In meinem vorherigen Beitrag
über den Film „Terror – Ihr Urteil“ war ich nicht auf eine naturrechtliche
Argumentation eingegangen, die eine mögliche Rechtfertigung für den Abschuss
des Flugzeugs durch den Bundeswehrpiloten geben könnte. Jetzt hat Pater
Engelbert Recktenwald, ein Priester der Priesterbruderschaft St. Petrus (FSSP)
in der katholischen Tageszeitung DIE TAGESPOST genau diese Rechtfertigung geliefert.
Er argumentiert dafür, dass der Abschuss des Passagierflugzeugs mit 167
Passagieren und einem Terroristen an Bord gerechtfertigt ist, weil nicht die
Tötung der unschuldigen Menschen beabsichtigt ist, sondern die Rettung der
70.000 Menschen im Stadion und die Tötung der 167 Passagiere nur eine
unbeabsichtigte Folge. Ich möchte diese Argumentation des Paters prüfen.
Zunächst einige Worte zur Erläuterung der Theorie der
Doppelwirkung in der Ethik. Diese Theorie stammt von Thomas von Aquin und wurde
in der scholastischen Philosophie bis in die Gegenwart hinein weiterentwickelt.
Thomas erwähnt diese Theorie im Zusammenhang mit der Selbstverteidigung, bei
der ein Angreifer durch die Abwehrmaßnahmen des Verteidigers unbeabsichtigter
Weise zu Tode kommt. In diesem Fall, so Thomas, handelt es sich nicht um einen
Verstoß gegen das Tötungsverbot. Die moralisch gute Absicht das Leben zu retten
kann dazu führen, dass der Angreifer getötet wird, was allerdings vom
Verteidiger nicht beabsichtigt sein darf.
Das Prinzip der doppelten Wirkung hat sogar Eingang gefunden
in verschiedene Gesetze und wird heute in zahlreichen Fällen angewandt. Ein
Standardbeispiel ist die Schmerzbekämpfung mit Morphium bei Schwerstkranken,
die im Sterben liegen, obwohl bekannt ist, dass die Morphiumgabe das Leben des
Patienten erheblich verkürzen kann.
Es gibt vier Kriterien, die notwendigerweise erfüllt sein
müssen, damit eine Handlung zugleich gute und negative Wirkungen hat (D.
Oderberg: Moral Theory. A Non-Consequentialist Approch, S. 90f.).
1.
1. Die beabsichtigte
Handlung muss in sich selbst gut oder zumindest neutral sein.
2.
2. Die gute Wirkung der intendierten Handlung muss
zumindest ebenso unmittelbar aus der Handlung folgen, wie die schlechte
Wirkung. Dies ist nicht zeitlich
gemeint, sondern kausal. Das
bedeutet, dass die schlechte oder böse Wirkung entweder durch die gute Handlung
verursacht werden muss oder aber direkt durch die Handlung verursacht wird, die
auch direkt die gute Wirkung verursacht. Es ist nicht zulässig, dass die gute Wirkung durch die schlechte Wirkung
verursacht wird.
3. 3. Die schlechte Wirkung darf niemals selbst
beabsichtigt oder gewollt sein, sondern sie darf nur zugelassen werden, bzw. in
Kauf genommen werden.
4. 4. Es muss eine Verhältnismäßigkeit zwischen der
guten und der schlechten Wirkung bestehen, d.h. es muss ernsthafte Gründe geben
für die Inkaufnahme der negativen Wirkung. Die gute Wirkung muss die schlechte
Wirkung bei weitem überwiegen.
Wenn wir diese Kriterien jetzt auf den konkreten Fall, wie
er im Film (bzw. im Theaterstück) dargestellt wird, anwenden, dann können wir
prüfen, ob in diesem oder ähnlichen Fällen der Tod der Menschen in Kauf
genommen werden kann um eine sehr große Zahl von Menschen zu retten.
Was den vierten Punkt angeht, ist dies zweifellos der Fall:
167 Personen im Flugzeug, die durch den Abschuss getötet werden und die ohnehin
mit großer Wahrscheinlichkeit sterben würden, wenn der Terrorist sein Ziel
erreicht, stehen im Verhältnis zu 70.000 Personen im Stadion, in das der
Terrorist das Flugzeug lenken will.
Der erste Punkt ist auch gegeben, insofern als die
beabsichtigte Handlung des Kampfjetpiloten nicht nur neutral, sondern gut ist,
denn er will das Leben der Menschen retten, die vom Terroristen bedroht werden.
Auch der dritte Punkt ist erfüllt, denn die schlechte Wirkung ist in keiner
Weise beabsichtigt. Beabsichtigt sind die Zerstörung des Flugzeugs, das der
Terrorist als Waffe verwendet und die Tötung des Aggressors, um auf diese Weise
die Rettung von 70.000 Menschen zu ermöglichen.
Bleibt noch das zweite Kriterium, das erfüllt sein muss,
damit eine Handlung zwei Wirkungen hat, von denen eine gut und die andere
schlecht ist. Es scheint mir offensichtlich, dass dieses Kriterium nicht
erfüllt wird, denn die gute Handlung wird durch die schlechte Handlung
verursacht. Durch den Abschuss des Flugzeugs, d.i. die schlechte Handlung, wird
die gute Handlung, d.i. die Rettung der 70.000 Stadionbesucher, verursacht.
Wenn man dies mit der Verabreichung von Morphium parallelisiert, dann zeigt
sich dies deutlich: Die Verabreichung von Morphium führt direkt zur
Schmerzlinderung und mittelbar zur Lebensverkürzung. In diesem Fall ist das
zweite Kriterium klar erfüllt. Das Beispiel, das ich in ersten Beitrag zu
diesem Thema verwendet habe – der Amerikaner der von einem Hauptmann vor die
Alternative gestellt wird, entweder eine Person zu erschießen, so dass dafür
die anderen neun Gefangenen freigelassen werden oder alle zehn werden
erschossen – zeigt in der Struktur eine ähnliche Konstellation wie der
Terrorakt. Auch in diesem Fall würde die böse Handlung – die Tötung des
Menschen – zur Ursache für die Rettung der neun Gefangenen.
Dies bedeutet: die Theorie der Doppelwirkung ist in diesem und
in ähnlichen Fällen nicht anwendbar. Daran ändert auch nichts, dass Pater
Recktenwald betont, es käme auf die richtige Beschreibung der Situation an und
dabei auf die Wittgenstein-Schülerin Elizabeth Anscombe verweist. Natürlich
muss die Situation, in die sich der Pilot befindet, so beschrieben werden, dass
der Pilot das Flugzeug zerstört, um Menschen
zu retten und dabei den Tod der Passagiere in Kauf nimmt und nicht so, dass er
167 Menschen tötet und 70.000 Menschen zu retten. Doch um die naturrechtliche
Theorie der doppelten Wirkung anzuwenden, darf die gute Wirkung nicht durch
eine schlechte Handlung verursacht werden, und der Abschuss des Flugzeugs mit
167 Menschen an Bord ist eine schlechte Handlung.
Daraus folgt, dass für diesen bestimmten Fall die Analyse in
meinem ersten Blogbeitrag zu diesem Thema anzuwenden ist. Es ist dem Piloten
nicht erlaubt, das Flugzeug mit 167 Menschen und dem Terroristen an Bord abzuschließen,
um die 70.000 Menschen im Stadion zu retten, auf die der Terrorist die Maschine
abstürzen lassen will.
Lesen Sie die Korrektur zu dieser Argumentation hier.
Lesen Sie die Korrektur zu dieser Argumentation hier.
Ich verstehe die Behandlung des zweiten Kriterium nicht recht. Die vorhergesehene schlechte Wirkung, die Tötung der Flugzeugpassagiere, trägt schließlich nicht zur guten Wirkung, nämlich der Rettung der Stadiumsbesucher bei.
AntwortenLöschenAnderfalls müssten typische Handbuchfälle wie die Entfernung der Eileiter in einer ektopen Schwangerschaft ebenfalls unsittlich sein - was sie bekanntlich nicht sind.
Bei der ektopen Schwangerschaft ist die gute Handlung die Rettung des Lebens der Frau (nicht die Tötung des Embryos). Diese gute Handlung ist die Ursache für die Tötung des Embryos und die Entfernung der Eileiter. Es handelt sich also genau um einen Fall der Anwendung des Prinzips der doppelten Wirkung, wie sie bei dem Fall des Abschusses des Flugzeugs NICHT anwendbar ist.
AntwortenLöschenIst hier nicht genau so die Rettung der Stadiongäste in gleicher Weise die kausal unmittelbar folgende gute Handlung, wenn auch accidentaliter der Tod des Embryos bzw. der Flugzeuggäste in Kauf genommen wird, beide nicht jedoch als causa efficiens zur Rettung beitragen. Gewollt bewirkt wird nur die Entfernung der Eileiter bzw. des Flugzeugs.
LöschenBei diesem Fall (Eileiderschwangerschaft) handelt es sich, entgegen meiner früheren Annahme, nicht um einen Anwendungsfall für das Prinzip der doppelten Wirkung, sondern um einen Fall, der unter dem Titel "Teil und Ganzes" bei Thomas behandelt wird. Es ist unter bestimmten Voraussetzungen und in bestimmten Situationen moralisch erlaubt, einen Teil zu opfern, um das Ganze zu retten. Beispiel bei Thomas (bzw. in der scholastischen Ethik) ist die Amputation und in Ihrem Beispiel handelt es sich um eine Amputation, die dazu dient, das Leben (das Ganze) zu retten.
LöschenBei der Amputation als Lebensrettung gilt, dass die Abtrennung des Körpergliedes identisch ist mit der Lebensrettung. Es handelt sich dabei nicht darum, dass der gute Zweck das schlechte Mittel rechtfertigen könnte. So gilt auch, dass in dem Flugzeugbeispiel der Abschuss des Flugzeugs identisch ist mit der Lebensrettung. Die Tötung der unschuldigen Passagiere liegt in moralischer Hinsicht praeter intentionem. Es ist außerordentlich wichtig (mit Thomas), immer zwischen der physischen oder psychologischen und der moralischen Spezifizierung der Handlungsabsicht zu unterscheiden.
AntwortenLöschenDer Abschuss des Flugzeugs ist identisch mit dem Tod von 167 Passagieren, nicht mit der Rettung von Menschen. Der Abschuss mit den Tod der Passagiere ist damit die Ursache für die Rettung der 70.000 Stadionbesucher, aber beides ist nicht identisch. Da der Abschuss etwas böses ist, ist dieses Böse Ursache des Guten und widerspricht folglich den Bedingungen für eine Doppelwirkung. Eine Amputation kann nicht damit verglichen werden. Hier geht es um das Opfer eines Teils zugunsten des Ganzen.
AntwortenLöschenWie gesagt, es ist sehr wichtig, zwischen der physischen und der moralischen Spezifizierung einer Handlung zu unterscheiden. Die Tötung eines Menschen kann zum Beispiel erlaubte Selbstverteidigung oder unerlaubter Mord sein. In unserem Beispiel liegen ja auch keine zwei voneinander unterschiedene Handlungen vor, die dann ich ein Zweck-Mittel-Verhältnis treten könnten (nur Handlungen können moralisch richtig oder falsch sein). Es ist überhaupt kein Anwendungsfall für das Prinzip, dass der gute Zweck kein schlechtes Mittel rechtfertigen kann.
AntwortenLöschen