Dienstag, 20. Oktober 2020

Wer war Thomas von Aquin?

 


Thomas von Aquin ist einer der größten christlichen Denker aller Zeiten. 1568 erklärte die römisch-katholische Kirche ihn zum Kirchenlehrer. Seine Schriften waren auch für Philosophen einflussreich, und nur wenige würden heute bestreiten, dass Thomas es verdient, den philosophischen Giganten zugeordnet zu werden, neben Platon (427348 v. Chr.), René Descartes (15961650), Immanuel Kant (17241804) und Ludwig Wittgenstein (19891951).

 

 

Thomas von Aquins Leben

 

Thomas von Aquin war Italiener und wurde in einer aristokratischen Familie geboren, deren Haus das Schloss Roccasecca war, das zwischen Rom und Neapel lag. Sein Taufname war Thomas. „Von Aquin“ (de Aquino) war sein Familienname. Er wurde geboren um 12241226.

 

Als er etwa fünf Jahre alt war, schickten ihn seine Eltern zum Studium in die Abtei Monte Cassino, ein benediktinisches Kloster, das vom heiligen Benedikt (480547) selbst gegründet worden war. Hier wurde Thomas in Schreiben und Grammatik unterrichtet. Ebenso wurde er in die Bibel und in die Schriften von Theologen wie Augustinus von Hippo (354430) und Gregor dem Großen (540604) eingeführt. Wir können davon ausgehen, dass Thomas als Schüler seine Lehrer in Monte Cassino durch sein bemerkenswertes Talent beeindruckt hat.

 

Im Jahre 1239 verließ Thomas Monte Cassino, um sein Studium an der heute sogenannten Universität Friedrichs II. in Neapel fortzusetzen. Während dieser Zeit wurde Thomas in die Philosophie des Aristoteles (384322 v. Chr.) eingeführt, dessen Ideen ihn in großem Umfang beeinflusst haben.

 

Die Eltern Thomas von Aquins scheinen gehofft zu haben, dass er schließlich Abt von Monte Cassino werden würde. Während seiner Studienzeit in Neapel entschied er sich jedoch, sich einem neuen Orden anzuschließen: den dominikanischen Brüdern, die vom hl. Dominikus Guzman (11701221) gegründet worden waren. Thomas wurde Dominikaner, und zwar im Jahre 1242 oder 1243.

 

Wie andere Mönche auch, leben Dominikaner in Gemeinschaften, deren Häuser üblicherweise als Priorate bezeichnet werden. Anders als andere Mönche verbleiben Dominikaner jedoch nicht an einem einzigen Ort. Sie ziehen von einem Priorat zum anderen, während sie ihrer Hauptbeschäftigung, dem Predigen, nachkommen. Weil sie der Auffassung sind, dass das beste Predigen das Ergebnis von Studium und Kontemplation ist, sind sie oft in akademischen Kontexten tätig, etwa in Schulen und Universitäten, was die Tatsache erklärt, dass Thomas heutzutage gut bekannt ist als Lehrer und Autor. Er stellte einmal die Frage, wie der beste religiöse Orden beschaffen sein solle. Seine Antwort lautete: „Religiöse Institute, die sich der Lehre und dem Predigen widmen, haben die höchste Stellung.“[1]

 

Thomas Familie war dagegen, dass er Dominikaner wurde. Tatsächlich setzten sie ihn für ungefähr ein Jahr in einer Art Hausarrest fest. Zum Ende des Jahres 1248 jedoch konnte er zu seinen dominikanischen Brüdern zurückkehren und lebte in Köln, wo er unter der Leitung von Albert dem Großen (12061280) studierte, für den er als Sekretär tätig war. Im Jahre 1248 galt Albert als einer der berühmtesten Stars der akademischen Dominikaner, und wir besitzen Abschriften von Vorlesungen Alberts aus der Hand Thomas von Aquins.

 

Thomas von Aquins intellektuelle Fähigkeiten wurden von Albert gut erkannt. Zur rechten Zeit sandten ihn deshalb seine Oberen an die Universität Paris, auf dass er dort unterrichte. Paris war eines der wenigen mittelalterlichen Studienzentren mit internationaler Reputation. Die Universität hatte eine „Artistenfakultät“, in der das studiert wurde, was wir heute als Philosophie bezeichnen. Anders als die Universität von Neapel unterstand sie jedoch der Autorität der Kirche und war bestens bekannt als ein Trainingsplatz für Theologen. Es war die Arbeit in der Theologischen Fakultät, die Thomas nach Paris führte, ungefähr um 1251.

 

Zunächst begann er mit einer Vorlesung über biblische Texte. Er unterrichtete Klassen in Isaias, und er könnte auch über Jeremias gelehrt haben. Dann legte er Vorlesungskommentare über die Sentenzen des Peter Lombardus (11001160) vor – eine Arbeit, die Mitte des 13. Jahrhunderts zu einem Standardtextbuch zur christlichen Lehre an der Universität geworden war.

 

Im Jahre 1256 wurde Thomas zu einem Magister in Theologie befördert, und seine Antrittsvorlesung in dieser Position konzentrierte sich auf das, von dem er annahm, dass die neue Aufgabe es von ihm forderte. Die Vorlesung diskutierte Psalm 103,13 (nach der Vulgata Psalm 104): „Wenn du den Berg von oben bewässerst, wird die Erde mit der Frucht deiner Werke erfüllt sein.“[2] Mit diesem Text im Gedächtnis achtete Thomas darauf, dass Lehrer der Theologie erklären sollten, was Gott geoffenbart hat, wobei man anerkennen sollte, dass die Worte das menschliche Verständnis übersteigen. Thomas sagte, dass Lehrer der Theologie moralisch gut sein sollten, außerdem gut informiert und in der Lage, gut zu argumentieren.[3]

 

Als Magister der Theologie hatte er Vorlesungen über die Bibel zu geben und Predigten zu halten. Ebenso war er verpflichtet, „Disputationen“ oder „disputierten Fragen“ (Quaestiones Disputatae) vorzustehen. Dies waren Debatten, die theologische Themen betrafen, in denen Argumente für und gegen verschiedene Schlussfolgerungen vorgestellt wurden, die dann von einem Magister kommentiert wurden. Viele Schriften Thomas von Aquins sind aus solchen Disputationen, an denen er teilnahm, hervorgegangen.

 

Um 1261 verließ Thomas Paris, um an dem Priorat der Dominikaner im italienischen Orvieto zu unterrichten. Im Jahre 1265 wurde er jedoch beauftragt, ein Studienhaus für Dominikaner in Santa Sabina in Rom zu gründen. Hier scheint er freie Hand für das bekommen zu haben, was er unterrichtete, obwohl er, einer traditionellen Routine folgend, mit Vorlesungen über Lombardus Sentenzen begann.

 

1268 kehrte Thomas als Magister der Theologie nach Paris zurück und blieb in dieser Stellung bis 1272, als er nach Neapel ging, um ein Studienhaus für Dominikaner zu gründen, während er gleichzeitig an der Universität Neapel lehrte. Während dieser Zeit fuhr er fort zu lehren und zu schreiben. Aber sein Gesundheitszustand begann sich bald zu verschlechtern und verschlechterte sich schnell weiter, als er versuchte, zum Zweiten Konzil von Lyon (12721274) zu reisen, zu dem er als theologischer Berater bestellt worden war. Er war offensichtlich schon krank, bevor er Neapel verließ, und wurde rasch noch kranker, als er nach Lyon zu reisen versuchte. Er starb in der Abtei von Fossanova am 7. März 1274. Die Ursache seines Todes ist unklar, obwohl oft vermutet wird, dass Thomas von Aquin an den Folgen eines Schlaganfalls oder eines allgemeinen physischen oder mentalen Zusammenbruchs als Folge seiner Überarbeitung gestorben ist.

 

 

Thomas von Aquins Schriften

 

Thomas könnte seine literarische Karriere schon zu seiner Zeit in Köln begonnen haben. Einige Gelehrte meinen, dass seine Schrift De Principiis Naturae (Über die Prinzipien der Natur) aus dieser Zeit stammen könnte. Wir dürfen aber sicher sein, dass seine Schreibleistung nach 1251 dramatisch angestiegen ist. Zwischen 1251 und 1274 war er außerordentlich produktiv. Er verfasste bis zu seinem Ende ungefähr 100 Schriften unterschiedlicher Länge. Einige sind direkt theologisch, während andere Schriften einen eher philosophischen Schwerpunkt haben oder Theologie und Philosophie miteinander verbinden.

 

Eine der kurzen philosophischen Arbeiten ist De Principiis Naturae. Auf der Grundlage von Aristoteles diskutiert diese Schrift Begriffe wie Veränderung, Natur und Kausalität. Vergleichbar mit De Principiis Naturae ist die Schrift De Ente et Essentia (Über das Sein und das Wesen), in der argumentiert wird, dass (a) eine Unterscheidung gemacht werden kann zwischen der Existenz gewisser Dinge (der bloßen Tatsache ihrer Existenz) und ihrem Wesen (was sie ihrer Natur nach sind), und dass (b) diese Unterscheidung nicht auf Gott zutrifft.

 

Im Hinblick auf Thomas längere Schriften mit philosophischen Themen kann sich der Leser den vielen Kommentaren zu Aristoteles zuwenden. Thomas kommentierte die folgenden aristotelischen Texte: Über die Seele, De sensu et sensibilibus, Über das Gedächtnis, Physik, Meteorologie, Kategorien und Hermeneutik, Analytica posteriora, Nikomachische Ethik, Politik, Metaphysik, Über die Himmel und Entstehen und Vergehen.[4] Zusammengenommen sind die Kommentare Thomas von Aquins zu Aristoteles eine außergewöhnliche Leistung. Sie sind umso bemerkenswerter, wenn wir im Blick behalten, dass Thomas niemals formal gebeten wurde, Vorlesungen zu Aristoteles zu halten. Und es ist bemerkenswert, dass moderne Aristotelesforscher dazu neigen, Thomas von Aquins Erläuterungen zu Aristoteles für sehr gute Kommentare zu halten, die dasjenige, was Aristoteles zu sagen hat, aufs deutlichste erklären.

 

Ebenso wie Thomas Aristoteles kommentierte, schrieb er auch das Liber de Causis (Buch über die Ursachen), über die Göttlichen Namen des Pseudo-Dionysius sowie De Trinitate (Über die Dreifaltigkeit) und über die Schrift De Hebdomadibus des Boethius (480524). Das Buch über die Ursachen ist die Arbeit eines unbekannten Autors, basierend auf den Elementen der Theologie des griechischen Philosophen Proklos (412485 v. Chr.). Auch die Schrift Über die göttlichen Namen stammt von einem Autor, den wir nicht kennen. Zu Zeiten Thomas von Aquins nahm man fälschlicherweise an, dass diese Schrift von Dionysius stamme, der im 17. Kapitel der Apostelgeschichte als ein Jünger des Apostels Paulus genannt wird. Seine moderne Bezeichnung ist daher „Pseudo-Dionysius“.[5] Boethius, dessen Einfluss auf Thomas bedeutsam ist, ist vor allem bekannt durch seine Schrift Trost der Philosophie, die Thomas aber nie kommentiert hat.

 

Zu den längsten theologischen Schriften Thomas von Aquins gehören seine Kommentare zur Bibel. Er schrieb Kommentare zu Isaias, Jeremias, Job, den Psalmen, Matthäus, Johannes, dem Römerbrief, dem Brief an die Galater, dem 1. und 2. Korintherbrief, dem Epheserbrief und dem 1. Brief an die Thessalonicher. Von Thomas wird oft behauptet, er habe allein philosophische Interessen gehabt. Dass dies nicht zutrifft, beweisen seine Bibelkommentare.

 

Wie schon weiter oben gesagt wurde, beinhalten seine Schriften Texte von Disputationen, über die er den Vorsitz führte. Als Erstes erschien De Veritate (Über die Wahrheit), eine Schrift, die aus den Jahren 12561259 stammt. Anschließend verfasste Thomas von Aquin eine Anzahl von Schriften unter dem Titel Disputierte Fragen, die ihm zugeschrieben werden. Sie umfassen De Potentia (Über Gottes Vermögen), De Anima (Über die Seele), De Spiritualibus Creaturis (Über die geistigen Geschöpfe), De Malo (Über das Böse), De Virtutibus (Über die Tugenden) und De Unione Verbi Incarnati (Über die Inkarnation).

 

Thomas von Aquin ist heute aber wahrscheinlich am besten bekannt durch seine Schriften Summa Contra Gentiles (künftig abgekürzt durch SCG) und die Summa Theologiae (künftig ST). Bei beiden handelt es sich um lange Abhandlungen, und Thomas starb, bevor er die zweite Schrift beenden konnte. Aber jede dieser Schriften führt uns ins Herz des thomistischen Denkens.

Aus dem Buch: Brian Davies: Thomas von Aquin. Eine kurze Einführung, ISBN 978-3-86838-214-3, Verlag editiones scholasticae 2019.



[1] Summa Theologiae 2a2ae. 188.6.

[2] Die Vulgata ist die lateinische Übersetzung der Bibel aus dem späten 4. Jahrhundert, die in großen Teilen vom hl. Hieronimus (347–420) stammt. Sie wurde im 13. Jahrhundert allgemein verwendet. Im 16. Jahrhundert wurde sie die offizielle lateinische Version der Bibel der katholischen Kirche.

[3] Zum Text von Thomas Einführungsvorlesung als Magister der Theologie vgl. Albert und Thomas: Selected Writings, translated, edited and introduced by Simon Tugwell (Paulist Press: New York and Mahwah, NJ, 1988).

[4] Eine vollständige Ausgabe der Werke des Aristoteles in deutscher Übersetzung erscheint im Akademie Verlag Berlin.

[5] Einige Schriften von Pseudo-Dionysius sind in deutscher Übersetzung erhältlich beim Verlag A. Hirsemann.

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen