hier kein Nacheinander gibt,
so als ob es zunächst eine völlig unbestimmte Materie gäbe, die dann durch die
Form ein wenig quantitativ bestimmt wird, so dass dadurch die Form ihrerseits
individuiert wird und jetzt die Materie bestimmen kann. Es geht um das Ganze
aus Materie und Form, denn diese Ganzheit ist das Primäre. „The composite of matter and form is what
exists and so is subject to esse, in which case the thing’s matter and
form are cocreated simultaneously with the thing, so that all at once gives
dimensionality to matter whereas matter (in being so dimensive) makes form
individual.” (G. Kerr 2019, 136). Auch ist dies nicht ein Vorgang, der irgendwann
einmal am Anfang der Existenz einer Substanz geschieht und die dann in diesem
Zustand verharrt. Vielmehr ist die Individuierung in der beschriebenen Art ein
Vorgang, der fortdauert, so lange die Substanz existiert. Man kann von einer
kausalen Interaktion zwischen Materie und Form sprechen, die simultan besteht,
so dass während der gesamten Existenz einer aus Materie und Form
zusammengesetzten Substanz, die Form die Dimensionalität der Materie mitteilt
und diese ihrerseits die Universalität der Form begrenzt.
Einwände
Der Einwand, dass dies bedeuten würde, dass die Materie,
bevor sie von einer Form bestimmt wird, bereits tatsächlich, aktual, bestimmte
Dimensionen haben muss und deshalb nicht materia prima ist, die per
definitionem, vollkommen unbestimmt ist, ist daher unangemessen. Er beruht
darauf, dass hier causa formalis und causa efficiens
miteinander verwechselt werden (Renard 1946, 219f.). Die materia prima
und die substanzielle Form sind nicht in der Weise miteinander verbunden, wie
ein materieller Gegenstand (Holz, Eisen, Lehm, Wasser) und die Gestalt, die
dieser Gegenstand hat, bevor er z.B. von einem Handwerker weiterverarbeitet
wird, denn der materielle Gegenstand hat bereits eine substanzielle Form.
Materialursache und Formalursache einer materiellen Substanz, bzw. prima
materia und substanzielle Form sind immer nur zusammen tätig. Die prima
materia – auch die vorbezeichnete materia prima – existiert nur
insofern, als sie durch die substanzielle Form informiert wird. Es gibt
also nicht schon die Materie, bevor sie von der Form bestimmt wird. Da die materia
prima keinerlei Bestimmung hat, kann sie nicht irgendwo „herumliegen“,
bevor sie von der Form informiert wird. Materia prima ist eine
Abstraktion, eine logische Entität und nicht real. Ihre erste Bestimmung
geschieht mit der Form zur dimensional bezeichneten Materie, wodurch die
Materie dann bereits ihre erste Bestimmung erhält und nun die Form individuiert.
Der leider viel zu früh verstorbene englische
Neoaristoteliker Jonathan Lowe hat gegen diese klassisch-thomistische Analyse
eingewandt, dass eine raumzeitliche Lokalisierung ausreichen würde, um
materielle Substanzen zu individuieren und dass die materia prima im
Sinne Thomas von Aquins nichts Zusätzliches leistet (E.J. Lowe 1999, 201f.).
Dies trifft aber nicht zu, denn die Materie trägt wesentlich zu Individuierung
bei, insofern sie die Potenz ist, die die Form aufnimmt und die Materie muss ja
die Form aufnehmen, bevor sie raumzeitlich lokalisiert ist.
Wie schon weiter oben erwähnt, folgen Duns Scotus und Francisco
Suárez der thomistischen Analyse der Individuation nicht. Dies hängt mit dem
metaphysischen Hintergrund der beiden Philosophen zusammen. Sie teilen nicht
die Auffassung Thomas von Aquins wonach der Akt durch die Potenz begrenzt wird,
und da die Materie nach Thomas das Prinzip der Potenzialität repräsentiert,
kann diese auch nicht das Prinzip der Individuation sein, wodurch die
substanzielle Form begrenzt wird. Scotus führt einen eigenständigen
Individuator ein, der ein Ding einer bestimmten Art von einem anderen Ding
derselben Art individuiert. Dieser Individuator wird bekanntlich haecceitas
genannt, was man vielleicht mit Diesheit übersetzen könnte. Platon und Sokrates
haben die gleiche menschliche Natur, aber die haecceitas unterscheidet
sie beide voneinander als zwei verschiedene Menschen mit der gleichen
menschlichen Natur. Wie schon zuvor erwähnt hat Suárez eine auch davon
unterschiedene Theorie der Individuation, die bereits deutliche nominalistische
Züge zeigt. Für Suarez ist es nicht irgendein Teil bzw. ein Prinzip der
Substanz, das diese individuiert, sondern das Seiende als solches, bzw. die
Substanz ist durch sich selbst individuell. Dies bedeutet, dass jede Substanz
ihr eigenes Individuationsprinzip ist (Feser 2014, 201). Während diese
Auffassung zum Nominalismus neigt, tendiert die Theorie der Individuation, die
von Duns Scotus verteidigt wird, zum extremen Realismus platonischer Prägung.
Beide Auffassungen haben in der Gegenwartsphilosophie Anhänger gefunden, auch
wenn in den allermeisten Fällen die Herkunft der modernen Theorien der
Individuation nicht genannt wird.
Zum Schluss sollte ich noch erwähnen, dass immaterielle
Substanzen nach Thomas von Aquin keines zusätzliche Individuationsprinzips
bedürfen. Jede immaterielle Substanz ist identisch mit einer bestimmten Art und
deshalb gibt es im Bereich des Immateriellen – nach Thomas sind damit
insbesondere die Engel gemeint – nur jeweils ein Exemplar einer Art, bzw. jeder
Engel ist identisch mit seiner Art.
Bibliografie
Feser, Edward (2014): Scholastic
Metaphysics. A Contemporary Introduction, Heusenstamm (editiones
scholasticae).
Gracia, J.J.E. (Ed.) (1994): Individuation
in Scholasticism, the Later Middle Ages, and the Counter Reformation,
1150-1650, Albany NY (State University of New York Press).
Kerr, Gaven (2019): Aquinas and
the Metaphysics of Creation, New York (Oxford University Press).
Koren, Henry J. (1960): An
Introduction to the Science of Metaphysics, St. Louis (B. Herder).
Lowe, E. Jonathan (1999): The
Possibility of Metraphysics: Substance, Identity, and Time, Oxford
(Clarendon Press).
Oderberg, David S. (2002):
“Hylomorphism and Individuation”, in: Haldane, John (2002): Mind,
Metaphysics, and Value in the Thomistic and Analytical Tradition, Notre
Dame (University of Notre Dame Press).
Oderberg, David S. (2007): Real
Essentialism, New York & London (Routledge).
Phillips, R.P. (1950): Modern
Thomistic Philosophy, Vol. 1: The Philosophy of Nature, Westminster, MD
(The Newman Press), Neuauflage der 2. Aufl. 1962, editiones scholasticae.
Renard, H. (1946): The Philosophy
of Being, Milwaukee (Bruce Publishing Company).
Wippel, John F. (2000): The Metaphysical
Thought of Thomas Aquinas, Washington D.C. (Catholic of America Press).
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