Mittwoch, 29. Januar 2020

Warum ist ein Ding ein Individuum?


Die Frage, was materielle Gegenstände individuiert, bzw. wodurch diese individuiert werden, gehört zu den immer wieder diskutierten philosophischen Fragen. Einzig für Nominalisten stellt diese Frage kein Problem dar, denn für sie existieren ausschließlich individuelle Entitäten, so dass die Individualität einer Entität keiner weiteren Erklärung bedarf, da sie einfach ist. Für die aristotelisch-thomistische Tradition wie auch für jede andere philosophische Theorie, die die Existenz von Universalien annimmt, stellt die Frage der Individuation hingegen eine Herausforderung dar, die nicht leicht zu beantworten ist. In folgenden Beitrag werde ich die Theorie der Individuation in der aristotelisch-thomistischen Philosophie darstellen und diese Theorie mit einigen anderen philosophischen Theorien konfrontieren.


Das Problem
Der Hylemorphismus der aristotelischen Philosophie analysiert eine materielle Substanz durch die Erklärung einer Zusammensetzung dieser Substanz durch Materie und Form. Dabei ist die Form etwas, dass allen Substanzen einer bestimmten Art zukommt. Die Form ist somit etwas Allgemeines, ein Universale. Die substanzielle Form des Menschen kommt allen Menschen zu, seien es Frauen oder Männer, Afrikaner, Asiaten oder Amerikaner. Es ist immer ein und dieselbe substanzielle Form, die allen diesen Menschen zukommt. Gleichwohl gibt es nicht „den Menschen“. Es gibt nur Franz, Susanne, Abedi, Chiaki oder Sokrates, es gibt nur individuelle Menschen, Männer und Frauen unterschiedlicher Herkunft und Hauptfarbe und mit verschiedenen Eigenschaften und Charakterzügen. Was individuiert aber die Form des Menschseins, die allen Menschen zukommt?

Die aristotelische Antwort auf diese Frage lautet: die Materie. Was in der aristotelisch-thomistischen Philosophie mit „Materie“ gemeint ist, unterscheidet sich deutlich von dem, was dieses Wort im Alltag, aber auch in der neuzeitlichen Philosophie bedeutet. „Materie“ im Allgemeinverständnis bedeutet so viel wie „materieller Gegenstand“, also vor allem Steine, Holz, Erde, Wasser oder Berge und Seen. Ähnliches gilt auch für das Materieverständnis der neuzeitlichen Philosophie und Wissenschaft, wobei Letztere sich stärker auf die atomare Struktur der materiellen Dinge konzentriert. Bei dieser „Materie“ handelt es sich um materielle Körper und diese sind nach der aristotelischen Philosophie bereits geformt, d.h. ihnen kommt bereits eine substanzielle Form zu.

Die Materie, insbesondere in der thomistischen Philosophie, ist hingegen vollkommen „ungeformte“ Materie. Dies bedeutet, die Materie hat überhaupt keinerlei Bestimmung, sie ist weder groß noch klein noch überhaupt ausgedehnt, sie ist nicht farbig und hat auch keine andere Bestimmung. Das Einzige was man von dieser Materie sagen kann ist, dass sie jede Bestimmung annehmen kann. Sie kann also groß werden, aber auch klein. Sie kann rot oder braun werden, die kann ein Huhn, ein Ochse oder ein Berg werden. Sie kann also praktisch alles werden, und zwar gerade deshalb, weil sie selbst keinerlei Bestimmung hat, die das einschränken könnte, was sie werden kann. Diese Materie ist reine Möglichkeit, reine Potenzialität. Aus Holz kann nur etwas Bestimmtes werden, eben das, was aus Holz besteht und was man aus Holz machen kann. Das Gleiche gilt für alle materiellen Dinge im Sinne des zuvor bezeichneten Alltagsverständnisses. Aus der Materie im Sinne der aristotelisch-thomistischen Philosophie kann aber alles werden, da sie reine Potenz, reine Möglichkeit ist. Man kann diese Materie auch nicht besichtigen, messen, berechnen oder sonst in irgendeiner Weise empirisch nachweisen, denn sie ist kein empirischer Gegenstand.

Das bedeutet aber, dass die rein potenzielle Materie, die materia prima, wie sie in der Fachterminologie bezeichnet wird, etwas Allgemeines ist. Diese Materie ist also ebenso allgemein wie die Form. Wenn jeder individuelle materielle Gegenstand – die unbelebte und die belebte Natur, Pflanzen, Tiere und Menschen – aus Form und Materie zusammengesetzt ist, dann ergibt sich die Frage, wie aus zwei Allgemeinheiten etwas Individuelles werden kann. Wenn man eine allgemeine substanzielle Form wie das Menschsein und eine allgemeine, völlig bestimmungslose Materie miteinander verbindet, entsteht kein Theo und keine Thea. Die Materie in diesem Sinne kann also kein Individuator sein. Was also individuiert eine materielle Substanz, wenn weder die substanzielle Form noch die materia prima als solche ein Individuationsprinzip darstellen?

Individuation
Bei der zuvor gegebenen Problemstellung könnte man den Eindruck gewinnen, es gäbe zunächst die substanzielle Form und eine materia prima, die dann miteinander verbunden werden. Dies ist natürlich nicht der Fall. Das einzige was es gibt, was im eigentlichen Sinne existiert, ist die Substanz, die eben aus Materie und Form zusammengesetzt ist. Unter Thomisten gibt es seit sehr langer Zeit eine Kontroverse über die Frage, was nun das Individuationsprinzip ist (vgl. Renard 1946, 218f.; Phillips 1950, Chapter XII; Koren 1960, 150-155; Oderberg 2002 und 2007, 108-117, Wippel 2000, 351-375) und selbst Thomas von Aquin, der sich im Verlauf seines Lebens immer wieder mit dieser Frage beschäftigt hat, hat seine Auffassung modifiziert (vgl. G. Kerr 2019, Fußnote S.133). David Oderberg (2007, 108-117), einer der renommiertesten Thomisten der Gegenwart, vertritt eine mittlere Position zwischen den verschiedenen konkurrierenden Auffassungen zum Individuationsprinzip. Es geht davon aus, dass es nicht ein einziges Prinzip der Individuation gibt, sondern dass man stattdessen drei verschiedene Elemente zusammennehmen sollte. Wie Suarez (Gracia 1994, 475-510) geht Oderberg davon aus, dass jede materielle Substanz durch sich selbst ein Prinzip der Individuation ist. Demnach ist die Einheit von prima materia und substanzieller Form das, was die individuelle Substanz konstituiert. Dies bedeutet, dass die Individualität notwendig aus dem substanziellen Sein einer Entität folgt. Nach meiner Auffassung kann Suarez dies nur behaupten, weil er eine von Thomas verschiedene Theorie der prima materia vertritt.

Da die Form eine höhere Bedeutung für die Identität einer vollständigen zusammengesetzten Substanz hat als die Materie, denn sie vervollkommnet und bestimmt die Substanz, ist es die Form, die die völlig indifferente und unbestimmte Materie bestimmt und vereinzelt. Erst an dritter Stelle nennt Oderberg dann das Individuationsprinzip Thomas von Aquins als eines hauptsächlichen und intrinsischen Prinzips, nämlich die quantitativ bezeichnete Materie (materia signata quantitativa). Oderberg fasst seine Auffassung kurz folgendermaßen zusammen:

„The three claims are, then, to be reconciled in this way: it is the initial or logically prior influence of common form on otherwise indifferent matter which gives matter the character by which it individuates the substance which, as a whole composite, is constituted as an individual entity. So when we say that the substance is the principle of its individuation by its own entity, we pay regard to the fact that every material substance, being a this-such, is therefore individual; but we do not exclude the further fact that every material substance has a component, namely its matter, by virtue of which it is a this-such. Individuals can self-individuate without that self-individuation being primitive or incapable of further analysis, just as a pianist can by definition play the piano without their pianism being incapable of further analysis.”

Aus dieser Zusammenfassung wird deutlich, dass für Oderberg die Selbstindividuierung einer Substanz im Sinne von Suarez die entscheidende Interpretation der Individualität der materiellen Substanzen darstellt und die beiden anderen Punkte nur eine Analyse oder Erklärung für die Selbstindividuierung geben.

Ich möchte Oderberg in dieser Frage wiedersprechen und dafür argumentieren, dass die klassische Auffassung der Thomisten (gegenwärtig z.B. verteidigt von Edward Feser 2014, 198-201) durchaus zutreffend ist. Nach dieser Auffassung hat jeder materielle Körper eine Ausdehnung, bzw. Dimensionen. Daher muss die prima materia, wenn sie eine Form annimmt, ipso facto bestimmte Dimensionen annehmen. Gaven Kerr (2019, 133) spricht von einer „dimensive quantity“. Nun ist aber jede Größe, bzw. Ausdehnung individuierend, denn diese bestimmte räumliche Dimension, und jene räumliche Dimension ist wesentlich verschieden von jeder anderen räumlichen Dimension. Nimmt man noch zusätzlich zeitliche Dimensionen hinzu (wie dies z.B. D. Oderberg tut), dann haben wir einzelne individuelle räumliche und zeitliche Ausdehnungen, die die Verschiedenheit zwischen individuellen materiellen Substanzen begründen. Dies bedeutet, dass die prima materia als etwas, dass Ausdehnung erfordert, um eine Form anzunehmen (materia prima als hier und jetzt gekennzeichnete), dasjenige ist, was eine Substanz von der anderen unterscheidet.

Wichtig ist zu betonen, dass es hier kein Nacheinander gibt, so als ob es zunächst eine völlig unbestimmte Materie gäbe, die dann durch die Form ein wenig quantitativ bestimmt wird, so dass dadurch die Form ihrerseits individuiert wird und jetzt die Materie bestimmen kann. Es geht um das Ganze aus Materie und Form, denn diese Ganzheit ist das Primäre. „The composite of matter and form is what exists and so is subject to esse, in which case the thing’s matter and form are cocreated simultaneously with the thing, so that all at once gives dimensionality to matter whereas matter (in being so dimensive) makes form individual.” (G. Kerr 2019, 136). Auch ist dies nicht ein Vorgang, der irgendwann einmal am Anfang der Existenz einer Substanz geschieht und die dann in diesem Zustand verharrt. Vielmehr ist die Individuierung in der beschriebenen Art ein Vorgang, der fortdauert, so lange die Substanz existiert. Man kann von einer kausalen Interaktion zwischen Materie und Form sprechen, die simultan besteht, so dass während der gesamten Existenz einer aus Materie und Form zusammengesetzten Substanz, die Form die Dimensionalität der Materie mitteilt und diese ihrerseits die Universalität der Form begrenzt.

Einwände
Der Einwand, dass dies bedeuten würde, dass die Materie, bevor sie von einer Form bestimmt wird, bereits tatsächlich, aktual, bestimmte Dimensionen haben muss und deshalb nicht materia prima ist, die per definitionem, vollkommen unbestimmt ist, ist daher unangemessen. Er beruht darauf, dass hier causa formalis und causa efficiens miteinander verwechselt werden (Renard 1946, 219f.). Die materia prima und die substanzielle Form sind nicht in der Weise miteinander verbunden, wie ein materieller Gegenstand (Holz, Eisen, Lehm, Wasser) und die Gestalt, die dieser Gegenstand hat, bevor er z.B. von einem Handwerker weiterverarbeitet wird, denn der materielle Gegenstand hat bereits eine substanzielle Form. Materialursache und Formalursache einer materiellen Substanz, bzw. prima materia und substanzielle Form sind immer nur zusammen tätig. Die prima materia – auch die vorbezeichnete materia prima – existiert nur insofern, als sie durch die substanzielle Form informiert wird. Es gibt also nicht schon die Materie, bevor sie von der Form bestimmt wird. Da die materia prima keinerlei Bestimmung hat, kann sie nicht irgendwo „herumliegen“, bevor sie von der Form informiert wird. Materia prima ist eine Abstraktion, eine logische Entität und nicht real. Ihre erste Bestimmung geschieht mit der Form zur dimensional bezeichneten Materie, wodurch die Materie dann bereits ihre erste Bestimmung erhält und nun die Form individuiert.

Der leider viel zu früh verstorbene englische Neoaristoteliker Jonathan Lowe hat gegen diese klassisch-thomistische Analyse eingewandt, dass eine raumzeitliche Lokalisierung ausreichen würde, um materielle Substanzen zu individuieren und dass die materia prima im Sinne Thomas von Aquins nichts Zusätzliches leistet (E.J. Lowe 1999, 201f.). Dies trifft aber nicht zu, denn die Materie trägt wesentlich zu Individuierung bei, insofern sie die Potenz ist, die die Form aufnimmt und die Materie muss ja die Form aufnehmen, bevor sie raumzeitlich lokalisiert ist.

Wie schon weiter oben erwähnt, folgen Duns Scotus und Francisco Suárez der thomistischen Analyse der Individuation nicht. Dies hängt mit dem metaphysischen Hintergrund der beiden Philosophen zusammen. Sie teilen nicht die Auffassung Thomas von Aquins wonach der Akt durch die Potenz begrenzt wird, und da die Materie nach Thomas das Prinzip der Potenzialität repräsentiert, kann diese auch nicht das Prinzip der Individuation sein, wodurch die substanzielle Form begrenzt wird. Scotus führt einen eigenständigen Individuator ein, der ein Ding einer bestimmten Art von einem anderen Ding derselben Art individuiert. Dieser Individuator wird bekanntlich haecceitas genannt, was man vielleicht mit Diesheit übersetzen könnte. Platon und Sokrates haben die gleiche menschliche Natur, aber die haecceitas unterscheidet sie beide voneinander als zwei verschiedene Menschen mit der gleichen menschlichen Natur. Wie schon zuvor erwähnt hat Suárez eine auch davon unterschiedene Theorie der Individuation, die bereits deutliche nominalistische Züge zeigt. Für Suarez ist es nicht irgendein Teil bzw. ein Prinzip der Substanz, das diese individuiert, sondern das Seiende als solches, bzw. die Substanz ist durch sich selbst individuell. Dies bedeutet, dass jede Substanz ihr eigenes Individuationsprinzip ist (Feser 2014, 201). Während diese Auffassung zum Nominalismus neigt, tendiert die Theorie der Individuation, die von Duns Scotus verteidigt wird, zum extremen Realismus platonischer Prägung. Beide Auffassungen haben in der Gegenwartsphilosophie Anhänger gefunden, auch wenn in den allermeisten Fällen die Herkunft der modernen Theorien der Individuation nicht genannt wird.

Zum Schluss sollte ich noch erwähnen, dass immaterielle Substanzen nach Thomas von Aquin keines zusätzliche Individuationsprinzips bedürfen. Jede immaterielle Substanz ist identisch mit einer bestimmten Art und deshalb gibt es im Bereich des Immateriellen – nach Thomas sind damit insbesondere die Engel gemeint – nur jeweils ein Exemplar einer Art, bzw. jeder Engel ist identisch mit seiner Art.


Bibliografie
Feser, Edward (2014): Scholastic Metaphysics. A Contemporary Introduction, Heusenstamm (editiones scholasticae).
Gracia, J.J.E. (Ed.) (1994): Individuation in Scholasticism, the Later Middle Ages, and the Counter Reformation, 1150-1650, Albany NY (State University of New York Press).
Kerr, Gaven (2019): Aquinas and the Metaphysics of Creation, New York (Oxford University Press).
Koren, Henry J. (1960): An Introduction to the Science of Metaphysics, St. Louis (B. Herder).
Lowe, E. Jonathan (1999): The Possibility of Metraphysics: Substance, Identity, and Time, Oxford (Clarendon Press).
Oderberg, David S. (2002): “Hylomorphism and Individuation”, in: Haldane, John (2002): Mind, Metaphysics, and Value in the Thomistic and Analytical Tradition, Notre Dame (University of Notre Dame Press).
Oderberg, David S. (2007): Real Essentialism, New York & London (Routledge).
Phillips, R.P. (1950): Modern Thomistic Philosophy, Vol. 1: The Philosophy of Nature, Westminster, MD (The Newman Press), Neuauflage der 2. Aufl. 1962, editiones scholasticae.
Renard, H. (1946): The Philosophy of Being, Milwaukee (Bruce Publishing Company).
Wippel, John F. (2000): The Metaphysical Thought of Thomas Aquinas, Washington D.C. (Catholic of America Press).

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