Popper ist der Auffassung, dass der Essentialismus mit der
Auffassung verbunden ist, das Wissenschaften nach letzten Erklärungen suchen.
Eine Erklärung, die sich auf Wesenheiten bezieht, ist für Popper „obskur“ und „hilft
uns nicht nur nicht weiter, sondern behindert uns“, weil sie weitere Forschung
ausschließt. Demgegenüber meint Popper, dass wir weiter und immer tiefer die
Struktur unserer Welt untersuchen müssen, wobei wir Eigenschaften der Welt
entdecken sollten, die immer wesentlicher sind und immer tiefer liegen. Gleichsam
Wissenschaft als Prozess ohne Ende.
Wenn es tatsächlich wahr wäre, dass der Glaube an
Wesenheiten uns daran hindert, weitere Untersuchungen und Forschungen
voranzutreiben und immer weiter und tiefer nachzuforschen, wäre dies natürlich noch
kein Beweis gegen die Existenz von Wesenheiten. Wenn es tatsächlich andere Argumente
für die Existenz von Wesenheiten gibt
(und die gibt es, wie u.a. in diesem Blog gezeigt), dann könnte man sich immer
noch dazu entschließen, Wege zu finden, wie man das Problem umgeht, dass diese
uns bei der wissenschaftlichen Forschung behindert.
Allerdings ist das, was Popper sagt, nicht wahr. Schon rein
historisch lässt sich belegen, dass Wesenheiten die wissenschaftliche Forschung
alles andere als behindert haben (vgl. David Oderberg: Real Essentialism).
Im Gegenteil würden auch Vertreter des „neuen Essentialismus“ behaupten, dass
die Annahme von Wesenheiten wissenschaftliche Forschung sogar befördert und
immer befördert hat. Darauf habe ich im letzten Blogbetrag hingewiesen.
Es ist schlicht falsch, dass die Bestimmung eines Dinges in seiner Wesenheit
dazu führt, wissenschaftliche Forschung einzustellen und sich zur Ruhe zu
setzen. So wird doch niemand aufhören weiter zu forschen, wenn man feststellt,
dass es wesentlich für Wasser ist, aus Wasserstoff und Sauerstoff
zusammengesetzt zu sein. Zudem ist es dogmatisch, grundsätzlich auszuschließen,
dass es eine letzte Erklärung geben könnte, die weitere wissenschaftliche
Forschung nicht nötig macht.
Schließlich gibt es noch Poppers Mahnung gegen den Essentialismus,
dass es in der Forschung darauf ankommt, ersthafte Fragen nach Tatsachen zu
stellen und uns nicht mit Problemen von Worten und deren Bedeutung zu
beschäftigen. Diese Ermahnung betrifft allerdings das
aristotelisch-scholastische Verständnis der Wesenheiten nicht, denn diese
werden als reale Entitäten, als „Tatsachen“ verstanden. Die Mahnung mag auf den
Rationalismus zutreffen oder auf bestimmte Formen oder Richtungen der frühen
analytischen Philosophie, die davon ausging, dass die Probleme der Philosophie
durch Sprachanalyse gelöst werden können.
Auch Wittgenstein hat gegen den Essentialismus argumentiert
und zwar mehr oder weniger indirekt mit seinen Bemerkungen zu Spielen und
Familienähnlichkeit. Nach Wittgenstein gibt es kein Merkmal, dass allen Spielen
gemeinsam zukommt, sondern bestenfalls bestimmte sich überlappende
Ähnlichkeiten, wie sie sich auch bei den Mitgliedern ein und derselben Familie
finden. Diese Ähnlichkeit kann uns zwar dazu verführen anzunehmen, dass es ein
gemeinsames Merkmal aller Spiele gibt, doch dies ist nicht der Fall. Dies
bedeutet, mit anderen Worten, dass Spiele nicht definierbar sind, bzw. keine
gemeinsame Wesenheit haben. Und in Weiterführung dieses Arguments wird dann
behauptet, dass dies auch bei anderen Dingen der Fall ist: sie haben eine
bestimmte Familienähnlichkeit, aber keine Wesenheit, auch wenn wir solche
Ähnlichkeiten dann unter einen bestimmten Begriff bzw. unter eine Wesenheit
subsummieren. Was Dinge wirklich sind, kann uns nach Wittgenstein nur die „Grammatik“
zeigen (wobei er ein ganz bestimmtes Verständnis von „Grammatik“ hat, das von
dem üblichen Verständnis sehr verschieden ist).
Verschiedene Philosophen haben gegen die Behauptung, es gäbe
kein gemeinsames Merkmal aller Spiele Einwände vorgebracht, indem sie auf
solche Merkmale verwiesen haben. Für die Widerlegung Wittgensteins ist dies
aber irrelevant. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass Spiele keine natürlichen
Arten sind, sondern Artefakte, also vom Menschen hervorgebrachte Entitäten. Und
bei diesen spielt der Zweck, für den sie hergestellt werden, eine zentrale
Rolle, wodurch häufig Schwierigkeiten entstehen, Artefakte zu definieren oder
ein gemeinsames Merkmal zu finden, dass allen Artefakten einer bestimmten Art
zukommt. Hätte Wittgenstein eine natürliche Art als Beispiel verwendet, wäre es
viel schwieriger gewesen, hier kein gemeinsames Merkmal zu finden. Vor allem
würde ein Aristoteliker nicht mit der Voraussetzung übereinstimmen, dass es die
„Grammatik“ ist, die uns sagt, was die Dinge in einem metaphysischen Sinne sind
oder dass die „Grammatik“ überhaupt metaphysische Probleme zu lösen vermag.
Das Beispiel Wittgenstein verweist bestenfalls auf ein
Problem, dass heute unter dem Titel „Vagheit“ diskutiert wird und das auch
häufig gegen den Essentialismus vorgebracht wird. Auf dieses Problem bin ich
bereits in einem früheren Blogbeitrag eingegangen.
Es hat nun nichts mit hiesigem Beitrag zu tun, aber ich erlaube mir als "Stammleser" dieses blogs dann doch mal, auf meine eigene Seite hinzuweisen. Wenngleich nicht auf dem hier gewohnten Niveau, versuche ich trotzdem, ebenfalls den hl. Thomas mit seiner Theologie und Philosophie unter das Volk zu bringen. Dabei bediene ich mich auch immer wieder gerne u.a. bei Edward Feser. Vielleicht interessiert es ja. Mein jüngster Beitrag dazu findet sich hier.
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