Heute möchte ich Ihnen ein Buch vorstellen, das in keiner
scholastischen Bibliothek fehlen sollte. Ich halte dieses Buch für eines der
besten Bücher zum Thema Naturrecht, das in den letzten fünfzig Jahren
veröffentlicht wurde. Der Autor, John Lawrence Hill ist sowohl Jurist als auch
Philosoph und arbeitet als Professor für Verfassungsrecht und Rechtsphilosophie
an der Indiana Universität in Indianapolis. Das Buch ist zugleich eine
hervorragende und gut verständliche Einführung in die Philosophiegeschichte,
angefangen bei den Vorsokratikern bis hin zur Gegenwartsphilosophie, natürlich
unter besonderer Berücksichtigung des Naturrechts und der Ethik insgesamt.
Ich habe das Buch mit großem Interesse und Gewinn gelesen.
Es wird wohl noch sehr lange dauern, bis ein solches Buch von einem deutschen
Autoren geschrieben wird; bekanntlich ist die deutsche Philosophie bis 10 bis
15 Jahre hinter der angelsächsischen Entwicklung hinterher. Während man in
Deutschland noch im günstigsten Fall mitleidig angeschaut wird, wenn man
scholastische Philosophie, Neoaristotelismus, analytischen Thomismus und
Naturrecht betreibt, ist dies insbesondere in den USA deutlich anders.
Da ich dieses Buch für sehr wichtig halte und ihm viele
deutsche Leser wünsche, habe ich beim Verlag des Buches, Ignatius Press
angefragt, ob es bereits einen deutschen Verlag gibt, der Interesse an einer
Übersetzung angemeldet hat. Zu meiner großen Überraschung ist das tatsächlich
der Fall und wir dürfen hoffen, dass in spätestens einem Jahr das Buch in
deutscher Übersetzung vorliegt. Welcher Verlag dieses Buch in Deutschland
veröffentlicht, wurde natürlich nicht mitgeteilt.
Um Ihnen, verehrte Leser dennoch einen Eindruck von diesem
hervorragenden Buch zu geben, habe ich die Einleitung selbst übersetzt und
stelle sie hiermit in meinem Blog für alle Interessenten zur Verfügung. Die
Einleitung gibt einen guten Überblick über den Inhalt und die Absicht des
Buches.
Hier noch die bibliographischen Daten:
John
Lawrence Hill
After the Natural Law
How the
Classical Worldview Supports Our Modern Moral and Political Values
ISBN 978-3-7-1-62164-017-2
309 Seiten, 21,35 EUR bei Amazon.de
Einführung
Im Jahr 1948 veröffentlichte die Zeitschrift Atlantic Monthly einen bemerkenswerten
Aufsatz des Philosophen W.T. Stace, eines Mannes mit eher geringer religiöser Musikalität.
Sein Aufsatz „Man against Darkness“ begann mit einer erschreckenden Aussage:
„Die katholischen Bischöfe der USA haben jüngst eine Erklärung abgegeben in der
sie sagten, dass der chaotische und verwirrende Zustand der modernen Welt auf
dem Glaubensverlust der Menschen und die Aufgabe von Gott und Religion beruht.
Ich für meinen Teil glaube an keine Religion. Ich stimme jedoch vollkommen mit
den Bischöfen überein.“ Stace fuhr fort indem er sagte, dass unser Verlust für
den Sinn eines zweckgerichteten Plans für unsere Welt nichts weniger ist als
eine komplette Katastrophe für die Menschlichkeit. Eine von allen spirituellen
Grundlagen verarmte Welt[1]
Nur ein halbes Jahrhundert früher
verkündete ein anderer Philosoph, Friedrich Nietzsche, den Tod Gottes mit
Prometheischer Freude:
Das grösste
neuere Ereigniss, — dass „Gott todt ist“, dass der Glaube an den christlichen
Gott unglaubwürdig geworden ist — beginnt bereits seine ersten Schatten über
Europa zu werfen. Für die Wenigen wenigstens, deren Augen, deren Argwohn in den
Augen stark und fein genug für dies Schauspiel ist, scheint eben irgend eine
Sonne untergegangen, irgend ein altes tiefes Vertrauen in Zweifel umgedreht:
ihnen muss unsre alte Welt täglich abendlicher, misstrauischer, fremder,
„älter“ scheinen.[2]
Traurigerweise für Nietzsche war sein
Horizont weit weniger offen als er dachte. Er schrieb diese Worte im Jahr 1882,
sechs Jahre bevor er seine Gesundheit im Alter von vierundvierzig Jahren verlor
und das letzte Jahrzehnt seines Lebens in einem syphilitischen Nebel
verbrachte. Seine Worte waren jedoch unheimlich und schrecklich prophetisch.
Das halbe Jahrhundert, dass Nietzsche von Stace trennte war ganz plausibel die
schlimmste Periode des Zusammenbruchs, der Zerstörung, des Ruins und der
Katastrophe in der Geschichte der Welt: zwei Weltkriege, weltweite
wirtschaftliche Depression, das Entstehen des globalen Kommunismus und des
Nationalsozialismus, die Flächenbombardements industrieller Zentren in London,
Dresden und anderen Städten auf einer Massenskala und der Einsatz der Atombombe
gegen die Bevölkerung in Japan. Mehr als 100 Millionen Menschen verloren ihr
Leben in den Schützengräben, den Gulags und Konzentrationslagern in der Zeit
von nur drei Jahrzehnten.[3]
Die neue Dämmerung die Nietzsche
zelebrierte und die Stace beklagte war sowohl mehr als auch weniger als der
Verlust Gottes. Es war das Zwielicht einer Weltanschauung – der klassischen
Weltanschauung die im Verlauf von fünfundzwanzig Jahrhunderte langsam Gestalt angenommen
hatte, beginnend mit Platon und Aristoteles und den Höhepunkt erreichend mit
Thomas von Aquins großer Synthese der christlichen Theologie und der
aristotelischen Philosophie. Die klassische Weltanschauung fasste zuerst
Wurzeln auf dem Boden eines philosophischen Systems, das bekannt ist als Teleologie.
Die teleologische Idee behauptet, dass die Welt ein geordneter, zielgerichteter
und letztlich intelligenter Ort ist. Wie Platon es fast vierhundert Jahre vor
der Geburt Christi darlegte: „die Welt ist ein Produkt des Geistes, der alles
ordnet und jedes einzelne Ding in der Weise hervorbringt, die das Beste für es
ist.“[4]
Platons Sicht der Wirklichkeit
deutete die christliche Weltanschauung in auffallender Weise an. Auch sein
Schüler Aristoteles bereitete den Weg durch die Einpflanzung der platonischen
transzendenten Formen in die reale Welt der materiellen Dinge. Das
Transzendente wurde mit dem irdischen vermischt und die Ewigkeit mit der
Vergänglichkeit. Aristoteles Philosophie repräsentierte den mittleren Weg
zwischen Platons Idealismus und dem philosophischen Materialismus, der schon zu
Platons Zeiten verteidigt wurde. Auf dem Boden der aristotelischen Philosophie
und dem lebenspendenden Wasser des Christentums erwuchs die
Naturrechtstradition. Diese Tradition erreichte ihre leuchtendste Synthese im
dreizehnten Jahrhundert, in der christlichen Teleologie Thomas von Aquins.
Thomas‘ Theorie des Naturrechts war die theologische, philosophische und
moralische Vollendung der klassischen Weltanschauung, einer Weltanschauung, die
einen mächtigen Halt in unseren gegenwärtigen moralischen, philosophischen und
politischen Idealen bewahrt.
Dennoch, alle Schöpfung stöhnt in Vergeblichkeit:
auch große Theorien sind dazu bestimmt, zu zerfallen. Ein halbes Jahrhundert
nach Thomas‘ Tod arbeitete William von Ockham und solche, die ihm folgten –
einige mit reinen Motiven, andere aus politischen Gründen – daran, alles aus
dem christlichen Denken über Bord zu werfen, das sie als vom Einfluss
heidnischer Philosophie beeinflusst hielten. Unter Zugrundelegung der platonischen
Vision war die auffallende Intuition, dass die Wirklichkeit entlang eines
ontologischen Kontinuum abfällt, dass verschiedene Arten von Dingen wie
materielle Gegenstände, Ideen, Zahlen, Schatten, Gedanken und Gott
unterschiedliche Seinsgrade besitzen.
Für Platon und diejenigen, die ihm folgten, sind bestimmte Dinge wortwörtlich wirklicher als andere. Occam bestand nun
darauf, dass nur individuelle Dinge existieren und das alles, was existiert in
gleicher Weise wirklich ist – eine Position, die als Nominalismus bekannt ist.
Ockhams Leugnung der Formen war eine verhängnisvolle philosophische Veränderung,
die zu einer kaskadenartigen Reihe von intellektuellen Konsequenzen führte, die
sich im Verlauf der weiteren vier Jahrhunderte entfalteten. Das endgültige Ergebnis
war ein Desaster, nicht nur für die Theologie, sondern auch für die
Philosophie.
In Ockhams Gefolge destillierten die
frühen neuzeitlichen Denker wie Descartes, Locke und Hume die Form von der
Materie, die Seele vom Körper, die moralischen Gesetze von den physischen
Gesetzen und Gott von der Welt. Was Thomas von Aquin als ein integriertes
Ganzes anerkannte, wurde langsam voneinander in zwei Hälften getrennt, eine
ewig und eine materielle. Descartes‘ Dualismus im 17. Jahrhundert war die
Hochwassermarkierung des frühen neuzeitlichen Versuchs, beide Hälften des
früheren Ganzen zu bewahren, aber der kartesische Dualismus was schließlich
philosophisch nicht nachhaltig. Im 18. Jahrhundert wurde das, was von der
Materie abgespalten wurde, vollständig aufgegeben und die irdische Hälfte des
älteren Dualismus und wurde nun das neue Ganze. Die Seele wurde zum Verstand,
der Verstand wurde Materie in Bewegung. Das Christentum verwelkte in den
Deismus und der Deismus wurde zum Atheismus. Das Naturrecht zerfiel in
Utilitarismus und Kantianismus, jeder von ihnen isoliert und dann zerfallen in verzerrte
Teile der älteren ethischen Theorie Thomas von Aquins bis auch diese zersetzt
wurden in verschiedene Formen des moralischen Relativismus.
Im Verlauf weniger Jahrhunderte fiel
der Dualismus der frühen Neuzeit in den Materialismus zusammen, in die
Auffassung, dass jede Erklärung der Welt innerhalb und nicht außerhalb der
natürlichen materiellen Welt gegeben werden muss. Die Welt ist ein Unfall und
entstand durch blinde Ursachen. Es gibt keinen göttlichen Plan oder Planer,
keine objektiven Zwecke und keinen anderen Sinn als den, der von Menschen durch
Anordnung geschaffen wird. Alle Moralität ist menschliche Konstruktion. Wir entscheiden was gut ist und was
schlecht. Wir sind nicht durch moralische Standards gebunden, die unabhängig
von uns existieren. Wenn Ethik irgendeinen Grund hat, so muss es das Streben
nach Lust und Freude in dieser Welt und nicht in der nächsten sein. Wie einer
der jüngsten Verteidiger dieser Auffassung sagte, Materialismus ist die
Auffassung, dass „irdische Dinge alles sind was wir haben oder was wir jemals
haben werden.“[5]
Durch einen sehr seltsamen Weg sind
wir vollkommen im Kreis gegangen. Gegenwärtige Debatten über die Bedeutung der
Moral und den Zweck des menschlichen Lebens, besonders
Meinungsverschiedenheiten zwischen moralischen Relativisten und moralischen
Realisten, geben auf unheimliche und aufschlussreiche Weise den philosophischen
Austausch zu Platons Zeiten wieder. Intellektuell hat die Geschichte bewiesen, dass
sie kein Fortschritt ist, sondern ein Pendel das zwischen zwei Polen des
Materialismus und des Theismus hin- und herschwingt. Das Buch erkundet den
Bogen dieses Pendels.
Die klassische Weltsicht von Platon,
Aristoteles, Augustinus und Thomas von Aquin zu erklären und systematisch zu
verteidigen, wie es dieses Buch tun wird, bedeutet nicht, dass wir jede
Fassette dieser Theorien heutzutage wörtlich nehmen müssen. Es bedeutet sicher
nicht, dass wir argumentieren, dass wir die Erkenntnisse der modernen
Wissenschaften ignorieren sollten. Keiner dieser Denker, und im Besonderen
Aristoteles (der vielleicht der vollkommenste Wissenschaftler seiner Zeit war)
und Thomas (der stets darauf bestand, dass es nur eine Wahrheit gibt, dass
Wissenschaft und Theologie sich ergänzen) würden jemals solche Dinge geäußert
haben. Die Verteidigung der klassischen Weltanschauung bedeutet vielmehr zu
zeigen, dass sie in weit größeren Maße unserem eigenen Selbstverständnisses
entspricht, als der materialistische Ansicht, mit dem die moderne
wissenschaftliche Suche häufig zusammengeworfen wird. Was klassische Denker
vorgeschlagen haben ist nicht so sehr eine empirische Hypothese über die Natur
der Realität als vielmehr „ein analoges Modell“, wie John Finnis sagt, für die
spekulative Interpretation der Tatsachen unserer Welt.[6]
Die Tradition, die in Thomas von Aquin kulminierte, schlägt zudem weit
plausiblere Grundlagen für unsere modernen moralischen und politischen Ideale
vor – für Freiheit, Gleichheit, Würde und die Unantastbarkeit des menschlichen
Lebens – wie die Nachfolger Hobbes und Locke, Descartes und Kant.
Teil I dieses Buches zeichnet die
Spuren der Entwicklung der klassischen Weltsicht nach. Das erste Kapitel
erklärt den materialistischen Atheismus in der Antike. Kapitel 2 konzentriert
sich auf die vorchristliche Tradition Platons, Aristoteles‘ und der Stoa.
Kapitel 3 und 4 folgen der Spur des intellektuellen Einflusses der christlichen
Philosophie: Kapitel 3 richtet sich auf die Naturrechtstradition und Kapitel 4
auf die klassische Konzeption der Person, der Beziehung zwischen Seele und
Körper, den freien Willen und die ethische Integration des menschlichen
Charakters.
Teil II ermittelt den Niedergang der
Naturrechtstradition und die Konsequenzen für unsere moderne Moral und die
politischen Ideale. Kapitel 5 untersucht vier grundlegende Denker des modernen
Denkens: William von Ockham, René Descartes, John Locke und Thomas Hobbes.
Kapitel 6 erklärt die Desintegration des Begriffs der Seele und des Selbst in
der modernen Philosophie und Psychologie. Kapitel 7 untersucht den modernen
Versuch, die traditionellen Ideen der Freiheit und Verantwortung (die von
bestimmten Versionen des traditionellen Begriffs des Selbst abhängen), mit dem
gegenwärtigen Materialismus zu versöhnen, der die Realität der Freiheit und des
Willens bestreitet. Kapitel 8 folgt den Konsequenzen der modernen Zurückweisung
des Naturrechts. Es zeigt, wie die Naturrechtstheorie in utilitaristische und
kantische Ideale von Moral zerfällt und warum umgekehrt diese Theorien
kollabiert sind zu verschiedenen Formen des moralischen Relativismus. Kapitel 9
schließlich bringt die Linien der Argumente aus den vorhergegangenen Kapiteln
zusammen und untersucht die drei zentralen moralischen und politischen Ideale
der Moderne: Freiheit, Verantwortung und menschliche Würde. Dieses Kapitel
argumentiert, dass diese Begriffe sinnlos werden außerhalb des Rahmens, der in
der Idee des Naturrechts gründet.
[1] W.T. Stace, „Man
against Darkness“, Atlantic Monthly 182 (September 1948): 54.
[2] Friedrich Nietzsche, Die fröhliche Wissenschaft: § 343. Erste Veröff. 24/06/1887.
[3] Noch unheimlicher ist es, dass Nietzsche in einem
anderen Werk die immanenten Konsequenzen des Glaubensverlust für Europa
vorhersagte: „An diesem Sich-bewusst-werden des Willens zur Wahrheit geht von
nun an — daran ist kein Zweifel — die Moral zu Grunde : jenes grosse Schauspiel
in hundert Akten, das den nächsten zwei Jahrhunderten Europa’s aufgespart
bleibt, das furchtbarste, fragwürdigste und vielleicht auch hoffnungsreichste
aller Schauspiele…“ Friedrich Nietzsche, Zur
Genealogie der Moral: § III — 27. Erste Veröff. 16/11/1887.
[4] Platon, Phaedon,
99d.
[5] Christopher
Hitchens, God Is Not Great: How Religion Poisens Everything (New York: Twelve,
2007), 5.
[6] John Finnis,
Natural Law and Natural Rights (Oxford: OUP 1980), 393.
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