Montag, 4. Januar 2021

„Feinde“ – von Ferdinand von Schirach aus philosophischer Perspektive

 


Am gestrigen Sonntag konnte man eine weitere Verfilmung eines Beststellers des Autors Ferdinand von Schirach in der ARD sehen. Eigentlich waren es zwei Filme mit zwei verschiedenen Perspektiven, der Perspektive des ermittelnden Polizeibeamten und der Perspektive des Anwalts des Täters. Wie bei allen mir bekannten Verfilmungen der Bücher von Schirachs geht es eigentlich um eine Auseinandersetzung zwischen zwei philosophischen ethischen Theorien: der deontischen oder kantischen Ethik und der konsequentialistischen Ethik. Leider wird dies in den Verfilmungen oft nicht deutlich, da juristische Fragen im Mittelpunkt stehen. Ich möchte deshalb den vorstellten Fall philosophisch analysieren und die Fragestellung des Films naturrechtlich beantworten.

 

Bei dem im Film vorgestellten Fall handelt es sich um eine geänderte Version eines tatsächlichen Entführungsfall, der vor einigen Jahren Schlagzeilen machte. Gemeint ist die Entführung des Kindes aus der wohlhabenden Familie von Metzler. Im Film wurde ein zwölfjähriges Mädchen entführt und in einer Fabrikhalle vom Entführer eingesperrt, wo alles für ein Überleben der Entführten vorhanden war, also Lebensmittel und Getränke und ein Steinkohleofen zur Heizung. Durch einen Zufall wurde der Kamin dann von einer Plastikplane verdeckt, so dass der Rauch auch dem Raum nicht abziehen konnte und das entführte Mädchen vermutlich an einer Kohlenmonoxidvergiftung verstarb.

 

Die Polizei konnte zwar relativ schnell den vermuteten Entführer ermitteln, allerdings ohne irgendeinen gerichtlich verwertbaren Beweis. Der leitende Polizeibeamte war sich aber intuitiv sicher, dass der verhaftete der Entführer ist. Dieser machte aber keinerlei Angaben. Allen, sowohl dem Entführer als auch der Polizei war nicht bekannt, dass das Mädchen bereits wenige Stunden nach der Entführung gestorben war. Der Polizist wollte das Kind retten, weil man vermutete, es sei irgendwo im Freien untergebracht und könnte schnell erfrieren. Deshalb entschloss er sich den Verdächtigen mit dem sogenannten Waterboarding zu foltern. Der Verdächtigte verriet unter dieser Folter das Versteck, doch die Beamten kamen zu spät; das Mädchen war bereits tot.

 

So viel zu dem Fall. Im Mittelpunkt des Films stand dann das Gerichtsverfahren, bei dem der Anwalt des Beschuldigten und der Polizeibeamte, der den Angeklagten gefoltert hatte, als Kontrahenten auftraten. Der Anwalt stellte den als Zeugen geladenen Polizisten Fragen. Der Anwalt verteidigte ein strikt rechtsstaatliche Position, dessen moralphilosophischer Hintergrund in diesem Fall eine kantische, deontische Ethik war. Eine solche Ethik setzt das Recht, bzw. die Pflicht an die oberste Stelle, gegen die ausnahmslos und in keinem Fall verstoßen werden darf. Konkret ging es diesem Fall um das bedingungslose Verbot der Folter, das mit der Würde der Person begründet wurde. Die deontische Ethik kennt auch nicht die Möglichkeit einer verminderten Würde, so dass die Würde des entführten und verstorbenen Opfers auf gleicher Ebene steht, mit der Würde des Entführers. Der Anwalt machte deutlich, dass der Polizeibeamte ohne jegliche gerichtlich verwertbare Beweise den Beklagten beschuldigte, ihn verhaftete und ihm durch die Folter ein Geständnis abpresste. Da ein unter Folter zustande gekommenes Geständnis vor Gericht nicht verwertet werden darf, muss der Angeklagte freigesprochen werden (sofern er nicht vor Gericht die Tat aus freien Stücken gestanden hätte, was hier nicht der Fall waren; der Angeklagte widerrief sein Geständnis).

 

Die Argumentation des leitenden Polizeibeamten hingegen war von einer konsequentialistischen Ethik geprägt. Diese Ethik, die im angelsächsischen Raum deutlich dominierend ist und auch in Mitteleuropa immer mehr Anhänger findet, bestreitet grundsätzlich, dass es irgendwelche Rechte der Personen gibt und stellt auch den Begriff der Würde in Frage. Stattdessen stehen die Konsequenzen einer Handlung an der obersten Stelle. Eine Handlung ist gut, sofern die Konsequenzen der Handlung optimal sind. Im konkreten Fall ist für einen Konsequentialisten die Folter genau dann erlaubt, wenn dadurch ein Menschenleben gerettet werden kann. Der Polizeibeamte sah zur Rettung des Lebens des entführten Kindes keine andere Möglichkeit, als den vermeintlichen Entführer zu foltern und von ihm dadurch ein Geständnis zu bekommen. Wäre das Kind nicht durch einen unbeabsichtigten Unfall (die Abdeckung des Kamins mit einer Plastikplane, die durch den Wind über den Schornstein geweht wurde und so den Abzug des Rauchs verhinderte) an Kohlenmonoxid erstickt (was keiner der Beteiligten wissen konnte), dann hätte die Folter die besten Konsequenzen gehabt, denn das Mädchen wäre gerettet worden und dies hätte die Handlung des Polizisten gerechtfertigt.

 

Im Anschluss an den Film wurde eine Dokumentation gezeigt, bei der es auch um Frage ging, ob das Urteil – der Freispruch des Angeklagten – gerecht sei. Im Allgemeinen wurde hier eine enge Verbindung zwischen deontischer und konsequentialistischer Ethik hergestellt. Diejenigen, die das Urteil als gerecht bewerteten, waren zugleich überzeugt, dass die deontische Ethik die Grundlage der Rechtsprechung sein sollte (obwohl dies in keinem Fall explizit formuliert wurde), während diejenigen, die das Urteil als ungerecht empfanden, eine konsequentialistische Ethik akzeptieren mussten. Doch diese Alternative besteht nicht.

 

Man kann durchaus der Auffassung sein, dass die Freilassung des Angeklagten, der durch die Nennung des Ortes, an dem sich die Entführte befand, zumindest an der Entführung beteiligt war, ungerecht ist, und dennoch gegen die Folter als Methode zur Erlangung eines Geständnisses sein. Sowohl die deontische als auch die konsequentialistische Ethik sind eigentlich unmenschlich. Der deontische Ethiker kennt nur die Pflicht als oberstes Gebot und muss im Extremfall selbst ein Freund oder Ehepartner verraten, wenn dieser eines Verbrechens beschuldigt wird, wenn er die Pflicht, stets die Wahrheit zu sagen, in einem Verhör entsprechen will. Der Konsequentialist hingegen ist unmenschlich, da für ihn die Ethik praktisch die Anwendung der Ökonomie auf das menschliche Handeln darstellt, bei dem allein die Maximierung des Erfolgs eine Rolle spielt. Wenn man dies in Bezug zu diesem Fall anwendet, könnte man zugespitzt sagen, dass der Polizist, der nicht alle Möglichkeiten anwendet, um das entführte Kind zu retten, am Tod des Kindes ebenso schuldig ist, wie der Entführer selbst.

 

Für die natürliche Ethik sieht der Fall ganz anders aus. Auch hier ist Folter als Methode zur Erlangung eines Geständnisses in keinem Fall erlaubt und insofern kann man dem deontischen Ethiker zustimmen. Allerdings aus anderen Gründen als denen einer deontischen Pflichtenethik. Die natürliche Ethik geht davon aus, dass der Mensch eine Natur oder Wesenheit besitzt, zu der zahlreiche unterschiedliche Vermögen, Fähigkeiten, Kräfte oder Dispositionen gehören, die auf Ziele gerichtet sind. Aus dieser Natur des Menschen ergeben sich seine Rechte und Pflichten, sie sind also nicht freischwebend, wie bei der deontischen Ethik. Das Verhältnis von Rechten und Pflichten ist derart, dass die Pflichten den Rechten vorhergehen. Rechte bestehen auf Grund von Pflichten. Wir haben als Menschen die Fähigkeit zur Erkenntnis der Wahrheit und deshalb die Pflicht, unser Wissen und unsere Erkenntnisse zu erweitern. Genau deshalb haben wir auch das Recht auf Erziehung und Bildung, natürlich immer angemessen an unsere Fähigkeiten und Vermögen. Wir haben die allgemeine Pflicht alles zu tun, um unsere Natur zu vervollkommne und daher unsere natürlichen Ziele und Zwecke zu erstreben, d.h. unsere Vermögen und Kräfte zu entfalten. Dazu haben wir aber dann auch das Recht. Das fundamentalste Recht ist das Recht auf Leben, denn ohne das Leben sind wir nicht in der Lage, irgendwelche anderen Ziele und Zwecke zu erfüllen oder unsere Vermögen zu entfalten.

 

Ein zentraler Punkt, der die natürliche Ethik vom Konsequentialismus unterscheidet, ist die Unterscheidung zwischen Handeln und Unterlassen. Der Konsequentialist bestreitet, dass es diese Unterscheidung gibt, bzw. dass sie irgendeinen moralisch relevanten Sinn macht. Man kann schuldig werden durch eine Handlung, aber auch, indem man eine geforderte Handlung unterlässt. Wenn ich einen Ertrinkenden nicht helfe, obwohl ich dies könnte, bin ich an seinem Tod mitschuldig. Wenn ich einen Nichtschwimmer ins Wasser werfe und er ertrinkt, bin ich ebenfalls an seinem Tod schuldig. Im zweiten Fall handelt es sich um Mord oder Todschlag, im ersten Fall hingegen werde ich für eine unterlassene Hilfeleistung verurteilt. Für den Konsequenzialisten gibt es diesen Unterschied nicht, denn die Wirkung ist in beiden Fällen die Gleiche: Die Person ist tot. Doch worauf beruht nun diese Unterscheidung? Sie beruht auf einem Unterschied zwischen zwei verschiedenen Arten von Pflichten: Handlungspflichten und Unterlassungspflichten. Unterlassungspflichten sind universell, denn man kann von jedem Menschen verlangen, dass er z.B. den Diebstahl, den Ehebruch oder das Lügen unterlässt. Abgesehen von den drei ersten Geboten sind die sieben anderen Gebote der zehn Gebote Unterlassungsgebote. Handlungsgebote hingegen können nur von einer Person verlangt werden, die dazu in der Lage ist. Es gibt zahlreiche Gründe, warum jemand zu einer bestimmten Handlung nicht in der Lage ist und wenn dies der Fall ist, dann gibt es für ihn auch keine Pflicht zu dieser Handlung. Wenn jemand selbst nicht schwimmen kann und eine ertrinkende Person um Hilfe ruft, ist er nicht verpflichtet ins Wasser zu springen, um den Ertrinken zu retten. Das entbindet ihn freilich nicht von jeder Hilfeleistung. Er ist verpflichtet, Hilfe zu holen oder alles zu tun, was in seiner Macht steht, um dem Ertrinkenden zu helfen. Auf unseren konkreten Fall bezogen: Der Polizeibeamte ist nicht schuldig am mögliche Tod des entführten Kindes, wenn er von dem Beschuldigten auch nach allen verfügbaren und rechtlich erlaubten Verhörmethoden nicht erfährt, wo das Entführungsopfer versteckt ist.

 

Keine Kommentare:

Kommentar veröffentlichen