Freitag, 22. Mai 2015

Quines Anti-Essentialismus. Teil 1

Antiessentialismus ist die Auffassung, dass es keine Wesenheiten oder Naturen gibt. Diese Auffassung ist so alt wie die Philosophie selbst, wurde aber in der neuzeitlichen Philosophie die vorherrschende Theorie und zwar unabhängig davon, ob es sich um Vertreter der Rationalismus, Konzeptualismus oder Nominalismus handelt. Während der Nominalismus rundweg bestreitet, dass es überhaupt Wesenheiten gibt und selbst Begriffe als bloße Worte versteht, behaupten Rationalisten bzw. Konzeptualisten, dass es in der Realität keine Wesenheiten oder Naturen gibt, dass wir aber in unserem Denken Allgemeinbegriffe bilden können, denen allerdings in der Welt nichts entspricht. Für die analytisch orientierte Gegenwartsphilosophie sind die Argumente des strengen Nominalisten Willard van Orman Quine (1908-2000) sehr einflussreich geworden.



Quine hat folgendes Argument vorgetragen: Stellen Sie sich einen Menschen vor, der sowohl Mathematiker als auch Radfahrer ist. Ein Mathematiker ist gut, wenn es um Arithmetik geht, während dies von einem Radfahrer nicht unbedingt gesagt werden kann. Ein Radfahrer hingegen ist notwendigerweise zweibeinig, während dies für einen Mathematiker nicht notwendig zutreffen muss. Was ergibt sich daraus für unseren fahrradfahrenden Mathematiker? Ist er sowohl notwendigerweise zweibeinig und nicht zweibeinig und notwendigerweise gut in Arithmetik und nicht notwendigerweise gut in Arithmetik? Dieses angebliche Paradox sollte uns nach Quines Auffassung dazu führen, argwöhnisch zu sein, wenn es um Begriffe wie Notwendigkeit, Wesenheit und ähnliches geht.

Allerdings wird Ihnen bereits aufgefallen sein, dass mit dem angeblichen Paradox irgendetwas nicht stimmt. Was dies genau ist, ist allerdings schwieriger zu sagen. Alvin Plantinga und andere Philosophen haben den Fehler dieses scheinbaren Paradoxon formuliert: Die Paradoxie erscheint deshalb, weil die Aussagen als modale Aussagen de re genommen werden. Man unterscheidet bei den Modalbegriffen bzw. modalen Sätze (also Sätze, in denen Begriffe wie „notwendig“ und „möglich“ vorkommen) zwischen de re und de dicto. Der Unterschied, sehr verkürzt erläutert, bedeutet, dass z.B. eine Notwendigkeit de re in der Sache selbst begründet ist, während Notwendigkeit de dicto nur sprachlich gemeint ist. Wenn ich also sage, dass ein Fahrradfahrer notwendigerweise zweibeinig ist und von einem Mathematiker, dass er nicht notwendigerweise zweibeinig ist, dann führt dies dazu, dass ich zwei widersprüchliche Eigenschaften ein und derselben Person zuschreibe, allerdings nur dann, wenn beide Eigenschaften de re verstanden werden. Der Widerspruch verschwindet sofort, wenn wir die Sätze de dicto lesen. Wenn ich nämlich sage, dass es notwendigerweise wahr ist, dass ein Fahrradfahrer zweibeinig ist und dass es nicht notwendigerweise wahr ist, dass ein Mathematiker zweibeinig ist, ist das Paradox bzw. der Widerspruch gelöst. Eine Person kann sowohl eine Radfahrer als auch ein Mathematiker sein und als Radfahrer zweibeinig.

Quine hat noch ein anderes Argument gegen Wesenheiten bzw. Naturen von Dingen angeführt, das ebenfalls recht bekannt geworden ist:

(1)   9 ist notwendigerweise größer als 7
(2)   Die Zahl der Planeten ist 9
(3)   Die Zahl der Planeten ist notwendigerweise größer als 7

Die Aussagen (1) und (2) sind wahr (wenn man Pluto als Planet gelten lässt, was die moderne Physik nicht mehr tut. Doch das spielt für unseren Zusammenhang keine Rolle). Die Aussage (3) ist allerdings falsch, denn es könnten weniger als sieben Planeten in unserem Sonnensystem sein. Daher begründet dieses Beispiel für Quine einen Zweifel an den Modalbegriffen, hier dem Begriff der Notwendigkeit.

Doch auch dieses Paradox ist nur ein scheinbares. Es gibt verschiedene Möglichkeiten, den Widerspruch aufzulösen: Wenn wir die Aussage (2) in dem Sinne verstehen, dass sie eine Existenzaussage ist, die behauptet, dass es neun Planeten gibt, dann folgt (3) nicht aus (1) und (2). Das gleiche trifft zu, wenn wir die Sätze (2) und (3) als Aussagen über die gegenwärtige Zahl der Planeten unseres Sonnensystems lesen, dann folgt (3) aus (1) und (2) und wäre damit nicht falsch.

Warum reden wir hier überhaupt von Notwendigkeit, wo es doch eigentlich um Wesenheiten geht? Die Antwort ist einfach und ergibt sich aus den früheren Beiträgen in diesem Blog zur Frage der Wesenheiten. Diese werden nämlich im Allgemeinen als „notwendige Eigenschaften“ analysiert. Dieser Begriff ist zwar falsch, denn Wesenheiten sind alles andere als Eigenschaften, allerdings ist z.B. ein Mensch notwendigerweise ein Mensch, d.h. er hat diese Wesenheit ein rationales Sinneswesen zu sein, notwendigerweise, insofern er ein Mensch ist. Ein Ding, das kein rationales Sinneswesen ist, ist nämlich kein Mensch, selbst wenn es genauso aussehen würde, sondern z.B. ein Zombie.


Quine hat sich natürlich nicht von den Gegenargumente beeindrucken lassen, sondern weitere Argumente zur Verteidigung seiner Auffassung, dass es keine Modalitäten und damit auch keine Wesenheit gibt, vorgebracht, die ich im nächsten Blogbeitrag vorstellen werde.

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