Gestern Abend wurde das Theaterstück „Terror – Ihr Urteil“
als Fernsehinszenierung gezeigt. Anschließend konnten die Zuschauer darüber
abstimmen, ob der Angeklagte, ein Offizier und Pilot der Bundeswehr, der ein
von Terroristen entführtes Passagierflugzeug mit 164 Insassen abgeschossen hat,
um zu verhindern, dass der Terrorist das Flugzeug in ein vollbesetztes Stadion
mit 70.000 Personen lenkt, schuldig ist. Das „Urteil“ der Zuschauer war
eindeutig: Der Pilot ist nicht schuldig, weil er zwar 164 Menschen getötet hat,
aber nur, um 70.000 Menschenleben zu retten. Fast 87 Prozent stimmten so ab.
Sie haben sich von der konsequentialistischen Argumentation überzeugen lassen.
Dies zeigt mir, wie weit die Menschen sich vom Naturrecht entfernt haben und wie
weit inzwischen das Verständnis für eine natürliche Moral verloren gegangen
ist. Allerdings waren sowohl die Plädoyers der Verteidiger, als auch die
anschließende Diskussion im Fernsehen nur von zwei alternativen Ethiken
bestimmt: der kantischen und der konsequentialistischen Ethik. Das Naturrecht
kam nicht vor.
Die kantische Ethik
wurde in dem Fernsehfilm ausgezeichnet durch die Staatsanwältin vertreten,
während der Anwalt des Angeklagten und dieser selbst ein konsequenzialistische
Ethik verteidigten. Diese beiden wichtigsten Moraltheorien in der Diskussion in
Deutschland lassen sich natürlich in einem Blogbeitrag nicht auch zu annähernd
zufriedenstellend darstellen. Aber die Grundprinzipien sollen hier trotzdem
kurz vorgestellt werden.
Der Konsequentialist kennt nur ein einziges Prinzip für
moralisches Handeln: Das Maximierungsprinzip. Die Handlung ist richtig, die den
maximalen Erfolg hat. Es gibt inzwischen eine Vielzahl unterschiedlicher konsequenzialistischer
Theorien, zu denen auch die Vielzahl der utilitaristischen Ethiken gehören,
doch das, was alle Theorien verbindet ist das Maximierungsprinzip. Daher ist es
für den Konsequenzialisten völlig konsequent, wenn er den Piloten freispricht,
der ja zugunsten von 70.000 Menschen 167 Menschen tötet, auch wenn der Pilot
damit gegen geltenden Recht und die Befehle verstoßen hat. Er, der Pilot, hat
70.000 Menschen das Leben gerettet und 167 Personen getötet, die ohnehin
gestorben wären, wenn das Flugzeug vom Terroristen in das Stadion gelenkt
worden wäre. Der Konsequentialist kennt keine Rechte, weder natürliche Rechte,
noch Menschenrechte. Denn wenn es unveränderliche Rechte gäbe, dann stünden
diese dem Maximierungsprinzip im Wege. Daher gibt es auch keine Menschenwürde.
Nur wer fundamentale Rechte und insbesondere das Recht auf Leben und die
Menschenwürde leugnet, kann der Auffassung sein, dass die Flugzeuginsassen
getötet werden können um eine größere Anzahl von Menschen zu retten.
Der Kantianer hingegen denkt ganz anders. Sein oberstes
Moralprinzip ist der kategorische Imperativ, wonach meine Handlung stets so
sein soll, dass die Maxime meines
Handelns zum allgemeinen Gesetz werden könnte. Wenn es nun aber die Maxime
meiner Handlung ist (wie im Falle des Piloten), eine kleinere Anzahl von
Menschen zu töten, um eine größere Anzahl von Menschen zu retten, dann führt
dies zu zahlreichen Paradoxien, die sowohl im Film als auch in der
anschließenden Diskussion genannt wurden. Es wäre dann z.B. angemessen, einen
gesunden Menschen zu töten, um seine Organe zu verwenden, um damit das Leben
von fünf anderen Personen zu retten. Das will natürlich niemand. Doch vom
Prinzip her, was die Maxime der Handlung des Piloten angeht, hat er genau
danach gehandelt: Er wollte das Leben von 70.000 Menschen retten und hat
deshalb das Leben von 167 Personen geopfert. Das kantische Prinzip beruht
seinerseits auf der Würde des Menschen, die sich für Kant aus der Autonomie der
menschlichen Vernunft ergibt. Der Mensch, bzw. die menschliche Vernunft, muss
sich selbst ihre moralischen Gesetze geben nach der obersten Maxime des
Handelns und sie darf durch nichts und niemanden beherrscht werden. Kant tritt daher
auch für eine strikte Trennung von Recht und Moral ein. Staatliche Gesetze
beruhen darauf, dass der Staat diese Gesetze erlässt und durch das
Gewaltmonopol durchsetzt. Gesetze beruhen ausschließlich auf Gewalt und Zwang.
Dazu wäre noch sehr vieles zu sagen, aber dies erklärt, dass der Bürger den
staatlichen Gesetzen immer Folge leisten muss. Dies hat der Pilot nicht getan
und deshalb ist er schuldig.
Doch was sagt das Naturrecht zu diesem konkreten Fall?
Grundlage des Naturrechts ist die Auffassung, dass sich aus der menschlichen
Natur, aus dem Wesen des Menschen als einem rationalen Sinneswesen bestimmte
Ziele und Zwecke ergeben, deren Erfüllung zur Vervollkommnung des Menschen
beitragen. Solche Ziele und Zwecke sind z.B. die Selbsterhaltung – dazu gehören
Gesundheitspflege, Ernährung, körperliche Betätigung u.v.m. – und Arterhaltung –
dazu gehört die Ehe und die Gründung einer Familie, die Erziehung der Kinder
etc. – aber auch die Suche nach Wahrheit und das Streben nach dem Guten. Durch
diese Ziele und Zwecke erfüllt sich die menschliche Natur, sie entfaltet ihr
Wesen in ihren Tätigkeiten. Damit ergibt sich das, was gut für den Menschen
ist, aus seiner menschlichen Natur selbst, eine Auffassung, die von allen
anderen moralischen Theorien und besonders vom Konsequenzialismus und von der
kantischen Ethik abgelehnt wird. Doch allein durch die Gründung der Moral in
die Natur das Menschen gibt es ein objektives Fundament der Ethik. Letztlich
sind alle anderen Moralsysteme subjektivistisch. Doch wie ergibt sich aus
diesen Grundlagen der naturrechtlichen Ethik nun eine Lösung für den
vorliegenden Fall?
Alle fundamentalen Rechte und Pflichten des Menschen ergeben
sich aus der menschlichen Natur. Dabei ist das Verhältnis derart, dass die
Pflichten den Rechten vorhergehen. Rechte bestehen auf Grund von Pflichten. Wir
haben z.B. die Pflicht, unser Wissen und unsere Erkenntnisse zu erweitern.
Daher haben wir das Recht auf Erziehung und Bildung, natürlich immer angemessen
an unsere Fähigkeiten und Vermögen. Wir haben die allgemeine Pflicht alles zu
tun, um unsere Natur zu vervollkommne und daher unsere natürlichen Ziele und
Zwecke zu erstreben, d.h. unsere Vermögen und Kräfte zu entfalten. Dazu haben
wir aber dann auch das Recht. Das fundamentalste Recht ist das Recht auf Leben,
denn ohne das Leben sind wir nicht in der Lage, irgendwelche anderen Ziele und
Zwecke zu erfüllen oder unsere Vermögen zu entfalten.
Natürlich ergibt sich aus diesen Grundlagen nicht
unmittelbar eine Lösung für das Problem, das hier zur Debatte steht. Wichtig
ist hier die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen, eine
Unterscheidung, die vom Konsequentialismus explizit bestritten wird. Man kann
schuldig werden durch eine Handlung, aber auch, indem man eine geforderte
Handlung unterlässt. Wenn ich einen Ertrinkenden nicht helfe, obwohl ich dies
könnte, bin ich an seinem Tod mitschuldig. Wenn ich einen Nichtschwimmer ins
Wasser werfe und er ertrinkt, bin ich ebenfalls an seinem Tod schuldig. Im
zweiten Fall handelt es sich um Mord oder Todschlag, im ersten Fall hingegen
werde ich für eine unterlassene Hilfeleistung verurteilt. Für den
Konsequenzialisten gibt es diesen Unterschied nicht, denn die Wirkung ist in beiden
Fällen die Gleiche: Die Person ist tot. Doch worauf beruht nun diese Unterscheidung?
Sie beruht auf einem Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten von
Pflichten: Handlungspflichten und Unterlassungspflichten.
Unterlassungspflichten sind universell, denn man kann von jedem Menschen
verlangen, dass er z.B. den Diebstahl, den Ehebruch oder das Lügen unterlässt.
Abgesehen von den drei ersten Geboten sind die sieben anderen Gebote der zehn Gebote
Unterlassungsgebote. Handlungsgebote hingegen können nur von einer Person
verlangt werden, die dazu in der Lage ist. Es gibt zahlreiche Gründe, warum
jemand zu einer bestimmten Handlung nicht in der Lage ist und wenn dies der
Fall ist, dann gibt es für ihn auch keine Pflicht zu dieser Handlung. Wenn
jemand selbst nicht schwimmen kann und eine ertrinkende Person um Hilfe ruft,
ist er nicht verpflichtet ins Wasser zu springen, um den Ertrinken zu retten.
Das entbindet ihn freilich nicht von jeder Hilfeleistung. Er ist verpflichtet,
Hilfe zu holen oder alles zu tun, was in seiner Macht steht, um dem
Ertrinkenden zu helfen.
Wenn wir nun diese Unterscheidung, die sich aus der Natur
des Menschen ergibt, auf unseren Fall anwenden, dann können wir Folgendes
sagen: Die Verantwortung für die bevorstehende Ermordung der 167
Flugzeuginsassen liegt allein und ausschließlich beim Terroristen. Weder beim
Staat, noch bei den Offizieren der Bundeswehr, die den Angriff abzuwehren
versuchen und natürlich auch nicht bei dem Piloten. Der Pilot hat in diesem
Fall die Handlungspflicht (dazu wurde er ausgebildet), das Leben der Menschen zu
schützen, sowohl das Leben der Flugzeuginsassen als auch das Leben weiterer
Menschen, die bedroht sind. Wenn das Flugzeug in das Stadion abstürzt, ist er
nicht für den Tod der Menschen verantwortlich, sondern der Terrorist. Dies
wurde im Film und in der anschließenden Diskussion an keiner Stelle gesagt,
obwohl es selbstverständlich ist. Die Theologin, die zur Diskussion eingeladen
war, meinte, es handele sich um eine Situation, in der jede Handlung schuldig
macht. Doch das ist falsch. Kein Mensch kann die Verpflichtung haben
Unschuldige zu töten, um andere Unschuldige zu retten. Wenn er dies tut, ist er
der Tötung Unschuldiger schuldig geworden.
Man kann dies an einem anderen Beispiel verdeutlichen, dass,
soviel ich mich erinnere, von dem Moralphilosophen Bernard Williams stammt: Ein
Amerikaner kommt in ein Dorf in Südamerika, wo Soldaten der Militärjunta gerade
zehn Personen festgenommen haben, von denen sie behaupten, dass es sich um
Rebellen handelt und die gleich hingerichtet werden sollen. Der führende
Offizier freut sich über den Besuch des Amerikaners und bietet ihm an, einen
von den zehn Rebellen zu erschießen und dafür die anderen neun freizulassen,
gewissermaßen zur Feier des Tages. Lehnt er dies aber ab, werden alle Zehn
erschossen. Der Amerikaner kann also neun Menschenleben retten, wenn er eins
tötet. Die Konstellation ist sehr ähnlich derjenigen des Films. Doch auch hier
ist offensichtlich, dass der Amerikaner nicht verantwortlich für den Tod der
zehn Personen ist. Verantwortlich ist allein der Offizier. Es gibt daher auch
keine Handlungspflicht für den Amerikaner, er hat aber die
Unterlassungspflicht, keinen Menschen zu töten.
Auch der Pilot im Film hat keine Handlungspflicht in Bezug
auf die Tötung unschuldiger Menschen zugunsten anderer unschuldiger Menschen.
Er hat die Pflicht, Menschenleben zu retten, doch in diesem Fall sind seine
Handlungsmöglichkeiten sehr beschränkt. Er hat aber die Unterlassungspflicht,
keine Menschenleben zu töten und deshalb müsste das Urteil lauten: Schuldig.
Lesen Sie auch die Korrektur zu dieser Argumentation hier.
Lesen Sie auch die Korrektur zu dieser Argumentation hier.
Das ist eine interessante Analyse, doch lässt sie nicht einen entscheidenden Aspekt außer Acht, das Prinzip der doppelten Wirkung? Natürlich hat der Pilot keine Handlungspflicht zur Tötung irgendwelcher unschuldiger Menschen. Die Handlungsintention des Piloten ist doch, ein Flugzeug abzuschießen, nicht Menschen zu töten. MMn. erfüllt die Situation alle Bedingungen des duplex effectus.
AntwortenLöschenSie haben völlig Recht und ich danke Ihnen für diesen wichtigen Hinweis. Auf der Grundlage des Naturrechts wäre die Theorie der doppelten Wirkung hier eine mögliche Rechtfertigung für den Abschuss. Doch dies erfordert eine ausführliche Argumentation und die Prüfung der vier Kriterien, die erfüllt sein müssen. Ich wollte in diesem Beitrag zunächst v.a. die grundsätzliche naturrechtliche Position vorstellen, die im Film und der Diskussion keine Rolle gespielt hat.
AntwortenLöschenVielen Dank für diese positive Antwort. Ich werde mich, wenn ich es schaffe, dem Thema in Kürze widmen.
LöschenIch halte diese Analyse für eher unzutreffend. Die Grundaussage einer rationalen Naturrechtsethik lautet, dass man ontische Güter vernünftig anstreben bzw. ontische Übel vernünftig vermeiden muss, so wie es der rationalen Natur des Menschen entspricht.
AntwortenLöschenHier ein interessanter Beitrag zum Dilemma:
http://peter-knauer.de/TheaterstueckTerror.pdf
Die "Grundaussage" des Naturrechts lautet, "Man soll das Gute tun und das Böse lassen". Die von Ihnen genannte Aussage ist eine Abwandlung. Es kommt aber immer auf die Anwendung an und dazu sind Prinzipien erforderlich. Die Prinzipien, die in diesem Fall des Terrorangriffs anwendbar sind und die sich letztlich aus dem Grundprinzip des Naturrechts und damit aus der Natur des Menschen ergeben, habe ich im Blogbeitrag genannt.
LöschenDass man das Gute tun soll, und das Böse lassen, ist eigentlich eine Tautologie. Denn die interessante Frage besteht ja darin, worin das gute bzw. böse Handeln besteht. Hier einfach zu sagen, dass man gemäß der "Natur des Menschen handeln soll" bleibt entweder ohne Kriterien oder man versteht es in dem Sinne, dass man die recta ratio des Handelns expliziert.
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