In seiner apostolische Exhortation Amoris Laetitia von Papst Franziskus, die unter Katholiken mehr als
umstritten ist (um es einmal vorsichtig auszudrücken), verfälscht Papst
Franziskus Aussagen Thomas von Aquins. Dies kann man auch als Philosoph nicht
unwidersprochen hinnehmen. Zu theologischen Fragen äußere ich mich in diesem
Blog im Allgemeinen nicht, es sei denn, sie betreffen direkt auch
philosophische Fragen. Hinsichtlich von Amoris
Laetitia könnte man von philosophischer Seite ganz allgemein sagen, dass es
vom Naturrecht keine Ausnahmen gibt. Ein naturrechtliches Gebot wie die
Unauflösbarkeit der Ehe (das sich bereits bei Aristoteles findet) gilt
ausnahmslos und ist nicht dispensierbar. In der apostolische Exhortation des
Papstes geht es allerdings um die theologische Frage, ob man Personen, die im
dauernden Ehebruch lebe, die Sakramente erteilen darf oder nicht. Man kann
hierzu in philosophischer Hinsicht vielleicht sagen, dass die Zulassung von
Personen zu den Sakramenten, die in einer zweiten Ehe leben, obgleich die erste
Ehe naturrechtlich noch weiterbesteht (sog. Geschiedene und Wiederverheiratete),
voraussetzt, dass die Unauflöslichkeit der Ehe nicht ausnahmslos gilt. Doch
darum geht es in meinem Beitrag nicht, sondern um die Verfälschung des hl.
Thomas im Text des Papstes.
Dass es vom Naturrecht keine Ausnahme geben kann folgt aus der Tatsache, dass das Naturrecht aus der Natur des Menschen folgt. So wie die physikalischen Gesetze aus der Natur physischer Gegenstände folgen und unveränderlich sind, so folgen die moralischen Gesetze aus der Natur des Menschen und sind auch nicht änderbar und können nicht außer Kraft gesetzt werden.
Der Papst zitiert Thomas von Aquin aus der Summa theologicia in einer Weise, die
den Gehalt des Textes geradezu ins Gegenteil verkehrt. Hier das Zitat des
Papstes aus ST, I-II, q. 94, art. 4:
„Obgleich es im
Bereich des Allgemeinen eine gewisse Notwendigkeit gibt, unterläuft desto eher
ein Fehler, je mehr man in den Bereich des Spezifischen absteigt. [Mithin liegt
im Bereich der Schau dieselbe Wahrheit für alle vor, sowohl in den Grundsätzen
wie in den Folgesätzen; freilich erkennen nicht alle die Wahrheit in den
Folgesätzen, wohl aber in den Grundsätzen, die ‚allgemeine Erfassungen‘
(Boethius) genannt werden.] Im Bereich des Handelns liegt nicht für alle
dieselbe praktische Wahrheit oder Richtigkeit im Spezifischen vor, sondern nur
hinsichtlich des Allgemeinen; und bei denen, für die hinsichtlich des
Spezifischen dieselbe Richtigkeit vorliegt, ist sie nicht allen in gleicher
Weise bekannt […] Es kommt also umso häufiger zu Fehlern, je mehr man in die
spezifischen Einzelheiten absteigt.“
Der in der eckigen Klammer gesetzten Satz wird von Papst
weggelassen, was aber noch kein schwerwiegendes Problem darstellt, obwohl es
den Zusammenhang verdeutlicht. Thomas will hier sagen, dass die Ableitung
moralisch richtiger Handlungen aus allgemeinen moralischen Prinzipien nicht
immer einfach ist und umso schwieriger wird, je spezifischer die konkrete
Handlung ist, auf die das Prinzip angewendet wird. Als Beispiel könnte man die
Frage anführen, ob ein Ehemann, wenn er den „Playboy“ liest, Ehebruch begeht. Für
einen verheirateten Mann, der das moralische Gesetz der Unauflöslichkeit der
Ehe kennt, ist es offensichtlich, dass er Ehebruch begeht, wenn er mit einer
Karnevalsbekanntschaft ins Bett geht. Ob er aber auch Ehebruch begeht, wenn er
den Playboy liest, ist nicht offensichtlich (und bei diesem Beispiel handelt es
sich auch nicht um Ehebruch).
Was macht jetzt Papst Franziskus aus diesem Zitat?
Franziskus zieht das Zitat heran für seine eigenen Aussage:
„Es ist wahr, dass die
allgemeinen Normen ein Gut darstellen, dass man niemals außer Acht lassen oder
vernachlässigen darf; doch in ihren Formulierungen können sie unmöglich alle
Sondersituationen umfassen.“
Damit ist etwas ganz anderes gesagt, als das, was Thomas
sagen wollte. Der Papst behauptet hier, zumindest implizit, dass die
moralischen Gesetze vor allem in Ideal darstellen, an dem man sich orientieren
sollte, dass dieses Ideal aber in „Sondersituationen“ nicht immer anwendbar
ist. Das ist fast das Gegenteil dessen, was Thomas sagen wollte. Bei Thomas
geht es nicht um „Formulierungen“ von „Vorschriften“. Die Grundsätze des
Naturrechts sind nach Thomas aus der Natur des Menschen leicht erkennbar.
Thomas geht es in dem obigen Zitat um das Problem, die richtigen Schlüsse aus
der Anwendung allgemeiner und unveränderlicher Prinzipien zu ziehen, wie ich
dies am zuvor genannten Beispiel verdeutlicht habe. Es geht hier um die
Begrenztheit der menschlichen Erkenntnis bei der Anwendung allgemeiner
Grundsätze auf bestimmte Situationen. Daher ist eine Bildung des Gewissens
erforderlich, damit diese „Anwendungen“ gelingen. Thomas führt in dem
Zusammenhang selbst Beispiele an. Muss ich einem Eigentümer, der mir einen
Gegenstand geliehen hat, diesen Gegenstand auch dann zurückgeben, wenn ich
sicher weiß, dass der Eigentümer damit gleich anschließend etwas Böses tun
will? Begehe ich einen Diebstahl, wenn ich den Gegenstand nicht, oder zumindest
nicht in dieser Situation zurückgebe, in der der Eigentümer ihn zurückverlangt
um damit etwas Unmoralisches zu tun? Dies ist das „Spezifische“ von dem Thomas
im obigen Zitat spricht. Wenn man in solchen Fällen zu falschen
Schlussfolgerungen kommt, dann beruht dies nach Thomas auf einer Beeinträchtigung
des Verstandes durch Leidenschaften, schlechten Gewohnheiten oder einer
pervertierten Vernunft. Thomas meint aber nicht, dass ein moralisches Naturgesetz
selbst unzureichend „formuliert“ ist, zumal das Naturrecht gar keine „Formulierungen“
benötigt, da es in die „Herzen der Menschen“ eingeschrieben ist. Der Fehler
liegt hier beim Handelnden und nicht beim Moralgesetz.
Die Art und Weise mit Texten Thomas von Aquins umzugehen,
die eigentlich eines Papstes unwürdig sein sollte, ist schon seit langem im
kirchlichen Bereich und auch außerhalb desselben verbreitet. Er findet sich vor
allem bei einer „thomistischen“ Richtung, die oft als „Transzendentalthomismus“
bezeichnet wird und bis in die 1930er Jahre zurückreicht. Bekanntester
Vertreter dieser Schule ist Joseph Maréchal, der mit anderen
Transzendentalthomisten die Philosophie Immanuel Kants mit Thomas von Aquin
versöhnen wollte, wohl auch, um in der Philosophie der Gegenwart besser
anzukommen. Das Ergebnis war eine völlig neue Philosophie, die mit Thomas kaum
noch etwas gemein hatte, allerdings sich stets auf Thomas berief und zwar in
einer Thomas von Aquin massiv verfälschenden Art und Weise. Maréchal war
übrigens wie der Papst Jesuit. Innerkirchlich wurde diese Philosophie
insbesondere durch einen dritten Jesuiten wirkungsmächtig: Karl Rahner, der wie
kaum ein anderer für die Neuerungen innerhalb der Kirche der letzten 50 Jahre
verantwortlich ist.
Probleme wie der Umgang des Papstes mit Texten nicht nur
Thomas von Aquins und massiven Änderungen und Brüchen in der kirchlichen Lehre,
wie sie in Amoris Laetitia ihren
bisher schlimmsten Ausdruck gefunden haben, beruhen letztlich darauf, dass man
die scholastische Philosophie aus der Kirche und aus den kirchlichen
Lehranstalten verbannt hat. An deren Stelle sind heute oftmals die empirischen
Wissenschaften, wie Soziologie, Psychologie, Linguistik und Methoden wie die
Hermeneutik getreten, die nicht annähernd das ersetzen können, was durch die
scholastische Philosophie verloren gegangen ist.
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