Freitag, 28. Februar 2020

Gibt es ein „Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben“?


Aus Anlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten „aktiven Sterbehilfe“, die auch eine gewerbsmäßige Ausübung der Euthanasie einschließt, veröffentliche ich in diesem Blog mit Genehmigung des Verlags editiones scholasticae das Kapitel „Euthanasie“ aus dem Buch von Rafael Hüntelmann, Natürliche Ethik, zum Thema der sogenannten „aktiven Sterbehilfe“.





Euthanasie



Der unbedingte Schutz unschuldigen menschlichen Lebens ist das Zentrum der Ethik. Eine Ethik, die dieses Prinzip einschränkt oder ersetzt oder sogar streicht, kann nicht als human bezeichnet werden (D. Oderberg 2005a, 48). Dies hat auch Folgen für die Frage der Euthanasie, die heute in verschiedenen Ländern bereits praktiziert wird und in vielen anderen Ländern, darunter auch in Deutschland, diskutiert wird. Man unterscheidet heute verschiedene Arten der Euthanasie, die zumeist unter dem Begriff der „Sterbehilfe“ zusammengefasst werden. Der Begriff ist missverständlich und vieldeutig. Die Verwendung des Begriffs „Sterbehilfe“ ist in Deutschland üblich, v. a. weil der Begriff „Euthanasie“ mit dem Massenmord der Nationalsozialisten an körperlich, seelisch und geistig behinderten Kindern und Erwachsenen verbunden wird und von daher deutlich negative Assoziationen weckt, die man gerne vermeiden möchten. Ich werde die Begriffe „Sterbehilfe“ und „Euthanasie“ im Folgenden synonym verwenden.



Bei der Sterbehilfe unterscheidet man meist verschiedene Varianten. Die wichtigste Unterscheidung ist die zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe. Bei der aktiven Sterbehilfe wird unterschieden zwischen der Tötung auf Verlangen und der Euthanasie ohne Willensäußerung des Betroffenen. In diesen Fällen wird der Tod des Betroffenen durch andere Personen aktiv und gezielt angestrebt. Bei der passiven Sterbehilfe werden Maßnahmen eingestellt, die das Leben des Betroffenen, der sich im Prozess des Sterbens befindet, verlängern könnten. Für die sogenannte passive Sterbehilfe gilt das, was ich in Bezug auf die Unterlassungen gesagt habe: Von zentraler Bedeutung für die moralische Beurteilung der passiven Sterbehilfe ist die Frage, ob es eine Verpflichtung zum Handeln gibt. Wo es eine Handlungspflicht, z. B. eines Arztes, gibt, das Leben des Patienten zu schützen, unterscheidet sich eine Unterlassung in der moralischen Beurteilung nicht grundsätzlich von einer aktiven Tötung.



Beginnen wir mit der aktiven Sterbehilfe, und zwar auf Grund einer ausdrücklichen Willensäußerung des Patienten bzw. einer Person. Alle Argumente, die in der Debatte über die aktive Euthanasie für die Zulässigkeit dieser Art der Sterbehilfe angeführt werden, beruhen auf der Annahme der Autonomie der menschlichen Person (vgl. z. B. M. Quante, D. P. Schweikard, in: J.S. Ach, K. Bayertz, L. Siep 2011, 43ff.). Wie man auch immer die Autonomie bzw. die Selbstbestimmung der Person bestimmt, man geht davon aus, dass die bewusste Person die letzte Verfügungsgewalt über ihr Leben besitzt. „Der aus unserer Sicht entscheidende Nachteil der Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens besteht darin, dass sie mit der biographischen Verfasstheit der Identität von Personen nicht vereinbar ist, wenn diese Personen ihr eigenes Leben weder als eine ihnen von Gott gestellte Aufgabe noch als absoluten Wert betrachten. Eine liberalistische Position, welche Personen das Recht auf die eigene Bewertung der eigenen Existenz zuerkennt und die Qualität des Lebens von autonomen Personen entscheidend von dieser Selbstbewertung abhängen lässt, entspricht der pluralen und pluralistischen Verfasstheit unserer Kultur wesentlich besser“ (ibid., 43f.). Abgesehen davon, dass eine moralische Position zu Leben und Tod nicht von bestimmten Kulturen abhängig sein kann, sondern entweder wahr oder falsch ist, setzt dieses Argument, wie auch nahezu alle anderen Argumente für die aktive Sterbehilfe auf Grund der Selbstbestimmung der menschlichen Person, voraus, dass das menschliche Leben zu den veräußerlichen Rechten gehört. Doch genau das ist falsch, auch dann, wenn man den Begriff der „Heiligkeit des Lebens“ vermeiden möchte (Bittle 1950, 371). Das grundlegende Argument für ein Recht auf aktive Sterbehilfe lässt sich folgendermaßen ausdrücken:



Alle Rechte sind veräußerlich.

Es gibt ein Recht auf Leben.

Deshalb ist das Recht auf Leben veräußerlich.



Daraus folgt dann, dass eine Person mit einem gesunden Verstand, die rational denken kann und ihre Situation angemessen zu beurteilen vermag, das Recht auf die freie Bestimmung ihres eigenen Todeszeitpunkts hat (D. Oderberg 2005a, 55). Obwohl das Argument in einem logischen Sinne gültig ist, ist die erste Prämisse falsch. Vertreter eines Rechts auf aktive Sterbehilfe vergleichen das Recht auf Leben gelegentlich mit dem Recht auf Eigentum: Wenn Eigentumsrechte veräußerlich sind, warum sollte dann das eigene Leben nicht veräußerlich sein? Dabei wird vorausgesetzt oder auch ausdrücklich behauptet, dass das Recht auf Leben eine Art von Eigentumsrecht sei. Dies ist auch erkennbar im zuvor angeführten Zitat von Quante und Schweikard. Wir sind Eigentümer unseres Körpers, das Leben ist uns als Aufgabe übergeben worden und so besitzen wir das Leben im Prinzip so, wie wir unser Haus besitzen. Theistische Philosophen widersprechen dieser Auffassung durch den Hinweis, dass wir unser Leben von Gott geliehen bekommen haben, um dafür zu sorgen, und dass wir es ihm am Ende des Lebens, das Gott allein bestimmt, wieder zurückgeben. Doch auch unabhängig von einer theistischen Argumentation lässt sich zeigen, dass das Recht auf Leben kein Eigentumsrecht ist und dass es zugleich Hinweise darauf gibt, dass auch das Recht auf Eigentum unveräußerlich ist (D. Oderberg 2005a, 56f.).



Das Kennzeichen von Eigentum ist, dass es veräußert werden kann. Es kann verschenkt, verliehen oder verkauft werden. Dies bedeutet, dass Sie Ihr Recht auf dieses oder jenes Eigentum veräußern können. Was Sie aber nicht veräußern können, ist Ihr Recht auf Eigentum überhaupt, d. h. unabhängig von irgendeinem bestimmten Eigentum. Die Veräußerung dieses oder jenes bestimmten Rechts an Eigentum beinhaltet nicht die Veräußerung des Rechts auf Eigentum im Allgemeinen. Die Veräußerung des Rechts auf Ihr Leben beinhaltet allerdings die Veräußerung Ihres Rechts auf Leben im Allgemeinen, denn Sie haben nur ein Leben. Daher ist das Recht auf Eigentum an diesem oder jenem bestimmten Eigentum nicht vergleichbar mit dem Recht auf Ihr bestimmtes Leben. Wenn man beide Rechte in Analogie zueinander setzt, dann ist das Recht auf Eigentum überhaupt und im Allgemeinen ebenso unveräußerlich wie das Recht auf Leben.



Man könnte hier einwenden, dass es doch die Möglichkeit gibt, auch das Recht auf Eigentum im Allgemeinen zu veräußern, z. B. wenn jemand in ein Trappistenkloster eintritt und auf jegliches Eigentum freiwillig verzichtet. In diesem Fall sind zwei verschiedene Interpretationen möglich (Oderberg, ibid.). Nach der ersten Interpretation liegt kein Fall von Veräußerung des Rechts auf Eigentum im Allgemeinen vor, sondern nur eine Zustimmung, die Gesetze des Klosters zu halten, die privates Eigentum verbieten. Sollte der Mönch wieder aus dem Kloster austreten, kann er wieder sein Eigentumsrecht ausüben, das er nie grundsätzlich verloren hat. Nach einer zweiten Interpretation des Falles kann man davon ausgehen, dass es sich tatsächlich um eine Veräußerung handelt, aber nur um eine zeitlich begrenzte Veräußerung des Rechts auf Eigentum, die endet, sobald der Mönch die Gemeinschaft wieder verlässt. In beiden Fällen handelt es sich nicht um einen permanenten Verzicht auf das Recht auf Eigentum. Bei der Forderung nach einem Recht auf Sterbehilfe ist die Absicht, das Leben zu verlieren, dauerhaft. Sobald das Recht auf Leben erloschen ist, d. h. sobald die Person tot ist, kann das Recht nicht wieder zurückgeholt werden. Daher können das Recht auf Euthanasie und das Recht auf Eigentum nicht miteinander verglichen werden.



Von niemandem wird ernsthaft bestritten, dass die Autonomie der Person Grenzen hat. Autonomie bedeutet nicht die moralische Fähigkeit, zu tun, was man will, auch nicht in Bezug auf sich selbst. Kaum jemand wird eine Person dabei unterstützen, sich Heroin zu verabreichen, und die Autonomie der Person gibt ihr dazu auch kein Recht. Autonomie darf vor allem nicht gleichgesetzt werden mit der Vorrangigkeit des Willens. Doch genau dies geschieht vielfach in den gegenwärtigen Debatten über die personale Autonomie. Autonomie ist auch nicht die moralische Fähigkeit, alles zu tun, wovon man glaubt, dass es zur eigenen Selbstvervollkommnung beitrage. Es gibt, wofür ich ausführlich argumentiert habe, objektive Kriterien für das, was gut ist, bzw. für das, was zur Selbstvervollkommnung beiträgt, und deshalb kann jemand schlicht etwas Falsches glauben. Allein diese Möglichkeit des Irrtums bezüglich dessen, was gut für mich ist, bedeutet, dass die personale Autonomie begrenzt sein muss.



Kurz gesagt bedeutet dies, dass es kein Recht auf freiwillige Euthanasie als freiwillige geben kann. Die Freiwilligkeit einer Entscheidung zum Tod ist kein Argument dafür, dass eine solche Person ein Recht auf einen „selbstbestimmten“ Tod hat.



Ein weiteres Argument für die aktive Sterbehilfe auch bei Personen, die zu einer willentlichen Zustimmung nicht mehr in der Lage sind, z. B. weil sie im Koma auf einer Intensivstation liegen, ist der Hinweis auf die Lebensqualität. Damit wird gesagt, dass ein menschliches Leben unter bestimmten Bedingungen nicht mehr lebenswert sei und deshalb ein Recht auf Sterbehilfe möglich sein solle. Allerdings scheint es mir völlig unmöglich, eine nicht bloß zufällige Bestimmung dessen zu geben, was es bedeutet, dass ein Leben nicht mehr lebenswert ist. Verteidiger eines Rechts auf Sterbehilfe nennen eine ganze Reihe verschiedener „moralisch relevanter Merkmale“, die zur Bestimmung dienen sollen, wann ein Leben nicht mehr lebenswert sei. Jede allgemeinere Bestimmung solcher moralisch relevanten Merkmale beinhaltet allerdings Personen bzw. Fälle, für die diese Merkmale nicht zutreffen, die letztlich immer an einem erwachsenen und gesunden Menschen orientiert sind, dessen Leben als lebenswert gilt. Jeder Mensch, unabhängig von seiner Entwicklungsstufe, seinem Alter, seinem Gesundheitszustand usw., hat aber die gleiche personale Würde und verdient den Schutz, den er oder sie benötigt.



Ein Grund für den Verweis auf den „Wert des Lebens“ besteht in der fehlenden Unterscheidung zwischen intrinsischen und instrumentellen Werten (Oderberg 2005a, 67f.). Betrachtet man ein menschliches Leben allein hinsichtlich seines instrumentellen Wertes, worin man diesen auch immer sehen mag (Erfüllung von Aufgaben für die Gemeinschaft, Genuss, Beitrag zum Erfolg des Unternehmens etc.), so ist klar, dass eine komatöse Person, die nicht in der Lage ist, irgendetwas zu leisten, und selbst nicht einmal in der Lage ist, selbständig zu atmen, einen Wert hat, der gegen null geht. Von da ist es nur noch ein kurzer Schritt zu dem Entschluss, dieses Leben zu beenden, zumal wenn man in Erwägung zieht, was die Erhaltung dieses Lebens für die Gemeinschaft für Kosten verursacht und Belastungen für die Angehörigen mit sich bringt. Betrachtet man das menschliche Leben jedoch hinsichtlich seines instrumentellen und intrinsischen Wertes, ergeben sich ganz andere Konsequenzen. Man könnte hier einwenden, dass wir selbst darauf hingewiesen haben, dass das Ziel des menschlichen Lebens in der Entfaltung und im Wachstum seiner Vermögen und Kräfte besteht. Niemand wird aber ernsthaft behaupten wollen, dass ein komatöser Patient in vollem Umfang zur Selbstentfaltung in der Lage ist, also einen Beitrag zur Erfüllung seines Zieles zu leisten vermag. Doch dies trifft auch für uns selbst zu. Wer von uns ist schon in der Lage, in einer unbeeinträchtigten Art und Weise seine Vervollkommnung zu betreiben? Der Unterschied zwischen uns und dem komatösen Patienten ist kein qualitativer Unterschied, sondern er besteht nur im Grad der Beeinträchtigung der Entfaltung des menschlichen Lebens. Letztlich ist die Frage unbedeutend, ob und in welchem Maß eine Person sich entfalten kann, wenn es darum geht, ob das letzte verbleibende Gut, nämlich das nackte Leben selbst, ebenso noch beseitigt werden soll. Selbst wenn dieses Leben tatsächlich keinen instrumentellen Wert mehr haben sollte, bleibt der intrinsische Wert des Lebens bestehen und unberührt von Krankheit und Unfähigkeit. Das menschliche Leben im Allgemeinen besteht in der Verfolgung des Guten, auch wenn ein individueller Mensch in einer aktuellen Situation dazu nicht in der Lage ist. Der intrinsische Wert des Menschen besteht darin, dass er das Gute im Allgemeinen erstreben kann, unabhängig davon, ob diese bestimmte Person dazu in der Lage ist. Nur weil Menschen im Allgemeinen dazu in der Lage sind, das Gute zu erstreben, sind sie Gegenstand moralischer Bewertungen. Menschliches Leben selbst ist das fundamentale Element unter einer Vielzahl weiterer Elemente, die eine moralische Existenz konstituieren, die die Existenz der intrinsischen Würde ist (ibid.).



Es ließe sich zu diesem Thema noch sehr viel mehr sagen und es müsste auch noch viel mehr gesagt werden, um auch nur die Grundlinien der Argumentation zu skizzieren. Mir geht es hier aber primär darum, an einigen Beispielen die Anwendung der natürlichen Ethik auf bestimmte moralische Fragen zu exemplifizieren. Daher nun noch einige Sätze zur sogenannten passiven Sterbehilfe, bevor ich mich abschließend einigen kritischen Einwänden gegen die hier vertretenen Positionen zuwende.



Zu dem Unterschied von Handlung und Unterlassung habe ich bereits die wichtigsten Punkte genannt. Dieser Unterschied spielt auch bei der Tötung einer Person eine Rolle und auch im Zusammenhang mit aktiver und passiver Sterbehilfe. Grundsätzlich kann man sagen, dass es keinen Unterschied macht, ob man jemanden durch einen positiven Akt tötet oder ihn durch eine Unterlassung tötet, wenn alle anderen Umstände gleich sind. Eine Mutter, die ihr Kleinkind verhungern lässt, ist ebenso schuldig, wie wenn sie ihr Kind direkt totschlägt, wenn man alle anderen Umstände bei den beiden Fällen unberücksichtigt lässt. Wie ich im Zusammenhang mit der Unterscheidung von Handeln und Unterlassen gesagt habe, spielt für die Schuldhaftigkeit einer Unterlassung unter den verschiedenen Umständen die vorhergehende Verpflichtung zum Handeln die entscheidende Rolle. Wenn eine solche Verpflichtung zum Handeln gegeben ist, wie dies bei der Fürsorge der Mutter für ihr Kind zweifellos der Fall ist, dann ist eine Unterlassung immer schuldhaft. Die Verpflichtung oder Zuständigkeit ergibt sich im Wesentlichen aus der Beziehung der Nähe, die nicht primär geographisch gemeint ist, sondern sich aus der Struktur der Gemeinschaft, ihrer Gesetze und Institutionen ergibt. Solche typischen Beziehungen der Nähe sind die Pflichten der Eltern gegenüber ihren Kindern, der Lehrerin gegenüber ihren Schülern, des Krankenpflegers gegenüber seiner Patientin oder der Ärztin gegenüber ihrem Patienten.



Der entscheidende Punkt für die Unterscheidung zwischen aktiver und passiver Sterbehilfe liegt also nicht darin, ob man z. B. eine Therapie unterlässt oder aktiv durch eine Injektion den Tod herbeiführt, sondern in der Frage der Intention. Wenn es die Intention ist, eine Person zu töten, dann ist es für die moralische Beurteilung gleichgültig, ob man die Person durch eine Unterlassung oder durch eine Handlung tötet. Freilich ist es nicht immer leicht zu beurteilen, ob es sich bei einer Unterlassung um eine intentionale Tötung handelt oder ob es eine andere Intention gab, die nicht auf die Tötung des Menschen gerichtet war. Daher sind einige Unterscheidungen erforderlich.



Verteidiger der Euthanasie argumentieren gelegentlich, dass jede Einstellung einer Behandlung eines Patienten eine gerechtfertigte Unterlassung sei. Dies, so wird argumentiert, bedeute nichts anderes, als dass die Einstellung der Behandlung etwa bei einer Infektion nur dazu führt, dass „die Natur ihren Lauf nimmt“ und der Patient nicht durch die Einstellung medizinischer Maßnahmen, sondern durch die zugrundeliegende Krankheit stirbt. Doch eine solche Argumentation hat zwei Probleme: Zunächst ist die Rechtfertigung durch den Hinweis darauf, dass „die Natur ihren Lauf nimmt“, unberechtigt. Dies wird durch folgendes Beispiel deutlich (Oderberg 2005a, 74): Ein Arzt verschreibt einem Kind gegen eine Infektion Antibiotika, die dem Kind von den Eltern zunächst für vier Tage verabreicht werden. Anschließend stellen die Eltern die weitere Verabreichung der Medizin ein und das Kind stirbt. Können die Eltern ihre Verantwortung für den Tod des Kindes dadurch zurückweisen, dass sie darauf verweisen, dass „die Natur ihren Lauf genommen hat“? Natürlich sind die Eltern nicht für die Infektion selbst verantwortlich, aber sie haben als Eltern die besondere Verpflichtung, für das Kind Sorge zu tragen, und sind deshalb für den Tod des Kindes verantwortlich, wenn sie die Behandlung der Infektion abbrechen. Diese Verantwortung ist sowohl moralisch als auch kausal zu verstehen. Die aktive Einstellung der Behandlung durch die Eltern verhindert die Wiederherstellung der Gesundheit und beschleunigt den Tod. Dasselbe gilt nun auch für einen Arzt, der für die Behandlung etwa einer an einer Infektion erkrankten Patientin verantwortlich ist und der Patientin eine Behandlung vorenthält oder diese zu früh einstellt. Es macht sicher keinen Unterschied, dass die Patientin ohne Arzt ohnehin gestorben wäre (so wie wir alle einmal sterben werden). Das zweite Problem beim Hinweis auf den „Lauf der Natur“ besteht in der Verwechslung der gegebenen Situationen, die von großer Bedeutung sind. Die Einstellung der Behandlung kann sowohl eine Unterlassung als auch eine Handlung sein, je nach der zugrundeliegenden Situation. Unser Beispiel sieht aus wie eine Unterlassung durch Einstellung der Behandlung. Doch wie verhält es sich bei einem Fall, wo einem Komapatienten, der künstlich beatmet wird, die Beatmungsmaschine durch den behandelnden Arzt abgestellt wird, wo also ebenfalls eine Behandlung abgebrochen wird und damit scheinbar eine Unterlassung begangen wird? Kann man hier von einer Unterlassung sprechen oder ist es eine aktive Handlung? Was diesen Anschein einer Handlung erweckt, ist die Tatsache einer positiven Intervention (Abschaltung der Beatmungsmaschine) bei einer anhaltenden lebensverlängernden Maßnahme, die nicht anders erscheint, als wenn der Arzt den Patienten mit einem Kissen erstickt. Wenn nun nicht der Arzt die Beatmungsmaschine abschaltet, sondern irgendeine andere Person, die nicht zum Krankenhaus gehört, ist dies ganz offensichtlich eine Handlung und nicht eine Unterlassung. Andererseits lässt sich wohl schwerlich verständlich machen, warum es von der Person abhängen soll, ob etwas eine Handlung oder Unterlassung ist. Allerdings ist dies moralisch betrachtet auch unerheblich, denn wie schon zu Beginn dieses Abschnitts gesagt wurde, ist die Tötung durch eine Handlung ebenso verwerflich wie die Tötung durch Unterlassen, sofern die Intention in beiden Fällen die Tötung ist. Entscheidend ist also, wie schon gesagt wurde und durch die vorherigen Hinweise begründet werden sollte, die Intention, und nicht, ob es sich um eine Handlung oder eine Unterlassung handelt.



Die Intention darf nun aber nicht mit der Vorhersehbarkeit verwechselt werden, was nicht selten geschieht. Diese Unterscheidung steht in Zusammenhang mit der Theorie der Doppelwirkung, die ich zuvor vorgestellt habe. Die Intention bezieht sich auf den Zweck oder das Ziel einer Tätigkeit, während die Vorhersehbarkeit sich auf die Folgen einer Handlung bezieht. Wenn eine Ärztin einem Patienten eine Überdosis eines schmerzstillenden Mittels verabreicht mit dem Ziel, den Patienten „von seinem Leiden zu erlösen“, d. h. ihn zu töten, dann handelt es sich um eine moralisch verwerfliche direkte Tötung. Das Gleiche gilt übrigens auch dann, wenn die Ärztin eine Überdosis dieses Mittel verabreichen will, aber versehentlich stattdessen eine Kochsalzlösung verabreicht, die keinerlei gesundheitliche Folgen für den Patienten hat. Moralisch sind beide Fälle gleich zu beurteilen, wenn sie auch juristisch unterschiedlich behandelt werden. Entscheidend für die moralische Beurteilung ist die Intention. Andererseits ist die Verabreichung eines schmerzstillenden Mittels. wie insbesondere Morphiums, mit der Intention der Schmerzlinderung, wobei der Arzt vorhersieht, dass diese Schmerzbehandlung das Leben des Patienten verkürzen wird, keineswegs moralisch verwerflich, sondern im Gegenteil gerechtfertigt. Für einen Konsequentialisten ist eine Unterscheidung zwischen dem, was jemand intendiert oder wünscht oder vorhersieht, bestenfalls eine semantische Unterscheidung ohne Relevanz für eine moralische Beurteilung, da für ihn allein die Konsequenzen einer Handlung (oder Unterlassung) eine Rolle spielen. Tatsächlich ist dieser Unterschied aber ganz erheblich, denn er gründet in der Natur der Dinge selbst. Ob eine Handlung vorhergesehen wird oder beabsichtigt ist, ist ein Unterschied, der die Identität der Handlung selbst betrifft. Die Bestimmung dessen, was jemand tut, ist nämlich abhängig von dem, was er beabsichtigt. Jemand, der beabsichtigt, das Leiden eines Patienten zu mildern, tut etwas anderes als jemand, der beabsichtigt, jemanden zu töten, selbst dann, wenn beide dieselben Tätigkeiten ausführen.



Gleichwohl besagt die überragende Bedeutung der Intention für die moralische Beurteilung einer Handlung nicht, dass eine handelnde Person, die bestimmte Ergebnisse vorhersieht, aber nicht beabsichtigt, keinerlei Verantwortung für die unbeabsichtigten Folgen hat. Hier verweise ich auf die vier genannten Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine doppelte Wirkung bei einer Handlung vorliegt.



Abschließend möchte ich noch auf einige Einwände gegen die hier vertretenen Argumente eingehen, wobei ich mich auf einen Beitrag der bereits zitierten Autoren Michael Quante und David Schweikard im Grundkurs Ethik 2 (Ach, Bayertz, Siep 2011, 3748) beziehe. Die Autoren versuchen zu zeigen, dass die handlungstheoretischen Unterscheidungen zwischen (a) aktiv und passiv, (b) tun und unterlassen und (c) beabsichtigen und in Kauf nehmen nicht geeignet sind, „eine trennscharfe Linie zu ziehen zwischen ethisch kategorisch unzulässigen und ethisch zulässigen Handlungen“ (ibid., 41). Die Autoren gestehen zu, dass diese Unterscheidungen in unserem Alltagsverständnis einen festen Platz haben und „dass sich das Maß der ethischen Schuld auch an dem Grad der Aktivität und Passivität ausrichtet“ (ibid.). Die Autoren meinen jedoch, dass sich daraus, für sich genommen, „keine tragfähige Grundlage für die ethische Bewertung“ (ibid.) ableiten lasse. Warum dies nicht der Fall sein soll, wird aber nicht gesagt. Zumindest juristisch, wie auch in unserem „alltäglichen Weltbild“, spielt es aber eine Rolle, ob jemand bei einem Einbruch nur Schmiere gestanden hat oder die Tür aufgebrochen hat. Doch gestehen wir einmal zu, dass Quante und Schweikard Gründe für ihre Behauptung haben, und belassen wir es bei diesem Hinweis. Problematischer sind die Einwände gegen die von mir und vielen aristotelischen Philosophen verteidigte Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen. Die von den Autoren gewählten Beispiele, die darauf hinweisen sollen, dass jede Handlung zugleich eine Unterlassung impliziert (einen Apfel zu nehmen bedeutet zugleich, es zu unterlassen, eine Banane zu nehmen), zeigen m. E., dass sie dieses Thema weitgehend kontextfrei behandeln. Es gibt kein einfaches „Apfelnehmen“ ohne eine bestimmte Situation, in der dies geschieht, und diese Handlung wird, worauf ich zuvor hingewiesen habe, wesentlich von der Intention bestimmt. Zudem sind die gewählten Beispiele moralisch neutral und daher nicht geeignet, das eigentliche Problem von Handeln und Unterlassen angemessen zu erfassen. Auch wir gestehen zu, dass es „nicht einmal plausibel [ist] anzunehmen, dass Unterlassungen ethisch stets weniger gravierend sind als Handlungen“ (ibid., 42). Dafür habe ich zuvor Beispiele genannt. Doch die Schlussfolgerung, die die Autoren daraus ziehen, dass deshalb diese Unterscheidung selbst überflüssig und moralisch irrelevant sei, ergibt sich daraus nicht. Ich habe zuvor zu zeigen versucht, dass diese Unterscheidung sehr gut begründet ist, dass sie ihr Fundament in der Unterscheidung von Handlungs- und Unterlassungspflichten hat und dass sie immer im Zusammenhang mit der Intention gesehen werden muss.



Die Unterscheidung zwischen Behandlungsverzicht und Behandlungsabbruch, die ich wenige Absätze zuvor behandelt habe, wird von den Autoren auch negiert, allerdings ebenfalls ohne Argument, wenn man nicht die Aussage als Argument gelten lassen will, dass es keine „klare Grenzziehung zwischen dem kategorisch ethisch Falschen (Behandlungsabbruch) und dem nicht-kategorisch ethisch Falschen (Behandlungsverzicht)“ gibt (ibid.). Dass es in einigen Fällen keine eindeutige Grenze zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten gibt, besagt nicht, dass es diesen Unterschied nicht gibt, sondern nur, dass dieser Unterschied nicht in allen Fällen klar bestimmbar ist. Auch hier behandeln die Autoren den Unterschied zwischen Behandlungsabbruch und -verzicht ohne den Kontext, nämlich ohne den Zusammenhang mit der Intention. Hat der Behandlungsabbruch die Intention, den Patienten zu töten, dann ist der Behandlungsabbruch moralisch nicht besser oder schlechter zu beurteilen als der Behandlungsverzicht mit der Intention, den Patienten sterben zu lassen, d. h. zu töten. Das hängt jedoch vom Kontext, von der Situation ab.



Mit der Bestreitung der dritten Unterscheidung zwischen Beabsichtigen und In-Kauf-Nehmen geht es den Autoren darum, die Theorie der Doppelwirkung zu widerlegen, die nach ihrer Meinung auf diesem Unterschied beruht. Die Autoren gestehen hier durchaus zu, dass man diese Unterscheidung machen kann, sie halten die Lehre von der Doppelwirkung aber für „unplausibel, da in unserer ethischen Praxis zwischen dem Beabsichtigten und dem lediglich in Kauf Genommenen keine kategorische Grenze verläuft“ (42). Wieder wird mit der Grenze argumentiert, also einer fehlenden klaren Unterscheidung zwischen zwei Entitäten. Ich halte dies für ein sehr schwaches Argument, zumal man mit Aristoteles darauf hinweisen kann, dass man nur so viel Klarheit verlangen kann, wie die Sache selbst ermöglicht. Doch dies ist nicht der entscheidende Einwand gegen die Argumentation. Zunächst wäre es hilfreich gewesen, wenn die Autoren die Theorie der Doppelwirkung zumindest grob umrissen hätten, oder zumindest die vier Bedingungen genannt hätten, die erforderlich sind, damit man von einer Doppelwirkung reden kann. Was aber auch im Argument der beiden Autoren wieder zum Tragen kommt, ist die unzureichende Unterscheidung zwischen Intention und Vorhersehbarkeit, die nämlich durchaus klar bestimmt werden kann. Auf diesen Unterschied habe ich weiter oben hingewiesen und er spielt bei der Lehre von der Doppelwirkung eine zentrale Rolle. Eine Handlung ist, auch nach Auffassung der Verteidiger der Theorie der Doppelwirkung, nicht automatisch moralisch gerechtfertigt, wenn z. B. der Tod nicht beabsichtigt, sondern nur in Kauf genommen wird. Ich habe aber auch darauf hingewiesen, dass sogar die Identität der Handlung von dieser Unterscheidung abhängig ist. Dass die Intention eines Handelnden nicht in jedem Fall objektiv bestimmt werden kann, mag juristisch durchaus von Bedeutung sein, nicht aber moralisch. Moralisch handelt es sich um zwei grundlegend verschiedene Handlungen, ob ich z. B. Morphium verabreiche mit dem Ziel, die Schmerzen und Leiden des Patienten durch dessen Tod zu beenden, oder ob ich das Schmerzmittel mit der Absicht injiziere, die Schmerzen zu lindern, was dazu führen kann, dass der Patient früher stirbt.



Dass die Autoren auf der Grundlage dieser Überlegungen zu einer „liberalistischen Position“ mit dem „Recht auf die eigene Bewertung der eigenen Existenz“ (43) in der Frage der Euthanasie neigen, ist nicht verwunderlich. Wenn auch die Begründung nicht im engeren Sinne konsequentialistisch ist, so greift sie doch in wesentlichen Punkten die Argumente des Konsequentialismus auf, die ich in diesem Buch kritisch diskutiert habe.



Die Grundlagen des Konsequentialismus wie auch aller anderen in diesem Buch vorgestellten Moralphilosophien sind letztlich subjektiv; ihnen fehlt ein ontologisch objektives Fundament, das in der Lage ist, unser Handeln zu leiten. Wenn wir moralische Fragen stellen, dann wollen wir objektiv wissen, was gut und was schlecht bzw. böse ist. Dieses ontologische Fundament einer objektiven Ethik kann nur die Natur des Menschen sein. Aus der Natur des Menschen ergeben sich nicht nur die grundlegenden moralischen Gesetze und Prinzipien, sondern auch, mit Hilfe dieser Gesetze und Prinzipien, konkrete Anleitungen zu einem Handeln, das für uns gut ist, d. h. einem Handeln, das zur Vervollkommnung unserer menschlichen Natur und letztlich zur Glückseligkeit beiträgt.




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