Die scholastische Philosophie spricht von zwei verschiedenen
Arten der Materie, der materia prima, manchmal auf Deutsch auch als „Urmaterie“
bezeichnet, und der sekundären Materie. Sekundäre Materie ist eine Materie mit
einer substanziellen Form, also all das, was wir im alltäglichen Sprachgebrauch
als Materie bezeichnen, wie Holz, Eisen, Plastik, Wasser usw. Die sekundäre
Materie ist die Grundlage der akzidentellen Veränderung. Wenn jemand aus Holz
eine Weihnachtsfigur schnitzt, dann ist dies in ontologischer Hinsicht eine
akzidentelle Veränderung, denn der bereits aus Materie und Form
zusammengesetzte Ast eines Baumes wird eine Figur. Die Urmaterie, bzw. die
materia prima hat absolut keine Form.
Die prima materia ist nicht ein irgendwie bestimmtes Ding.
Sie ist vollkommen unbestimmt, reine Potenz für die Aufnahme der Form. Diese
Materie ist die Grundlage der substanziellen Veränderung.
Obwohl die materia prima kein Ding ist, das man besichtigen
könnte, weil es sie nicht irgendwo als solche gibt, ist die dennoch ein realer
Bestandteil der Welt. Sie existiert aber nicht getrennt von der Form, ebenso
wenig, wie die Potenz getrennt vom Akt existieren kann. Ohne jede Form würde
die materia prima nicht existieren.
Wegen dieser schweren Vorstellbarkeit der Urmaterie und auch
aus anderen Gründen gab es schon früh und bis in unsere Zeit von anderen
philosophischen Ansätzen her Kritik an diesem Begriff. Diese kritischen
Einwände können uns helfen, die materia prima besser zu verstehen. Wenn man
keine Urmaterie als Grundlage der substanziellen Veränderung annimmt, gibt es
zwei Alternativen, mit deren Hilfe man substanzielle Veränderungen zu erklären
versucht. Zunächst kann man annehmen, dass es eine irgendwie rudimentäre Art
der Materie gibt, die aber bereits eine Form hat oder dass es eine solche
grundlegende Materie überhaupt nicht braucht, um Veränderungen zu erklären. Die
erste Alternative findet sich bereits in der Scholastik selbst, z.B. bei Duns
Scotus oder später bei Suarez, die zweite Alternative wird auch heute oft
vertreten. Schauen wir uns die Argumente genauer an.
Die Alternative, mit einer bestimmten rudimentären Art der
sekundären Materie die Veränderung zu erklären ist, besonders in Hinblick auf
die Frage der Begrenzung, nicht möglich. Eine sekundäre Materie, welcher Art
auch immer (Atome, subatomare Teilchen) hat eine Form. Was auch immer diese
Form ist, es stellt sich dann die Frage, warum sie genau in der Weise begrenzt
ist, wie sie es ist. Nehmen wir an, die rudimentäre Art der sekundären Materie
bestehe aus Partikeln der Form F. Was begrenzt F in der raumzeitlichen
Begrenzung die F hat? Wenn man auf eine noch grundlegendere sekundäre Materie
als F verweist, entsteht dasselbe Problem mit dieser sekundären Materie. Eine
Begrenzung der Form z.B. auf eine bestimmte raumzeitliche Lokalisierung
erfordert eine völlig unbestimmte, rein potenzielle Materie. Kurz
zusammengefasst lautet das Argument: Eine sekundäre Materie ist schon begrenzt,
deshalb ist sie sekundär. Doch warum ist sie begrenzt? Durch eine andere
sekundäre Materie? Aber wodurch ist diese begrenzt?
Es gibt auch ein Argument gegen die Auffassung, dass eine
rudimentäre sekundäre Materie die Grundlage der Veränderung ist. Es gibt keinen
empirischen Grund für die Annahme einer rudimentären sekundären Materie. Quarks
z.B. können selbst substanziell verändert werden, worauf David Oderberg (2007,
64) hingewiesen hat. Es muss aber etwas geben, dass bei einer substanziellen
Veränderung dieser Veränderung zugrunde liegt, denn sonst ist es keine Veränderung,
sondern die totale Vernichtung des eines Dinges und die totale Neuentstehung
eines anderen Dinges und das ist keine Veränderung. Nehmen wir hier wieder an,
dass die rudimentäre sekundäre Materie aus bestimmten Partikeln der Form F
besteht. Allein durch die Tatsache, dass diese Partikel die Form F haben und
nicht G oder H wissen wir bereits, dass diese Partikel begrenzt sind, denn es
sind F-Partikel und nicht gleichzeitig G- und H-Partikel. Es sind diese
Partikel und nicht jene. Ihre Aktualität ist deshalb auf jeden Fall weniger als
reine Aktualität. Nun existiert aber ein Ding, das weniger als reine Aktualität
ist, nicht notwendigerweise, d.h. es könnte auch nicht existieren, es könnte
zerstört werden und es muss auch irgendwann einmal nicht existiert haben. In
diesem Fall muss es aber etwas geben, was diesen Veränderungen zugrunde liegt.
Und wenn man dieses Zugrundeliegende in einer noch fundamentaleren Art rudimentärer
sekundärer Materie sieht, verschiebt dies nur das Problem, denn an diese
fundamentalere Materie kann man die gleiche Frage stellen.
Es gibt also keine Alternative zur prima materia auf der
Grundlage einer rudimentären sekundären Materie. Doch man könnte einfach
bestreiten, dass es bei der Veränderung eines zugrundeliegenden Prinzips
bedarf, dass es etwas gibt, was bei aller Veränderung gleich bleibt. Diese
Auffassung, die als „Aktualismus“ bezeichnet wird, ist in der
Gegenwartsphilosophie vorherrschend. Doch eine solche Auffassung bestreitet
schlicht, dass es überhaupt Veränderung gibt. Denn in diesem Fall besteht die
Veränderung nicht darin, dass ein Ding eine Form verliert und eine andere
annimmt und es etwas gibt, dass dabei zugrunde liegt, sondern das ein Ding
vollständig zugrunde geht und ein Anderes zu existieren beginnt. Wenn z.B.
Wasserstoff und Sauerstoff verbunden werden und die Form von Wasser annehmen,
würden die Formen von Sauerstoff und Wasserstoff nicht nur ihre Form verlieren
und die neue Form von Wasser annehmen, sondern auch die zugrundeliegende
Materie würde vernichtet und Wasser würde unmittelbar an dessen Stelle treten.
Es war wieder David Oderberg (2007, 74) der gezeigt hat,
dass ein Problem mit dieser Überlegung darin besteht, dass es das erste Gesetz
der Thermodynamik verletzt, nach dem Energie weder erschaffen noch zerstört
wird. Es gibt aber auch noch fundamentalere metaphysische Probleme mit dem
Aktualismus. Wenn es keine Veränderung gibt, sondern nur Vernichtung und
Neuentstehung, warum gibt es dann zumindest den Anschein einer Kontinuität?
Warum wird Wasserstoff und Sauerstoff immer durch Wasser ersetzt und nicht
durch etwas anderes, eine Vogel, einem Flugzeug, Superman oder durch gar
nichts? Ohne ein persistierendes Substrat einer Veränderung wären die Dinge
inhärent „lose und getrennt“ im Sinne von David Hume, so dass das Eine genauso
gut erscheinen könnte, wie etwas Anderes. Doch ist dies nicht wirklich die Art
und Weise, wie unsere Welt funktioniert. Jedes Stadium einer Veränderung erzwingt
das, was darauf folgt und dies weist darauf hin, dass es etwas gibt, das
weiterbesteht.
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