Thomas von Aquin ist einer der größten christlichen Denker aller Zeiten. 1568 erklärte die römisch-katholische Kirche ihn zum Kirchenlehrer. Seine Schriften waren auch für Philosophen einflussreich, und nur wenige würden heute bestreiten, dass Thomas es verdient, den philosophischen Giganten zugeordnet zu werden, neben Platon (427–348 v. Chr.), René Descartes (1596–1650), Immanuel Kant (1724–1804) und Ludwig Wittgenstein (1989–1951).
Thomas von Aquins Leben
Thomas von Aquin war Italiener und wurde in einer
aristokratischen Familie geboren, deren Haus das Schloss Roccasecca war, das
zwischen Rom und Neapel lag. Sein Taufname war Thomas. „Von Aquin“ (de Aquino)
war sein Familienname. Er wurde geboren um 1224–1226.
Als er etwa fünf Jahre alt war, schickten ihn seine Eltern
zum Studium in die Abtei Monte Cassino, ein benediktinisches Kloster, das vom
heiligen Benedikt (480–547) selbst gegründet worden war. Hier wurde Thomas in
Schreiben und Grammatik unterrichtet. Ebenso wurde er in die Bibel und in die
Schriften von Theologen wie Augustinus von Hippo (354–430) und Gregor dem Großen (540–604) eingeführt. Wir können davon
ausgehen, dass Thomas als Schüler seine Lehrer in Monte Cassino durch sein
bemerkenswertes Talent beeindruckt hat.
Im Jahre 1239 verließ Thomas Monte Cassino, um sein Studium
an der heute sogenannten Universität Friedrichs II. in Neapel fortzusetzen.
Während dieser Zeit wurde Thomas in die Philosophie des Aristoteles (384–322 v. Chr.) eingeführt, dessen Ideen
ihn in großem Umfang beeinflusst haben.
Die Eltern Thomas von Aquins scheinen gehofft zu haben, dass
er schließlich Abt von Monte Cassino werden würde. Während seiner Studienzeit
in Neapel entschied er sich jedoch, sich einem neuen Orden anzuschließen: den
dominikanischen Brüdern, die vom hl. Dominikus Guzman (1170–1221) gegründet worden waren. Thomas
wurde Dominikaner, und zwar im Jahre 1242 oder 1243.
Wie andere Mönche auch, leben Dominikaner in Gemeinschaften,
deren Häuser üblicherweise als Priorate bezeichnet werden. Anders als andere
Mönche verbleiben Dominikaner jedoch nicht an einem einzigen Ort. Sie ziehen
von einem Priorat zum anderen, während sie ihrer Hauptbeschäftigung, dem
Predigen, nachkommen. Weil sie der Auffassung sind, dass das beste Predigen das
Ergebnis von Studium und Kontemplation ist, sind sie oft in akademischen
Kontexten tätig, etwa in Schulen und Universitäten, was die Tatsache erklärt,
dass Thomas heutzutage gut bekannt ist als Lehrer und Autor. Er stellte einmal
die Frage, wie der beste religiöse Orden beschaffen sein solle. Seine Antwort
lautete: „Religiöse Institute, die sich der Lehre und dem Predigen widmen,
haben die höchste Stellung.“[1]
Thomas’ Familie war dagegen, dass er Dominikaner wurde. Tatsächlich
setzten sie ihn für ungefähr ein Jahr in einer Art Hausarrest fest. Zum Ende
des Jahres 1248 jedoch konnte er zu seinen dominikanischen Brüdern zurückkehren
und lebte in Köln, wo er unter der Leitung von Albert dem Großen (1206–1280) studierte, für den er als
Sekretär tätig war. Im Jahre 1248 galt Albert als einer der berühmtesten Stars
der akademischen Dominikaner, und wir besitzen Abschriften von Vorlesungen
Alberts aus der Hand Thomas von Aquins.
Thomas von Aquins intellektuelle Fähigkeiten wurden von
Albert gut erkannt. Zur rechten Zeit sandten ihn deshalb seine Oberen an die
Universität Paris, auf dass er dort unterrichte. Paris war eines der wenigen
mittelalterlichen Studienzentren mit internationaler Reputation. Die Universität
hatte eine „Artistenfakultät“, in der das studiert wurde, was wir heute als
Philosophie bezeichnen. Anders als die Universität von Neapel unterstand sie
jedoch der Autorität der Kirche und war bestens bekannt als ein Trainingsplatz
für Theologen. Es war die Arbeit in der Theologischen Fakultät, die Thomas nach
Paris führte, ungefähr um 1251.
Zunächst begann er mit einer Vorlesung über biblische Texte.
Er unterrichtete Klassen in Isaias,
und er könnte auch über Jeremias
gelehrt haben. Dann legte er Vorlesungskommentare über die Sentenzen des Peter Lombardus (1100–1160) vor – eine Arbeit, die Mitte
des 13. Jahrhunderts zu einem Standardtextbuch zur christlichen Lehre an der
Universität geworden war.
Im Jahre 1256 wurde Thomas zu einem Magister in Theologie
befördert, und seine Antrittsvorlesung in dieser Position konzentrierte sich auf
das, von dem er annahm, dass die neue Aufgabe es von ihm forderte. Die
Vorlesung diskutierte Psalm 103,13 (nach der Vulgata Psalm 104): „Wenn du den
Berg von oben bewässerst, wird die Erde mit der Frucht deiner Werke erfüllt
sein.“[2]
Mit diesem Text im Gedächtnis achtete Thomas darauf, dass Lehrer der Theologie
erklären sollten, was Gott geoffenbart hat, wobei man anerkennen sollte, dass
die Worte das menschliche Verständnis übersteigen. Thomas sagte, dass Lehrer
der Theologie moralisch gut sein sollten, außerdem gut informiert und in der
Lage, gut zu argumentieren.[3]
Als Magister der Theologie hatte er Vorlesungen über die
Bibel zu geben und Predigten zu halten. Ebenso war er verpflichtet, „Disputationen“
oder „disputierten Fragen“ (Quaestiones
Disputatae) vorzustehen. Dies waren Debatten, die theologische Themen
betrafen, in denen Argumente für und gegen verschiedene Schlussfolgerungen
vorgestellt wurden, die dann von einem Magister kommentiert wurden. Viele
Schriften Thomas von Aquins sind aus solchen Disputationen, an denen er
teilnahm, hervorgegangen.
Um 1261 verließ Thomas Paris, um an dem Priorat der
Dominikaner im italienischen Orvieto zu unterrichten. Im Jahre 1265 wurde er
jedoch beauftragt, ein Studienhaus für Dominikaner in Santa Sabina in Rom zu
gründen. Hier scheint er freie Hand für das bekommen zu haben, was er
unterrichtete, obwohl er, einer traditionellen Routine folgend, mit Vorlesungen
über Lombardus’ Sentenzen begann.
1268 kehrte Thomas als Magister der Theologie nach Paris zurück
und blieb in dieser Stellung bis 1272, als er nach Neapel ging, um ein
Studienhaus für Dominikaner zu gründen, während er gleichzeitig an der
Universität Neapel lehrte. Während dieser Zeit fuhr er fort zu lehren und zu
schreiben. Aber sein Gesundheitszustand begann sich bald zu verschlechtern und
verschlechterte sich schnell weiter, als er versuchte, zum Zweiten Konzil von
Lyon (1272–1274) zu
reisen, zu dem er als theologischer Berater bestellt worden war. Er war
offensichtlich schon krank, bevor er Neapel verließ, und wurde rasch noch
kranker, als er nach Lyon zu reisen versuchte. Er starb in der Abtei von
Fossanova am 7. März 1274. Die Ursache seines Todes ist unklar, obwohl oft
vermutet wird, dass Thomas von Aquin an den Folgen eines Schlaganfalls oder
eines allgemeinen physischen oder mentalen Zusammenbruchs als Folge seiner
Überarbeitung gestorben ist.
Thomas von Aquins Schriften
Thomas könnte seine literarische Karriere schon zu seiner
Zeit in Köln begonnen haben. Einige Gelehrte meinen, dass seine Schrift De Principiis Naturae (Über die Prinzipien der Natur) aus
dieser Zeit stammen könnte. Wir dürfen aber sicher sein, dass seine Schreibleistung
nach 1251 dramatisch angestiegen ist. Zwischen 1251 und 1274 war er
außerordentlich produktiv. Er verfasste bis zu seinem Ende ungefähr 100
Schriften unterschiedlicher Länge. Einige sind direkt theologisch, während
andere Schriften einen eher philosophischen Schwerpunkt haben oder Theologie
und Philosophie miteinander verbinden.
Eine der kurzen philosophischen Arbeiten ist De Principiis Naturae. Auf der Grundlage
von Aristoteles diskutiert diese Schrift Begriffe wie Veränderung, Natur und Kausalität.
Vergleichbar mit De Principiis Naturae ist
die Schrift De Ente et Essentia (Über das Sein und das Wesen), in der
argumentiert wird, dass (a) eine Unterscheidung gemacht werden kann zwischen
der Existenz gewisser Dinge (der bloßen Tatsache ihrer Existenz) und ihrem
Wesen (was sie ihrer Natur nach sind), und dass (b) diese Unterscheidung nicht
auf Gott zutrifft.
Im Hinblick auf Thomas’ längere Schriften mit philosophischen Themen kann sich der Leser
den vielen Kommentaren zu Aristoteles zuwenden. Thomas kommentierte die
folgenden aristotelischen Texte: Über die
Seele, De sensu et sensibilibus, Über das Gedächtnis, Physik, Meteorologie,
Kategorien und Hermeneutik, Analytica posteriora, Nikomachische Ethik, Politik,
Metaphysik, Über die Himmel und
Entstehen und Vergehen.[4]
Zusammengenommen sind die Kommentare Thomas von Aquins zu Aristoteles eine
außergewöhnliche Leistung. Sie sind umso bemerkenswerter, wenn wir im Blick
behalten, dass Thomas niemals formal gebeten wurde, Vorlesungen zu Aristoteles
zu halten. Und es ist bemerkenswert, dass moderne Aristotelesforscher dazu
neigen, Thomas von Aquins Erläuterungen zu Aristoteles für sehr gute Kommentare
zu halten, die dasjenige, was Aristoteles zu sagen hat, aufs deutlichste erklären.
Ebenso wie Thomas Aristoteles kommentierte, schrieb er auch
das Liber de Causis (Buch über die Ursachen), über die Göttlichen Namen des Pseudo-Dionysius sowie
De Trinitate (Über die
Dreifaltigkeit) und über die Schrift De
Hebdomadibus des Boethius (480–524). Das Buch über die
Ursachen ist die Arbeit eines unbekannten Autors, basierend auf den Elementen der Theologie des griechischen
Philosophen Proklos (412–485 v. Chr.). Auch die Schrift Über die göttlichen Namen stammt von einem Autor, den wir nicht
kennen. Zu Zeiten Thomas von Aquins nahm man fälschlicherweise an, dass diese
Schrift von Dionysius stamme, der im 17. Kapitel der Apostelgeschichte als ein
Jünger des Apostels Paulus genannt wird. Seine moderne Bezeichnung ist daher „Pseudo-Dionysius“.[5]
Boethius, dessen Einfluss auf Thomas bedeutsam ist, ist vor allem bekannt durch
seine Schrift Trost der Philosophie,
die Thomas aber nie kommentiert hat.
Zu den längsten theologischen Schriften Thomas von Aquins
gehören seine Kommentare zur Bibel. Er schrieb Kommentare zu Isaias, Jeremias,
Job, den Psalmen, Matthäus, Johannes, dem Römerbrief, dem Brief an die Galater,
dem 1. und 2. Korintherbrief, dem Epheserbrief und dem 1. Brief an die
Thessalonicher. Von Thomas wird oft behauptet, er habe allein philosophische
Interessen gehabt. Dass dies nicht zutrifft, beweisen seine Bibelkommentare.
Wie schon weiter oben gesagt wurde, beinhalten seine
Schriften Texte von Disputationen, über die er den Vorsitz führte. Als Erstes
erschien De Veritate (Über die
Wahrheit), eine Schrift, die aus den Jahren 1256–1259 stammt. Anschließend verfasste
Thomas von Aquin eine Anzahl von Schriften unter dem Titel Disputierte Fragen, die ihm zugeschrieben werden. Sie umfassen De Potentia (Über Gottes Vermögen), De
Anima (Über die Seele), De Spiritualibus Creaturis (Über die geistigen Geschöpfe), De Malo (Über das Böse), De Virtutibus
(Über die Tugenden) und De Unione Verbi Incarnati (Über die Inkarnation).
Thomas von Aquin ist heute aber wahrscheinlich am besten bekannt
durch seine Schriften Summa Contra
Gentiles (künftig abgekürzt durch SCG) und die Summa Theologiae (künftig ST). Bei beiden handelt es sich um lange
Abhandlungen, und Thomas starb, bevor er die zweite Schrift beenden konnte.
Aber jede dieser Schriften führt uns ins Herz des thomistischen Denkens.
Aus dem Buch: Brian Davies: Thomas von Aquin. Eine kurze Einführung, ISBN 978-3-86838-214-3, Verlag editiones scholasticae 2019.
[1] Summa Theologiae
2a2ae. 188.6.
[2] Die Vulgata ist die lateinische Übersetzung der Bibel
aus dem späten 4. Jahrhundert, die in großen Teilen vom hl. Hieronimus (347–420) stammt. Sie wurde im 13. Jahrhundert allgemein
verwendet. Im 16. Jahrhundert wurde sie die offizielle lateinische Version der
Bibel der katholischen Kirche.
[3] Zum Text von
Thomas’ Einführungsvorlesung als Magister der Theologie vgl.
Albert und Thomas: Selected Writings, translated, edited and introduced by
Simon Tugwell (Paulist Press: New York and Mahwah, NJ, 1988).
[4] Eine vollständige Ausgabe der Werke des Aristoteles in
deutscher Übersetzung erscheint im Akademie Verlag Berlin.
[5] Einige Schriften von Pseudo-Dionysius sind in
deutscher Übersetzung erhältlich beim Verlag A. Hirsemann.
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