Der Präsentismus vertritt die Auffassung, dass innerhalb des zeitlichen Bereichs nur die Gegenwart existiert und dass Vergangenheit und Zukunft nicht existieren. Alex Pruss ist der Meinung, dass Aristoteliker keine Präsentisten sein sollten. Das wäre eine Neuigkeit für Aristoteles, Thomas von Aquin und andere aristotelische Präsentisten. Ich stimme eher mit ihnen als mit Alex Pruss überein, und ich denke, dass der Präsentismus tatsächlich die natürliche Sichtweise ist, die man einnehmen sollte, wenn man eine aristotelische Sichtweise auf die Natur der physischen Realität hat und insbesondere im Blick auf die Natur der Zeit. Ich erkläre das alles ausführlich in Aristoteles' Revenge. An dieser Stelle möchte ich nur kurz versuchen, die allgemeine Idee zu vermitteln.
Erinnern wir uns daran, dass die Veränderung für den Aristoteliker die Aktualisierung eines Potenzials bedeutet. Wenn zum Beispiel eine grüne Banane reift und gelb wird, wird das Potenzial der Banane, gelb zu sein, aktualisiert und wenn sie später anfängt zu verrotten und braun wird, wird ihr Potenzial, braun zu sein, aktualisiert. Nun ist Zeit für den Aristoteliker nur das Maß der Veränderung in Bezug auf das Früher oder Später. Wenn wir sagen, dass es eine Woche gedauert hat, bis eine Banane gereift und dann verrottet ist, messen wir die Geschwindigkeit, mit der diese Veränderungen aufeinander folgten. Die Veränderung trägt also die Zeit huckepack.
Daher ist die materielle Welt ist eine zeitliche Welt, gerade weil sie eine veränderliche Welt ist. Für den Aristoteliker ist die Materie die Potenz der Form, und die Veränderung ist die Verwirklichung dieser Potenz – die Materie nimmt neue Formen an, die die bisher vorhandenen ersetzen. Die Zeit vergeht tatsächlich nur so lange, wie diese Verdrängung stattfindet. Weil Gott reine Aktualität ohne Potentialität ist, ist seine Existenzweise streng ewig oder zeitlos und nicht zeitlich.
Engel gehören zu einem seltsamen Mittelweg. Weil sie immateriell sind, sind Engel, anders als physische Objekte, unvergänglich. Sie haben nichts, was die substantielle Form verlieren kann, was dann geschieht, wenn eine physische Substanz zugrunde geht. Da sie also immateriell sind, sind sie nicht in der Zeit. Dennoch müssen Engel, wie wir auch, geschaffen werden, und sie können etwas Analoges wie eine Veränderung zeigen, nur eben geistiger Art. Daher sind sie auch nicht ewig. Dieser Mittelweg zwischen Zeitlichkeit und Ewigkeit wird als Äviternität bezeichnet.
Angenommen, Gott erschafft ein physisches Universum mit nur einer einzigen Entität, einer unreifen grünen Banane. Angenommen, er tut dies so, dass seine natürlichen Neigungen auf wundersame Weise aufgehoben werden. Zum Beispiel beginnt sie nicht zu reifen. Sie ist veränderbar, aber ihre Möglichkeiten werden nicht realisiert, so dass es tatsächlich keine Veränderung gibt.
Aus diesem Grund gibt es auch keinen Zeitablauf in dieser imaginären Welt. Daher gibt es keine vergangenen oder zukünftigen Ereignisse. Gibt es eine Gegenwart? Sicherlich gibt es diese, denn da dies eine materielle Welt ist, sprechen wir nicht über die Ewigkeit und wir sprechen nicht über die Ävernität. Wir sprechen über die dritte Alternative, eine zeitliche Welt. Es ist eben nur eine Welt, in der die Zeit ausgesetzt wurde – gerade weil der Wandel ausgesetzt wurde - und nicht eine Welt, die ganz zeitlos ist. Es ist jetzt in dieser Welt, auch wenn das, was jetzt ist, nie Vergangenheit wird. Aus diesem Grund ist es eine gegenwärtige Welt, da die Gegenwart existiert und Vergangenheit und Zukunft nicht existieren....
Nehmen wir nun an, dass die Veränderung nicht ausgesetzt wird und die Banane zu reifen beginnt. Sie geht von grün zu gelb. Das bedeutet, dass sie ihre Grüne verloren hat und Gelb angenommen hat und das wiederum läuft darauf hinaus, dass sie nicht mehr nur potenziell gelb ist, sondern aktual gelb und nicht mehr aktual grün. Und wenn der Prozess weitergeht bis die Banane verrottet, wird die Banane schließlich ihr Potenzial, braun zu werden, verwirklichen. In diesem Fall haben wir einen Verlauf der Zeit.
Während die Banane aber noch gelb ist, existiert da die Zukunft, der braune Zustand der Banane? Natürlich nicht, denn die Bräune ist zu diesem Zeitpunkt noch in der Banane nur potentiell, nicht wirklich. Der zukünftige Zustand der Banane existiert in diesem Szenario nicht mehr als im ersten Szenario, in dem die Veränderung ausgesetzt wurde. Es genügt keineswegs, dass sich in diesem zweiten Szenario ein Wandel und damit eine zeitliche Passage vollzieht, um wahr zu machen, dass zukünftige Dinge und Ereignisse existieren. Sie werden existieren, aber bis die Möglichkeiten verwirklicht sind, existieren sie nicht.
Aber was ist mit der Vergangenheit, wie z.B. dass die Banane grün ist? Gibt es das Grünsein der Banane nachdem sie gelb geworden ist? Wie könnte das sein? Nachdem die Banane gelb geworden ist, ist ihr Grün zu diesem Zeitpunkt nicht mehr aktuell, nicht mehr aktuell als die Bräune. Daher existiert das Grünsein ebenso wenig, wie die Bräune. Das Grün existierte, so wie die Bräune existieren wird. Aber keines von beiden existiert. Die Vergangenheit, wie auch die Zukunft, existiert in diesem Szenario ebenso wenig wie im ersten Szenario, in dem die Veränderung ausgesetzt wurde. Auch in diesem Szenario haben wir also eine präsentistische Welt. Aber die tatsächliche Welt ist in allen relevanten Aspekten wie dieses zweite Szenario. Es ist nur so, dass es in der heutigen Welt viel mehr Dinge gibt als eine einzelne Banane. Die aktuale Welt ist also eine präsentistische Welt.
Nun, bisher habe ich ein weiteres, wesentliches Element des aristotelischen Zeittheorie nur implizit erwähnt und ich es explizit mache, wird dies dazu beitragen, besser zu verstehen, woher die Illusion kommt, dass vergangene und zukünftige Ereignisse existieren. Erinnern Sie sich, dass ich gesagt habe, dass die Zeit das Maß der Veränderung in Bezug auf ein Früher oder Später ist. Wer führt die Messung durch? Die Antwort ist, dass unser Verstand die Messung durchführt. In einem gewissen Sinne kann man also sagen, dass die Zeit vom Verstand abhängig ist. Die Qualifizierung „in gewisser Weise“ ist jedoch entscheidend, denn die aristotelische Sicht auf die Zeit ist keine idealistische.
Der beste Weg um dies verstehen besteht darin, dies in Analogie zur aristotelischen Position zu den Universalien zu betrachten. Für den Aristoteliker existiert eine Universalie wie das Dreieck nicht als platonische Form in einem eigenen Reich, das sich von konkreten Individuen auf der einen Seite und dem Geist auf der anderen Seite unterscheidet. Sie existiert nur, wenn der Verstand sie von konkreten individuellen Dreiecken abstrahiert. Gleichzeitig ist es keine freie Schöpfung des Geistes. Dreieckigkeit ist wirklich vorhanden in den konkreten einzelnen Dreiecken, aber sie vermischt sich sozusagen mit ihren individualisierenden Merkmalen, anstatt dort qua Universalie zu existieren. Die aristotelische Sichtweise ist nicht platonistisch, aber sie ist auch nicht nominalistisch.
Sofern es um die Zeit geht, lehnt der Aristoteliker die idealistische Ansicht ab, dass die Zeit ganz und gar eine Schöpfung des Geistes ist, ebenso wie er die nominalistische Auffassung ablehnt, dass Universalien freie Schöpfungen des Geistes sind. Aber der Aristoteliker akzeptiert auch nicht die Auffassung, dass Zeit als eine Art eigenständige Substanz existiert, ganz unabhängig von der Welt der Veränderung, wie es der newtonsche Absolutist tut. Das wäre für den Aristoteliker vergleichbar mit dem platonischen Fehler, Universalien als eigenständige Substanzen zu betrachten, die ihr eigenes, unverwechselbares Reich haben. Von Zeit zu sprechen, als ob sie ganz unabhängig von Veränderung und unabhängig vom Denken, das die Veränderung misst, existiert, ist wie von Dreieckigkeit zu sprechen, als ob es eine platonische Form wäre, die ganz unabhängig von allen konkreten individuellen Dreiecken und allen Gedanken existiert.
Etwas, das passieren kann, wenn wir damit beginnen, die Zeit auf diese Weise zu platonisieren, besteht darin, dass wir die Einheiten, mit denen der Verstand die Veränderung misst - Sekunden, Minuten, Stunden, Tage, Monate, Jahre usw. – verdinglichen. Zum Beispiel fangen wir an, über den letzten Monat oder über das Jahr 1947 so zu sprechen, als ob es sich um eine Entität handeln würde, die wir in irgendeiner Weise in die Vergangenheit und in den nächsten Monat verschoben haben und das Jahr 2047, als wäre es ebenfalls eine Entitäten, aber eine solche, zu der wir noch nicht hingekommen sind. Wir konkretisieren Abstraktionen, wie wir es tun, wenn wir über die Form der Dreieckigkeit sprechen.
Dies wird noch verstärkt durch die Tendenz in der Physik, mathematische Modelle der physikalischen Realität mit der physikalischen Realität selbst zu verwechseln. Wie auch der Raum in der Physik dazu neigt, in hochabstrakter mathematischer Weise dargestellt zu werden, erleichtert die hochabstrakte mathematische Darstellung der Zeit, mit der die Physik arbeitet, das Denken der Zeit als raumartig aufzufassen, was die Tendenz, alle Zeitmomente als irgendwie gleich real zu betrachten, weiter verschärft. Aus aristotelischer Sicht sind dies alles nur Variationen des gleichen platonischen Fehlers. Die B-Theorie der Zeit, Spekulationen über die Möglichkeit von Zeitreisen und andere Exotika, die aus der zeitgenössischen Literatur zur Philosophie der Zeit bekannt sind, haben unterschiedliche philosophische Motivationen – auch philosophische, die als wissenschaftliche getarnt sind -, aber ein großer Teil der Geschichte besteht in diesem grundlegende Fehler (wie der Aristoteliker es sieht) der Verdinglichung von Abstraktionen. (Noch einmal wiederholt, diese Punkte sind alle in Aristoteles' Revenge ausführlich entwickelt).
Lassen Sie mich nun auf den Einwand von Alex Pruss eingehen. Alex schreibt:
Eine grundlegende Verpflichtung der aristotelischen Philosophie besteht darin, dass alle Tatsachen existieren, die in Substanzen und Merkmalen gegründet sind, die den Substanzen innewohnen, nämlich Formen und Akzidentien. Aber es ist möglich, dass die Vergangenheit anders war, ohne dass es einen Unterschied darin gibt, welche Substanzen und Merkmale von Substanzen gegenwärtig existieren. Daher kann der Aristoteliker die gegenwärtige Existenz nicht mit der Existenz gleichsetzen.
Mit anderen Worten, die Aristoteliker können sich den Standardargumenten gegen den Präsentismus nicht entziehen.
Ende des Zitats. Was er mit „den Standardargumenten gegen den Präsentismus“ im Sinn hat, sind Argumente wie der Einwand auf Grundlage von Wahrmachern (truthmakers) und der Einwand, dass Relationen Existenz beinhalten, die ich in meinem jüngsten Austausch mit Bill Vallicella diskutiert habe.
Nun hat Alex Recht, dass der Aristoteliker Tatsachen in existierende Substanzen und Eigenschaften gründet. Aber er irrt, wenn er annimmt, dass diese These so gelesen werden muss, dass sie für den Präsentisten problematisch wäre. Dass Aristoteliker wie Aristoteles und Aquinas selbst Präsentisten waren, sollte das deutlich genug machen. Es gibt Tatsachen über das Weiße Haus und Tatsachen über den Nordturm des alten World Trade Centers, während es im gleichen Sinne keine Tatsachen über den Stark Tower (aus den Marvel-Comics und Filmen) gibt. Der Grund dafür ist, dass das Weiße Haus existiert und der Nordturm des World Trade Centers existierte, während der Stark Tower rein fiktiv ist.
Was die aristotelische These, die Alex zitiert, ausschließen soll, sind Ansichten, die den ontologisch grundlegenden Status von Substanzen leugnen, sowie einen Idealismus, einen Relativismus und andere Ansichten, die man einnehmen könnte, um die Realität gewöhnlicher materieller Substanzen zu leugnen. Der Präsentismus respektiert solche Bedenken in vollem Umfang. Auch hier gab es wirklich einen Nordturm des alten World Trade Centers, obwohl er nicht mehr existiert. Wir müssen diese Aussage nicht irgendwie in eine Aussage über das, was jetzt existiert, oder was auf irgendeine zeitlose (tenseless) Weise existiert, übersetzen, um den relevanten Punkt zu erfassen. Die Tatsache, dass der Turm existiert hat, reicht aus, um das aristotelische Anliegen zu respektieren, alle Tatsachen in der Realität zu gründen.
Es muss meiner Meinung nach nichts mehr gesagt werden, um den Präsentismus des Aristotelikers mit seinem Bestreben in Einklang zu bringen, alle Tatsachen in reale Substanzen und deren Eigenschaften zu gründen. Wenn jemand ein Problem mit dieser Aussöhnung hat, dann behaupte ich, dass nicht der Aristotelismus die Ursache der Sorge ist, sondern eine andere philosophische Verpflichtung.
Deutsche Übersetzung eines Blogbeitrags von Edward Feser.
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