Aus Anlass
des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten „aktiven Sterbehilfe“,
die auch eine gewerbsmäßige Ausübung der Euthanasie einschließt, veröffentliche
ich in diesem Blog mit Genehmigung des Verlags editiones scholasticae
das Kapitel „Euthanasie“ aus dem Buch von Rafael Hüntelmann, Natürliche Ethik,
zum Thema der sogenannten „aktiven Sterbehilfe“.
Euthanasie
Der unbedingte Schutz unschuldigen menschlichen Lebens ist
das Zentrum der Ethik. Eine Ethik, die dieses Prinzip einschränkt oder ersetzt
oder sogar streicht, kann nicht als human bezeichnet werden (D. Oderberg 2005a,
48). Dies hat auch Folgen für die Frage der Euthanasie, die heute in
verschiedenen Ländern bereits praktiziert wird und in vielen anderen Ländern,
darunter auch in Deutschland, diskutiert wird. Man unterscheidet heute
verschiedene Arten der Euthanasie, die zumeist unter dem Begriff der „Sterbehilfe“
zusammengefasst werden. Der Begriff ist missverständlich und vieldeutig. Die
Verwendung des Begriffs „Sterbehilfe“ ist in Deutschland üblich, v. a. weil der
Begriff „Euthanasie“ mit dem Massenmord der Nationalsozialisten an körperlich,
seelisch und geistig behinderten Kindern und Erwachsenen verbunden wird und von
daher deutlich negative Assoziationen weckt, die man gerne vermeiden möchten.
Ich werde die Begriffe „Sterbehilfe“ und „Euthanasie“ im Folgenden synonym
verwenden.
Bei der Sterbehilfe unterscheidet man meist verschiedene
Varianten. Die wichtigste Unterscheidung ist die zwischen aktiver und passiver
Sterbehilfe. Bei der aktiven Sterbehilfe wird unterschieden zwischen der Tötung
auf Verlangen und der Euthanasie ohne Willensäußerung des Betroffenen. In
diesen Fällen wird der Tod des Betroffenen durch andere Personen aktiv und
gezielt angestrebt. Bei der passiven Sterbehilfe werden Maßnahmen eingestellt,
die das Leben des Betroffenen, der sich im Prozess des Sterbens befindet, verlängern
könnten. Für die sogenannte passive Sterbehilfe gilt das, was ich in Bezug auf
die Unterlassungen gesagt habe: Von zentraler Bedeutung für die moralische
Beurteilung der passiven Sterbehilfe ist die Frage, ob es eine Verpflichtung
zum Handeln gibt. Wo es eine Handlungspflicht, z. B. eines Arztes, gibt, das
Leben des Patienten zu schützen, unterscheidet sich eine Unterlassung in der
moralischen Beurteilung nicht grundsätzlich von einer aktiven Tötung.
Beginnen wir mit der aktiven Sterbehilfe, und zwar auf Grund
einer ausdrücklichen Willensäußerung des Patienten bzw. einer Person. Alle
Argumente, die in der Debatte über die aktive Euthanasie für die Zulässigkeit
dieser Art der Sterbehilfe angeführt werden, beruhen auf der Annahme der
Autonomie der menschlichen Person (vgl. z. B. M. Quante, D. P. Schweikard, in:
J.S. Ach, K. Bayertz, L. Siep 2011, 43ff.). Wie man auch immer die Autonomie
bzw. die Selbstbestimmung der Person bestimmt, man geht davon aus, dass die
bewusste Person die letzte Verfügungsgewalt über ihr Leben besitzt. „Der aus
unserer Sicht entscheidende Nachteil der Lehre von der Heiligkeit des
menschlichen Lebens besteht darin, dass sie mit der biographischen Verfasstheit
der Identität von Personen nicht vereinbar ist, wenn diese Personen ihr eigenes
Leben weder als eine ihnen von Gott gestellte Aufgabe noch als absoluten Wert
betrachten. Eine liberalistische Position, welche Personen das Recht auf die
eigene Bewertung der eigenen Existenz zuerkennt und die Qualität des Lebens von
autonomen Personen entscheidend von dieser Selbstbewertung abhängen lässt,
entspricht der pluralen und pluralistischen Verfasstheit unserer Kultur
wesentlich besser“ (ibid., 43f.). Abgesehen davon, dass eine moralische
Position zu Leben und Tod nicht von bestimmten Kulturen abhängig sein kann,
sondern entweder wahr oder falsch ist, setzt dieses Argument, wie auch nahezu
alle anderen Argumente für die aktive Sterbehilfe auf Grund der
Selbstbestimmung der menschlichen Person, voraus, dass das menschliche Leben zu
den veräußerlichen Rechten gehört.
Doch genau das ist falsch, auch dann, wenn man den Begriff der „Heiligkeit des
Lebens“ vermeiden möchte (Bittle 1950, 371). Das grundlegende Argument für ein
Recht auf aktive Sterbehilfe lässt sich folgendermaßen ausdrücken:
Alle Rechte sind veräußerlich.
Es gibt ein Recht auf Leben.
Deshalb ist das Recht auf Leben
veräußerlich.
Daraus folgt dann, dass eine Person mit einem gesunden
Verstand, die rational denken kann und ihre Situation angemessen zu beurteilen
vermag, das Recht auf die freie Bestimmung ihres eigenen Todeszeitpunkts hat
(D. Oderberg 2005a, 55). Obwohl das Argument in einem logischen Sinne gültig
ist, ist die erste Prämisse falsch. Vertreter eines Rechts auf aktive
Sterbehilfe vergleichen das Recht auf Leben gelegentlich mit dem Recht auf
Eigentum: Wenn Eigentumsrechte veräußerlich sind, warum sollte dann das eigene
Leben nicht veräußerlich sein? Dabei wird vorausgesetzt oder auch ausdrücklich
behauptet, dass das Recht auf Leben eine Art von Eigentumsrecht sei. Dies ist
auch erkennbar im zuvor angeführten Zitat von Quante und Schweikard. Wir sind
Eigentümer unseres Körpers, das Leben ist uns als Aufgabe übergeben worden und
so besitzen wir das Leben im Prinzip so, wie wir unser Haus besitzen.
Theistische Philosophen widersprechen dieser Auffassung durch den Hinweis, dass
wir unser Leben von Gott geliehen bekommen haben, um dafür zu sorgen, und dass
wir es ihm am Ende des Lebens, das Gott allein bestimmt, wieder zurückgeben.
Doch auch unabhängig von einer theistischen Argumentation lässt sich zeigen,
dass das Recht auf Leben kein Eigentumsrecht ist und dass es zugleich Hinweise
darauf gibt, dass auch das Recht auf Eigentum unveräußerlich ist (D. Oderberg
2005a, 56f.).
Das Kennzeichen von Eigentum ist, dass es veräußert werden
kann. Es kann verschenkt, verliehen oder verkauft werden. Dies bedeutet, dass
Sie Ihr Recht auf dieses oder jenes Eigentum veräußern können. Was Sie aber
nicht veräußern können, ist Ihr Recht
auf Eigentum überhaupt, d. h. unabhängig von irgendeinem bestimmten Eigentum.
Die Veräußerung dieses oder jenes bestimmten Rechts an Eigentum beinhaltet
nicht die Veräußerung des Rechts auf Eigentum im Allgemeinen. Die Veräußerung
des Rechts auf Ihr Leben beinhaltet allerdings die Veräußerung Ihres Rechts auf
Leben im Allgemeinen, denn Sie haben nur ein
Leben. Daher ist das Recht auf Eigentum an diesem oder jenem bestimmten
Eigentum nicht vergleichbar mit dem Recht auf Ihr bestimmtes Leben. Wenn man
beide Rechte in Analogie zueinander setzt, dann ist das Recht auf Eigentum
überhaupt und im Allgemeinen ebenso unveräußerlich wie das Recht auf Leben.
Man könnte hier einwenden, dass es doch die Möglichkeit gibt,
auch das Recht auf Eigentum im Allgemeinen zu veräußern, z. B. wenn jemand in
ein Trappistenkloster eintritt und auf jegliches Eigentum freiwillig
verzichtet. In diesem Fall sind zwei verschiedene Interpretationen möglich
(Oderberg, ibid.). Nach der ersten Interpretation liegt kein Fall von
Veräußerung des Rechts auf Eigentum im Allgemeinen vor, sondern nur eine
Zustimmung, die Gesetze des Klosters zu halten, die privates Eigentum
verbieten. Sollte der Mönch wieder aus dem Kloster austreten, kann er wieder sein
Eigentumsrecht ausüben, das er nie grundsätzlich verloren hat. Nach einer
zweiten Interpretation des Falles kann man davon ausgehen, dass es sich
tatsächlich um eine Veräußerung handelt, aber nur um eine zeitlich begrenzte
Veräußerung des Rechts auf Eigentum, die endet, sobald der Mönch die
Gemeinschaft wieder verlässt. In beiden Fällen handelt es sich nicht um einen
permanenten Verzicht auf das Recht auf Eigentum. Bei der Forderung nach einem
Recht auf Sterbehilfe ist die Absicht, das Leben zu verlieren, dauerhaft.
Sobald das Recht auf Leben erloschen ist, d. h. sobald die Person tot ist, kann
das Recht nicht wieder zurückgeholt werden. Daher können das Recht auf
Euthanasie und das Recht auf Eigentum nicht miteinander verglichen werden.
Von niemandem wird ernsthaft bestritten, dass die Autonomie
der Person Grenzen hat. Autonomie bedeutet nicht die moralische Fähigkeit, zu
tun, was man will, auch nicht in Bezug auf sich selbst. Kaum jemand wird eine Person
dabei unterstützen, sich Heroin zu verabreichen, und die Autonomie der Person
gibt ihr dazu auch kein Recht. Autonomie darf vor allem nicht gleichgesetzt
werden mit der Vorrangigkeit des Willens. Doch genau dies geschieht vielfach in
den gegenwärtigen Debatten über die personale Autonomie. Autonomie ist auch
nicht die moralische Fähigkeit, alles zu tun, wovon man glaubt, dass es zur eigenen Selbstvervollkommnung beitrage. Es
gibt, wofür ich ausführlich argumentiert habe, objektive Kriterien für das, was
gut ist, bzw. für das, was zur Selbstvervollkommnung beiträgt, und deshalb kann
jemand schlicht etwas Falsches glauben. Allein diese Möglichkeit des Irrtums
bezüglich dessen, was gut für mich ist, bedeutet, dass die personale Autonomie
begrenzt sein muss.
Kurz gesagt bedeutet dies, dass es kein Recht auf freiwillige
Euthanasie als freiwillige geben
kann. Die Freiwilligkeit einer Entscheidung zum Tod ist kein Argument dafür,
dass eine solche Person ein Recht auf einen „selbstbestimmten“ Tod hat.
Ein weiteres Argument für die aktive Sterbehilfe auch bei
Personen, die zu einer willentlichen Zustimmung nicht mehr in der Lage sind, z.
B. weil sie im Koma auf einer Intensivstation liegen, ist der Hinweis auf die Lebensqualität. Damit wird gesagt, dass
ein menschliches Leben unter bestimmten Bedingungen nicht mehr lebenswert sei
und deshalb ein Recht auf Sterbehilfe möglich sein solle. Allerdings scheint es
mir völlig unmöglich, eine nicht bloß zufällige Bestimmung dessen zu geben, was
es bedeutet, dass ein Leben nicht mehr lebenswert ist. Verteidiger eines Rechts
auf Sterbehilfe nennen eine ganze Reihe verschiedener „moralisch relevanter
Merkmale“, die zur Bestimmung dienen sollen, wann ein Leben nicht mehr
lebenswert sei. Jede allgemeinere Bestimmung solcher moralisch relevanten
Merkmale beinhaltet allerdings Personen bzw. Fälle, für die diese Merkmale
nicht zutreffen, die letztlich immer an einem erwachsenen und gesunden Menschen
orientiert sind, dessen Leben als lebenswert gilt. Jeder Mensch, unabhängig von
seiner Entwicklungsstufe, seinem Alter, seinem Gesundheitszustand usw., hat
aber die gleiche personale Würde und verdient den Schutz, den er oder sie
benötigt.
Ein Grund für den Verweis auf den „Wert des Lebens“ besteht
in der fehlenden Unterscheidung zwischen intrinsischen und instrumentellen
Werten (Oderberg 2005a, 67f.). Betrachtet man ein menschliches Leben allein
hinsichtlich seines instrumentellen Wertes, worin man diesen auch immer sehen
mag (Erfüllung von Aufgaben für die Gemeinschaft, Genuss, Beitrag zum Erfolg
des Unternehmens etc.), so ist klar, dass eine komatöse Person, die nicht in
der Lage ist, irgendetwas zu leisten, und selbst nicht einmal in der Lage ist,
selbständig zu atmen, einen Wert hat, der gegen null geht. Von da ist es nur noch
ein kurzer Schritt zu dem Entschluss, dieses Leben zu beenden, zumal wenn man
in Erwägung zieht, was die Erhaltung dieses Lebens für die Gemeinschaft für Kosten
verursacht und Belastungen für die Angehörigen mit sich bringt. Betrachtet man
das menschliche Leben jedoch hinsichtlich seines instrumentellen und intrinsischen Wertes, ergeben sich
ganz andere Konsequenzen. Man könnte hier einwenden, dass wir selbst darauf hingewiesen
haben, dass das Ziel des menschlichen Lebens in der Entfaltung und im Wachstum
seiner Vermögen und Kräfte besteht. Niemand wird aber ernsthaft behaupten
wollen, dass ein komatöser Patient in vollem Umfang zur Selbstentfaltung in der
Lage ist, also einen Beitrag zur Erfüllung seines Zieles zu leisten vermag.
Doch dies trifft auch für uns selbst zu. Wer von uns ist schon in der Lage, in
einer unbeeinträchtigten Art und Weise seine Vervollkommnung zu betreiben? Der
Unterschied zwischen uns und dem komatösen Patienten ist kein qualitativer
Unterschied, sondern er besteht nur im Grad
der Beeinträchtigung der Entfaltung des menschlichen Lebens. Letztlich ist die
Frage unbedeutend, ob und in welchem Maß eine Person sich entfalten kann, wenn
es darum geht, ob das letzte verbleibende Gut, nämlich das nackte Leben selbst,
ebenso noch beseitigt werden soll. Selbst wenn dieses Leben tatsächlich keinen
instrumentellen Wert mehr haben sollte, bleibt der intrinsische Wert des Lebens
bestehen und unberührt von Krankheit und Unfähigkeit. Das menschliche Leben im
Allgemeinen besteht in der Verfolgung des Guten, auch wenn ein individueller
Mensch in einer aktuellen Situation dazu nicht in der Lage ist. Der
intrinsische Wert des Menschen besteht darin, dass er das Gute im Allgemeinen
erstreben kann, unabhängig davon, ob diese bestimmte Person dazu in der Lage
ist. Nur weil Menschen im Allgemeinen dazu in der Lage sind, das Gute zu
erstreben, sind sie Gegenstand moralischer Bewertungen. Menschliches Leben
selbst ist das fundamentale Element unter einer Vielzahl weiterer Elemente, die
eine moralische Existenz konstituieren, die die Existenz der intrinsischen
Würde ist (ibid.).
Es ließe sich zu diesem Thema noch sehr viel mehr sagen und
es müsste auch noch viel mehr gesagt werden, um auch nur die Grundlinien der
Argumentation zu skizzieren. Mir geht es hier aber primär darum, an einigen
Beispielen die Anwendung der natürlichen Ethik auf bestimmte moralische Fragen
zu exemplifizieren. Daher nun noch einige Sätze zur sogenannten passiven
Sterbehilfe, bevor ich mich abschließend einigen kritischen Einwänden gegen die
hier vertretenen Positionen zuwende.
Zu dem Unterschied von Handlung und Unterlassung habe ich
bereits die wichtigsten Punkte genannt. Dieser Unterschied spielt auch bei der
Tötung einer Person eine Rolle und auch im Zusammenhang mit aktiver und
passiver Sterbehilfe. Grundsätzlich kann man sagen, dass es keinen Unterschied
macht, ob man jemanden durch einen positiven Akt tötet oder ihn durch eine
Unterlassung tötet, wenn alle anderen Umstände gleich sind. Eine Mutter, die
ihr Kleinkind verhungern lässt, ist ebenso schuldig, wie wenn sie ihr Kind
direkt totschlägt, wenn man alle anderen Umstände bei den beiden Fällen
unberücksichtigt lässt. Wie ich im Zusammenhang mit der Unterscheidung von
Handeln und Unterlassen gesagt habe, spielt für die Schuldhaftigkeit einer
Unterlassung unter den verschiedenen Umständen die vorhergehende Verpflichtung
zum Handeln die entscheidende Rolle. Wenn eine solche Verpflichtung zum Handeln
gegeben ist, wie dies bei der Fürsorge der Mutter für ihr Kind zweifellos der
Fall ist, dann ist eine Unterlassung immer schuldhaft. Die Verpflichtung oder
Zuständigkeit ergibt sich im Wesentlichen aus der Beziehung der Nähe, die nicht
primär geographisch gemeint ist, sondern sich aus der Struktur der
Gemeinschaft, ihrer Gesetze und Institutionen ergibt. Solche typischen
Beziehungen der Nähe sind die Pflichten der Eltern gegenüber ihren Kindern, der
Lehrerin gegenüber ihren Schülern, des Krankenpflegers gegenüber seiner
Patientin oder der Ärztin gegenüber ihrem Patienten.
Der entscheidende Punkt für die Unterscheidung zwischen
aktiver und passiver Sterbehilfe liegt also nicht darin, ob man z. B. eine
Therapie unterlässt oder aktiv durch eine Injektion den Tod herbeiführt,
sondern in der Frage der Intention. Wenn es die Intention ist, eine Person zu
töten, dann ist es für die moralische Beurteilung gleichgültig, ob man die
Person durch eine Unterlassung oder durch eine Handlung tötet. Freilich ist es
nicht immer leicht zu beurteilen, ob es sich bei einer Unterlassung um eine
intentionale Tötung handelt oder ob es eine andere Intention gab, die nicht auf
die Tötung des Menschen gerichtet war. Daher sind einige Unterscheidungen
erforderlich.
Verteidiger der Euthanasie argumentieren gelegentlich, dass
jede Einstellung einer Behandlung eines Patienten eine gerechtfertigte
Unterlassung sei. Dies, so wird argumentiert, bedeute nichts anderes, als dass die
Einstellung der Behandlung etwa bei einer Infektion nur dazu führt, dass „die
Natur ihren Lauf nimmt“ und der Patient nicht durch die Einstellung
medizinischer Maßnahmen, sondern durch die zugrundeliegende Krankheit stirbt.
Doch eine solche Argumentation hat zwei Probleme: Zunächst ist die
Rechtfertigung durch den Hinweis darauf, dass „die Natur ihren Lauf nimmt“,
unberechtigt. Dies wird durch folgendes Beispiel deutlich (Oderberg 2005a, 74):
Ein Arzt verschreibt einem Kind gegen eine Infektion Antibiotika, die dem Kind
von den Eltern zunächst für vier Tage verabreicht werden. Anschließend stellen
die Eltern die weitere Verabreichung der Medizin ein und das Kind stirbt.
Können die Eltern ihre Verantwortung für den Tod des Kindes dadurch
zurückweisen, dass sie darauf verweisen, dass „die Natur ihren Lauf genommen
hat“? Natürlich sind die Eltern nicht für die Infektion selbst verantwortlich,
aber sie haben als Eltern die besondere
Verpflichtung, für das Kind Sorge zu tragen, und sind deshalb für den Tod
des Kindes verantwortlich, wenn sie die Behandlung der Infektion abbrechen.
Diese Verantwortung ist sowohl moralisch als auch kausal zu verstehen. Die
aktive Einstellung der Behandlung durch die Eltern verhindert die Wiederherstellung der Gesundheit und beschleunigt den Tod. Dasselbe gilt nun
auch für einen Arzt, der für die Behandlung etwa einer an einer Infektion
erkrankten Patientin verantwortlich ist und der Patientin eine Behandlung
vorenthält oder diese zu früh einstellt. Es macht sicher keinen Unterschied,
dass die Patientin ohne Arzt ohnehin gestorben wäre (so wie wir alle einmal
sterben werden). Das zweite Problem beim Hinweis auf den „Lauf der Natur“
besteht in der Verwechslung der gegebenen Situationen, die von großer Bedeutung
sind. Die Einstellung der Behandlung kann sowohl eine Unterlassung als auch
eine Handlung sein, je nach der zugrundeliegenden Situation. Unser Beispiel
sieht aus wie eine Unterlassung durch Einstellung der Behandlung. Doch wie
verhält es sich bei einem Fall, wo einem Komapatienten, der künstlich beatmet
wird, die Beatmungsmaschine durch den behandelnden Arzt abgestellt wird, wo
also ebenfalls eine Behandlung abgebrochen wird und damit scheinbar eine
Unterlassung begangen wird? Kann man hier von einer Unterlassung sprechen oder
ist es eine aktive Handlung? Was diesen Anschein einer Handlung erweckt, ist
die Tatsache einer positiven Intervention (Abschaltung der Beatmungsmaschine)
bei einer anhaltenden lebensverlängernden Maßnahme, die nicht anders erscheint,
als wenn der Arzt den Patienten mit einem Kissen erstickt. Wenn nun nicht der
Arzt die Beatmungsmaschine abschaltet, sondern irgendeine andere Person, die
nicht zum Krankenhaus gehört, ist dies ganz offensichtlich eine Handlung und
nicht eine Unterlassung. Andererseits lässt sich wohl schwerlich verständlich
machen, warum es von der Person abhängen soll, ob etwas eine Handlung oder
Unterlassung ist. Allerdings ist dies moralisch betrachtet auch unerheblich,
denn wie schon zu Beginn dieses Abschnitts gesagt wurde, ist die Tötung durch eine
Handlung ebenso verwerflich wie die Tötung durch Unterlassen, sofern die
Intention in beiden Fällen die Tötung ist. Entscheidend ist also, wie schon
gesagt wurde und durch die vorherigen Hinweise begründet werden sollte, die
Intention, und nicht, ob es sich um eine Handlung oder eine Unterlassung
handelt.
Die Intention darf nun aber nicht mit der Vorhersehbarkeit
verwechselt werden, was nicht selten geschieht. Diese Unterscheidung steht in
Zusammenhang mit der Theorie der Doppelwirkung, die ich zuvor vorgestellt habe.
Die Intention bezieht sich auf den Zweck oder das Ziel einer Tätigkeit, während
die Vorhersehbarkeit sich auf die Folgen einer Handlung bezieht. Wenn eine
Ärztin einem Patienten eine Überdosis eines schmerzstillenden Mittels
verabreicht mit dem Ziel, den Patienten „von seinem Leiden zu erlösen“, d. h.
ihn zu töten, dann handelt es sich um eine moralisch verwerfliche direkte
Tötung. Das Gleiche gilt übrigens auch dann, wenn die Ärztin eine Überdosis
dieses Mittel verabreichen will, aber versehentlich stattdessen eine
Kochsalzlösung verabreicht, die keinerlei gesundheitliche Folgen für den
Patienten hat. Moralisch sind beide Fälle gleich zu beurteilen, wenn sie auch
juristisch unterschiedlich behandelt werden. Entscheidend für die moralische
Beurteilung ist die Intention. Andererseits ist die Verabreichung eines
schmerzstillenden Mittels. wie insbesondere Morphiums, mit der Intention der
Schmerzlinderung, wobei der Arzt vorhersieht, dass diese Schmerzbehandlung das
Leben des Patienten verkürzen wird, keineswegs moralisch verwerflich, sondern
im Gegenteil gerechtfertigt. Für einen Konsequentialisten ist eine
Unterscheidung zwischen dem, was jemand intendiert oder wünscht oder
vorhersieht, bestenfalls eine semantische Unterscheidung ohne Relevanz für eine
moralische Beurteilung, da für ihn allein die Konsequenzen einer Handlung (oder
Unterlassung) eine Rolle spielen. Tatsächlich ist dieser Unterschied aber ganz
erheblich, denn er gründet in der Natur der Dinge selbst. Ob eine Handlung
vorhergesehen wird oder beabsichtigt ist, ist ein Unterschied, der die
Identität der Handlung selbst betrifft. Die Bestimmung dessen, was jemand tut, ist nämlich abhängig von dem, was
er beabsichtigt. Jemand, der
beabsichtigt, das Leiden eines Patienten zu mildern, tut etwas anderes als
jemand, der beabsichtigt, jemanden zu töten, selbst dann, wenn beide dieselben
Tätigkeiten ausführen.
Gleichwohl besagt die überragende Bedeutung der Intention für
die moralische Beurteilung einer Handlung nicht, dass eine handelnde Person,
die bestimmte Ergebnisse vorhersieht, aber nicht beabsichtigt, keinerlei
Verantwortung für die unbeabsichtigten Folgen hat. Hier verweise ich auf die
vier genannten Bedingungen, die erfüllt sein müssen, damit eine doppelte
Wirkung bei einer Handlung vorliegt.
Abschließend möchte ich noch auf einige Einwände gegen die
hier vertretenen Argumente eingehen, wobei ich mich auf einen Beitrag der
bereits zitierten Autoren Michael Quante und David Schweikard im Grundkurs Ethik 2 (Ach, Bayertz, Siep
2011, 37–48) beziehe. Die Autoren versuchen zu
zeigen, dass die handlungstheoretischen Unterscheidungen zwischen (a) aktiv und
passiv, (b) tun und unterlassen und (c) beabsichtigen und in Kauf nehmen nicht
geeignet sind, „eine trennscharfe Linie zu ziehen zwischen ethisch kategorisch
unzulässigen und ethisch zulässigen Handlungen“ (ibid., 41). Die Autoren
gestehen zu, dass diese Unterscheidungen in unserem Alltagsverständnis einen
festen Platz haben und „dass sich das Maß der ethischen Schuld auch an dem Grad
der Aktivität und Passivität ausrichtet“ (ibid.). Die Autoren meinen jedoch,
dass sich daraus, für sich genommen, „keine tragfähige Grundlage für die
ethische Bewertung“ (ibid.) ableiten lasse. Warum dies nicht der Fall sein
soll, wird aber nicht gesagt. Zumindest juristisch, wie auch in unserem
„alltäglichen Weltbild“, spielt es aber eine Rolle, ob jemand bei einem
Einbruch nur Schmiere gestanden hat oder die Tür aufgebrochen hat. Doch
gestehen wir einmal zu, dass Quante und Schweikard Gründe für ihre Behauptung
haben, und belassen wir es bei diesem Hinweis. Problematischer sind die
Einwände gegen die von mir und vielen aristotelischen Philosophen verteidigte
Unterscheidung zwischen Tun und Unterlassen. Die von den Autoren gewählten Beispiele,
die darauf hinweisen sollen, dass jede Handlung zugleich eine Unterlassung
impliziert (einen Apfel zu nehmen bedeutet zugleich, es zu unterlassen, eine
Banane zu nehmen), zeigen m. E., dass sie dieses Thema weitgehend kontextfrei
behandeln. Es gibt kein einfaches „Apfelnehmen“ ohne eine bestimmte Situation,
in der dies geschieht, und diese Handlung wird, worauf ich zuvor hingewiesen
habe, wesentlich von der Intention bestimmt. Zudem sind die gewählten Beispiele
moralisch neutral und daher nicht geeignet, das eigentliche Problem von Handeln
und Unterlassen angemessen zu erfassen. Auch wir gestehen zu, dass es „nicht
einmal plausibel [ist] anzunehmen, dass Unterlassungen ethisch stets weniger
gravierend sind als Handlungen“ (ibid., 42). Dafür habe ich zuvor Beispiele
genannt. Doch die Schlussfolgerung, die die Autoren daraus ziehen, dass deshalb
diese Unterscheidung selbst überflüssig und moralisch irrelevant sei, ergibt
sich daraus nicht. Ich habe zuvor zu zeigen versucht, dass diese Unterscheidung
sehr gut begründet ist, dass sie ihr Fundament in der Unterscheidung von
Handlungs- und Unterlassungspflichten hat und dass sie immer im Zusammenhang
mit der Intention gesehen werden muss.
Die Unterscheidung zwischen Behandlungsverzicht und
Behandlungsabbruch, die ich wenige Absätze zuvor behandelt habe, wird von den
Autoren auch negiert, allerdings ebenfalls ohne Argument, wenn man nicht die
Aussage als Argument gelten lassen will, dass es keine „klare Grenzziehung
zwischen dem kategorisch ethisch Falschen (Behandlungsabbruch) und dem
nicht-kategorisch ethisch Falschen (Behandlungsverzicht)“ gibt (ibid.). Dass es
in einigen Fällen keine eindeutige Grenze zwischen zwei Handlungsmöglichkeiten
gibt, besagt nicht, dass es diesen Unterschied nicht gibt, sondern nur, dass
dieser Unterschied nicht in allen Fällen klar bestimmbar ist. Auch hier
behandeln die Autoren den Unterschied zwischen Behandlungsabbruch und -verzicht
ohne den Kontext, nämlich ohne den Zusammenhang mit der Intention. Hat der Behandlungsabbruch
die Intention, den Patienten zu töten, dann ist der Behandlungsabbruch
moralisch nicht besser oder schlechter zu beurteilen als der
Behandlungsverzicht mit der Intention, den Patienten sterben zu lassen, d. h.
zu töten. Das hängt jedoch vom Kontext, von der Situation ab.
Mit der Bestreitung der dritten Unterscheidung zwischen Beabsichtigen
und In-Kauf-Nehmen geht es den Autoren darum, die Theorie der Doppelwirkung zu
widerlegen, die nach ihrer Meinung auf diesem Unterschied beruht. Die Autoren
gestehen hier durchaus zu, dass man diese Unterscheidung machen kann, sie halten die Lehre von der
Doppelwirkung aber für „unplausibel, da in unserer ethischen Praxis zwischen
dem Beabsichtigten und dem lediglich in Kauf Genommenen keine kategorische Grenze
verläuft“ (42). Wieder wird mit der Grenze argumentiert, also einer fehlenden
klaren Unterscheidung zwischen zwei Entitäten. Ich halte dies für ein sehr
schwaches Argument, zumal man mit Aristoteles darauf hinweisen kann, dass man
nur so viel Klarheit verlangen kann, wie die Sache selbst ermöglicht. Doch dies
ist nicht der entscheidende Einwand gegen die Argumentation. Zunächst wäre es
hilfreich gewesen, wenn die Autoren die Theorie der Doppelwirkung zumindest
grob umrissen hätten, oder zumindest die vier Bedingungen genannt hätten, die
erforderlich sind, damit man von einer Doppelwirkung reden kann. Was aber auch
im Argument der beiden Autoren wieder zum Tragen kommt, ist die unzureichende
Unterscheidung zwischen Intention und Vorhersehbarkeit, die nämlich durchaus
klar bestimmt werden kann. Auf diesen Unterschied habe ich weiter oben
hingewiesen und er spielt bei der Lehre von der Doppelwirkung eine zentrale
Rolle. Eine Handlung ist, auch nach Auffassung der Verteidiger der Theorie der
Doppelwirkung, nicht automatisch moralisch gerechtfertigt, wenn z. B. der Tod
nicht beabsichtigt, sondern nur in Kauf genommen wird. Ich habe aber auch
darauf hingewiesen, dass sogar die Identität der Handlung von dieser
Unterscheidung abhängig ist. Dass die Intention eines Handelnden nicht in jedem
Fall objektiv bestimmt werden kann, mag juristisch durchaus von Bedeutung sein,
nicht aber moralisch. Moralisch handelt es sich um zwei grundlegend
verschiedene Handlungen, ob ich z. B. Morphium verabreiche mit dem Ziel, die Schmerzen
und Leiden des Patienten durch dessen Tod zu beenden, oder ob ich das
Schmerzmittel mit der Absicht injiziere, die Schmerzen zu lindern, was dazu
führen kann, dass der Patient früher stirbt.
Dass die Autoren auf der Grundlage dieser Überlegungen zu
einer „liberalistischen Position“ mit dem „Recht auf die eigene Bewertung der
eigenen Existenz“ (43) in der Frage der Euthanasie neigen, ist nicht
verwunderlich. Wenn auch die Begründung nicht im engeren Sinne konsequentialistisch
ist, so greift sie doch in wesentlichen Punkten die Argumente des
Konsequentialismus auf, die ich in diesem Buch kritisch diskutiert habe.
Die Grundlagen des Konsequentialismus wie auch aller anderen
in diesem Buch vorgestellten Moralphilosophien sind letztlich subjektiv; ihnen
fehlt ein ontologisch objektives Fundament, das in der Lage ist, unser Handeln
zu leiten. Wenn wir moralische Fragen stellen, dann wollen wir objektiv wissen, was gut und was
schlecht bzw. böse ist. Dieses ontologische Fundament einer objektiven Ethik
kann nur die Natur des Menschen sein. Aus der Natur des Menschen ergeben sich
nicht nur die grundlegenden moralischen Gesetze und Prinzipien, sondern auch,
mit Hilfe dieser Gesetze und Prinzipien, konkrete Anleitungen zu einem Handeln,
das für uns gut ist, d. h. einem Handeln, das zur Vervollkommnung unserer
menschlichen Natur und letztlich zur Glückseligkeit beiträgt.
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen