Freitag, 11. Dezember 2020

Die Tyrannei des souveränen Individuums

 


Das Individuum, das isoliert ist, ist nicht selbstgenügsam; und deshalb ist es wie ein Teil im Verhältnis zum Ganzen.  Wer aber unfähig ist, in Gesellschaft zu leben, oder wer kein Bedürfnis hat, weil er sich selbst genügt, muss entweder ein Tier oder ein Gott sein.

Aristoteles, Politik, Buch I

 

In der amerikanischen Zeitschrift The American Conservative interviewt Rod Dreher den Theologen Carl Trueman zu seinem neuen Buch The Rise and Triumph of the Modern Self.  Trueman argumentiert, dass der Zusammenbruch der traditionellen Sexualmoral nur als Folge einer radikal individualistischen Auffassung des Selbst verstanden werden kann, die sich im Laufe der Moderne immer tiefer in jeden Winkel des westlichen Geistes eingegraben hat – auch in den Köpfen vieler sogenannter Konservativer.  Doch zu wenige Verteidiger der traditionellen Sexualmoral sind sich dessen bewusst.  Trueman sagt:

 

Dienstag, 24. November 2020

GOTT von Ferdinand von Schirach und die Sterbehilfe

 


Am 23. November wurde in der ARD ein Kammerspiel des Autors Ferdinand von Schirach gesendet, bei dem es um die sogenannte Sterbehilfe gab. Es ging um den konstruierten aber denkbaren Fall eines gesunden 78-jährigen Mannes, dessen Ehefrau unter großen Qualen gestorben war und der nun selbst von einem Arzt einen assistierten Selbstmord erbat. Dazu gab es eine Verhandlung vor einer Ethikkommission und die Zuschauen konnten zum Schluss entscheiden, ob es dem Mann, Herrn Gärtner, erlaubt sein soll, mit Hilfe eines Arztes, der ihm ein Medikament verabreicht, zu sterben. Kaum überraschend stimmten über 70% der Zuschauen mit einem „Ja“ ab. Ein zentrales Thema, das während der gesamten „Verhandlung“ im Zentrum stand, wurde allerdings außer Acht gelassen: Die Frage der „Autonomie“.

Mittwoch, 21. Oktober 2020

Sozialphilosophische Prinzipien: Gemeinwohl und Corona-Pandemie


 Ziel des Staates und aller staatlichen Maßnahmen ist das Gemeinwohl. Die Definition des Gemeinwohls lautet:

 Das Gemeinwohl ist die Gesamtheit der Bedingungen, durch die der Möglichkeit nach alle Glieder eines Staates frei und selbständig ihr irdischen Glück erreichen können.

 

Dienstag, 20. Oktober 2020

Wer war Thomas von Aquin?

 


Thomas von Aquin ist einer der größten christlichen Denker aller Zeiten. 1568 erklärte die römisch-katholische Kirche ihn zum Kirchenlehrer. Seine Schriften waren auch für Philosophen einflussreich, und nur wenige würden heute bestreiten, dass Thomas es verdient, den philosophischen Giganten zugeordnet zu werden, neben Platon (427348 v. Chr.), René Descartes (15961650), Immanuel Kant (17241804) und Ludwig Wittgenstein (19891951).

Freitag, 16. Oktober 2020

Die Herrschaft der Gesetzlosigkeit. Ein Rundumschlag: Corona, Antirassismus, cancel-culture, Tyrannei u.a.

 


Seit meinem letzten Blogbeitrag ist viel Zeit vergangen. Es hat sich sehr viel ereignet, aber aus verschiedenen Gründen, besonders wegen meiner beruflichen Aufgaben, bin ich nicht dazu gekommen, darauf zu reagieren.

Nun habe ich auf das Blog von Edward Feser einen Beitrag entdeckt, der alle wichtigen Ereignisse der letzten Wochen kritisch beleuchtet und philosophisch einordnet, natürlich unter der Perspektive der thomistischen Philosophie. Daher habe ich mich entschlossen, diesen umfangreichen Beitrag zu übersetzen. Der Text bezieht sich zwar auf die Verhältnisse in den USA, aber sie spiegeln vieles wider, was auch in Europa und in Deutschland geschieht.

 

Montag, 10. August 2020

Theologie und das analytische Apriori

Philosophen unterscheiden traditionell zwischen analytischen und synthetischen Sätzen.  Ein analytischer Satz ist ein Satz, der aufgrund der Beziehungen zwischen den ihn konstituierenden Begriffen wahr oder falsch ist.  Ein gängiges Beispiel ist „Alle Junggesellen sind unverheiratet“, was wahr ist, weil der Begriff „Unverheiratet“ im Begriff des Junggesellen enthalten ist.  Ein synthetischer Satz ist aufgrund von etwas wahr, das über die Beziehungen zwischen seinen konstituierenden Begriffen hinausgeht.  Zum Beispiel ist der Satz „Manche Junggesellen sind einsam“ aufgrund einer kontingenten empirischen Beziehung zwischen „Junggesellen-Sein“ und „Einsamkeit“ wahr, und nicht aufgrund einer notwendigen begrifflichen Beziehung zwischen ihnen.

 

Mittwoch, 1. Juli 2020

Sinnliche Gefühle und Gefühle des Willens


Der Verlag editiones scholasticae bereitet derzeit eine Neuerscheinung zur Psychologie Thomas von Aquins vor. Zu diesem Themenkomplex ist seit Jahrzehnten kein Buch mehr erschienen. Im vorletzten Jahr hat nun der amerikanische Philosoph Steven J. Jensen eine hervorragend geschriebene Einführung in dieses Thema veröffentlicht, die ich persönlich für das Beste halte, was zur philosophischen und speziell thomistischen Psychologie in den letzten 100 Jahren erschienen ist. Der Verlag hat die deutschen Übersetzungsrechte erworben und der Band wird vermutlich noch im August in deutscher Übersetzung erscheinen.
In dem Buch „Steven J. Jensen: Die menschliche Person. Eine thomistische Psychologie für Anfänger“ gibt es auch ein Kapitel über den Willen, aus dem ich viel gelernt und verstanden haben. Hier geht es u.a. um den Unterschied zwischen sinnlichen Gefühlen und Gefühlen des Willens, wobei gezeigt wird, dass Letztere nicht empfunden werden. Ich veröffentliche hier erstmals in deutscher Übersetzung einen Ausschnitt aus diesem Kapitel.


Freitag, 19. Juni 2020

Metaphysische Tierpräparation


Ich habe oft betont, dass der Grund, warum das Bewusstsein ein so hartnäckiges Problem für den Materialismus darstellt, weniger mit dem Bewusstsein selbst zu tun hat als mit der ausgetrockneten Auffassung von Materie, die wir von der frühneuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft geerbt haben.  Barry Dainton weist in seinem Buch Self ein paar Mal auf den gleichen Punkt hin.  Zum Beispiel schreibt er:

Sonntag, 10. Mai 2020

Nochmals Corona: Die Beweislast liegt bei denen, die Lasten auferlegen


Von Edward Feser

Ich habe argumentiert, dass der Lockdown eine gerechtfertigte erste Reaktion auf die Covid-19-Krise war, als auch, dass Skeptikern dennoch zugehört werden sollte, und zwar umso ernsthafter, je länger der Lockdown dauert.  Hier ist nun ein Arzt an vorderster Front, der argumentiert, dass der Lockdown lange genug andauert und gelockert werden sollte.  Hat er Recht?  Vielleicht, obwohl ich nicht über die Sachkenntnis verfüge, um mit Sicherheit zu antworten, aberauf diese Frage gehe ich hier ohnehin nicht ein.  Aber ich bin mir sicher: Die Beweislast liegt nicht in erster Linie bei ihm und Gleichgesinnten, wenn es darum geht, zu zeigen, dass der Lockdown beendet werden sollte.  Die Beweislast liegt bei den Verteidigern des Lockdowns, die zeigen müssen, dass er nicht beendet werden sollte.


Mittwoch, 29. April 2020

Die loyale Opposition des Lockdowns


Von Edward Feser

In First Things hat Pater Thomas Joseph White O.P. den Lockdown von Covid-19 verteidigt, während Rusty Reno ihn kritisiert hat.  Wie ich letzte Woche sagte, stimme ich mit P. Thomas Joseph überein, aber ich glaube auch, dass Vernunft, Nächstenliebe und das Gemeinwohl ein ernsthaftes Engagement mit Skeptikern wie Rusty erfordern – und dass dies umso mehr zutrifft, je länger der Lockdown andauert.  In The Bulwark sagt uns der konservative Lockdown-Verteidiger Jonathan V. Last, dass er nicht einmal eine Verbindung zu Pater Thomas Josephs Artikel herstellen möchte, geschweige denn zu Rustys Artikel.  Der Grund dafür ist, dass P. Thomas Josephs Artikel „die Sache nicht besser, sondern schlechter machte“, indem er der Idee „Legitimität“ verlieh, dass „es wirklich zwei Seiten des Themas gibt und dass vernünftige und intelligente Menschen anderer Meinung sein können“.  Er vergleicht Rustys Skepsis mit der Skepsis von Verteidigern einer flachen Erde (die Erde ist eine Scheibe).

Einige Anmerkung zur COVID-19 Krise


Von Edward Feser

Ich empfehle Ihnen Pater Thomas Joseph White's First Things Essay über die Situation von COVID-19 und die Reaktion der Bischöfe darauf.  Er zeigt seinen typischen gesunden Menschenverstand und seine Nächstenliebe.  Der Redakteur von First Things, Rusty Reno, mit dem P. Thomas Joseph nicht einverstanden ist, stellt seine charakteristische Großherzigkeit unter Beweis.  Meine Sympathien gelten eher den Ansichten von P. Thomas Joseph als denen von Rusty, aber ich bin entsetzt über die Bosheit anderer, die auf Rusty reagiert haben (der ein guter Mann und ein ernsthafter Denker und Schriftsteller ist, der es verdient, sich ernsthaft mit ihm zu beschäftigen).  Unsere Situation erfordert Geduld miteinander und den ruhigen Austausch gegensätzlicher Ansichten zum Wohle der Allgemeinheit.  Zu viele haben stattdessen die Debatte über COVID-19 als eine Ausweitung der Feindseligkeiten behandelt, die der Krise vorausgingen.  Dies steht in krassem Widerspruch zu Vernunft und Nächstenliebe.

Samstag, 18. April 2020

Philosophisches zu Corona-Endemie

Ich möchte heute den Beitrag eines Philosophen veröffentlichen, der sich in verschiedenen Hinsichten, besonders in wissenschaftstheoretischer Hinsicht, mit der derzeitigen Debatte zur Corona-Endemie auseinandersetzt. Professor Dr. Dr. Daniel von Wachter ist der Direktor der Internationalen Akademie für Philosophie im Fürstentum Liechtenstein. Professor von Wachter ist Religionsphilosoph und studierte unter anderem bei Richard Swinburne. Er arbeitet auch auf anderen philosophischen Fachgebieten, besonders auf dem Gebiet der Metaphysik. Auch wenn er kein scholastischer Philosoph ist, sind seine Beobachtungen zur Corona-Krise erhellend.

Mittwoch, 1. April 2020

Philosophie der Mathematik. Eine Anmerkung


Was sind Zahlen und geometrische oder andere mathematische Objekte? Dies ist einer der Grundfragen der Philosophie der Mathematik. Bereits seit der Antike versucht die Philosophie auf diese Fragen eine Antwort zu geben. Zwei grundlegende Antworten auf diese Fragen werden heute hauptsächlich diskutiert. Eine dritte Position, die aristotelische Auffassung von mathematischen Gegenständen, ist eher selten, wenn nicht gar unbekannt.


Montag, 2. März 2020

Thomas von Aquins Kommentar zur Metaphysik des Aristoteles vollständig übersetzt


Seit einigen Tagen liegt die vollständige Übersetzung des Kommentars zu Aristoteles‘ Metaphysik von Thomas von Aquin vor. Nach langer Wartezeit ist jetzt auch der letzte Band der Reihe (Band 8, Übersetzung des 10. Buches) erschienen. Damit umfasst die Studienausgabe 11 Bände in einem kleinen und handlichen Format für Studierende und philosophisch Interessierte.

Freitag, 28. Februar 2020

Gibt es ein „Recht auf ein selbstbestimmtes Sterben“?


Aus Anlass des Urteils des Bundesverfassungsgerichts zur sogenannten „aktiven Sterbehilfe“, die auch eine gewerbsmäßige Ausübung der Euthanasie einschließt, veröffentliche ich in diesem Blog mit Genehmigung des Verlags editiones scholasticae das Kapitel „Euthanasie“ aus dem Buch von Rafael Hüntelmann, Natürliche Ethik, zum Thema der sogenannten „aktiven Sterbehilfe“.

Mittwoch, 12. Februar 2020

Rationalismus oder Empirismus: Die falsche Entscheidung


Von Edward Feser
Ich habe oft argumentiert, dass zeitgenössische Philosophen zu oft nur innerhalb der von ihren frühmodernen Vorfahren ererbten Box alternativer Positionen denken und dabei die sehr unterschiedliche Art und Weise, wie vormoderne Philosophen das begriffliche Territorium aufteilen würden, vernachlässigen oder sogar ignorieren.  Einer der wichtigsten Gründe dafür ist die rationalistisch-empirische Dichotomie, die durch Kant gefiltert wurde.  Sie hat ein klares Denken nicht nur über die Erkenntnistheorie, sondern auch über die Metaphysik behindert.

Mittwoch, 29. Januar 2020

Warum ist ein Ding ein Individuum?


Die Frage, was materielle Gegenstände individuiert, bzw. wodurch diese individuiert werden, gehört zu den immer wieder diskutierten philosophischen Fragen. Einzig für Nominalisten stellt diese Frage kein Problem dar, denn für sie existieren ausschließlich individuelle Entitäten, so dass die Individualität einer Entität keiner weiteren Erklärung bedarf, da sie einfach ist. Für die aristotelisch-thomistische Tradition wie auch für jede andere philosophische Theorie, die die Existenz von Universalien annimmt, stellt die Frage der Individuation hingegen eine Herausforderung dar, die nicht leicht zu beantworten ist. In folgenden Beitrag werde ich die Theorie der Individuation in der aristotelisch-thomistischen Philosophie darstellen und diese Theorie mit einigen anderen philosophischen Theorien konfrontieren.

Donnerstag, 9. Januar 2020

Ein neues Buch von David Oderberg


Nach fast 12 Jahren Wartezeit hat David Oderberg, der derzeit wohl führende analytische Thomist (auf der Liste der 50einflussreichsten Philosophen der Welt) ein neues Buch veröffentlicht. Der Titel: The Metaphysics of Good and Evil Leider ist die gedruckte Hardcoverausgabe extrem teuer, doch es gibt ein eBook zu einem günstigen Preis und im Verlauf dieses Jahres kann man auch eine günstigere Paperbackausgabe erwarten. 
Das Warten hat sich gelohnt: Das neue Buch Oderbergs erfüllt alle Erwartungen, die man an diesen Autor stellen kann.