Es war nicht John Locke oder irgendein anderer neuzeitlicher Philosoph der behauptete, dass alle Erkenntnisse ihren Ausgang von den fünf Sinnen nehmen. Diese These hat Thomas von Aquin auf der Grundlage der aristotelischen Philosophie vertreten und wurde dafür zu Lebzeiten heftig angegriffen. Denn zu seiner Zeit, im 13. Jahrhundert, war Thomas von Aquin der Einzige, der diese These konsequent verteidigte. Fast alle anderen scholastischen Philosophen, selbst der Lehrer des Thomas, Albertus Magnus, sowie die arabischen Philosophen waren Anhänger der Auffassung, dass es eingegossene göttliche Ideen gibt.
Mit Hilfe dieser eingegossenen Ideen soll der Mensch alle abstrakten Dinge, wie z.B. die Wesenheiten erkennen; eine Lehre, die bereits auf Platon zurückgeht und von Plotin weiter ausgearbeitet wurde.
Nach Aristoteles und Thomas ist die menschliche Seele zunächst leer, wie eine unbeschriebene Tafel, die berühmte tabula rasa. Durch die Sinne werden die Bilder der Dinge vom Geist passiv aufgenommen und durch den Verstand abstrahiert. Alle allgemeinen Erkenntnisse, wie Wesenheiten und Gesetzmäßigkeiten, werden durch die Abstraktion des Verstandes erkannt. Die Abstraktion fügt allerdings nichts zu den Dingen hinzu, was diesen nicht selbst zukommt. Die Abstraktion besteht darin, dass der Verstand alle individuellen Merkmale „abzieht“ (ab-strahiert), so dass eben nur das übrigbleibt, was allen Dingen, von denen abstrahiert wird, gemeinsam ist.
Dies freilich unterscheidet sich deutlich von den falschen Auffassungen der neuzeitlichen Empiristen, für die Wesenheiten und alles Allgemeine nicht erkennbar ist und deren Verständnis der Abstraktion sich deutlich von dem Thomas von Aquins unterscheidet. Bei den Empiristen besteht die Abstraktion in einem Vergleich vieler Einzelexemplare, wobei sich die Frage ergibt, was denn der Maßstab nach, nachdem ein solcher Vergleich sich richtet. Dieses Problem entsteht in der Abstraktionstheorie des Aquinaten nicht, denn die Grundlage der Abstraktion ist kein Vergleich.
Das Problem das sich aus der aristotelisch-thomistischen These ergab und das auch den massiven Widerstand anderer Scholastiker verständlich macht, ist die Frage, wie angesichts dieser ausschließlichen sinnlichen Erkenntnisquelle wir uns unserer Erkenntnisse gewiss sein können. Diese Frage hat dann auch die platonisch beeinflusste neuzeitliche Philosophie stark motiviert, wie man angesichts des cartesischen Zweifels weiß. Die Lösung für die Neuzeit bestand und besteht in einer subjektiven Wende, bei der die Gewissheit im Subjekt verankert werden soll, wie in Descartes „cogito ergo sum“.
Doch dieses Gewissheitsproblem kann nur entstehen, wenn man bestreitet, dass der Gegenstand des Verstandes die Wesenheiten der Dinge sind und das wir diese sicher erkennen können. Diese Sicherheit, Gewissheit der Erkenntnis wiederum findet Thomas in objektiven ersten Prinzipien, die niemand bestreiten kann, wenn er sich nicht selbst widersprechen will. „In den ersten Prinzipien ist der innere Seinszusammenhang der termini oder quidditates unmittelbar evident. Deshalb irrt der Verstand in bezug auf diese ersten Sätze nie und kann nicht irren. Sie sind absolut sicher, weshalb in ihnen, als Nachbildern der göttlichen Ideen, der rationes divinae, der tiefste Grund der Erkenntnissicherheit liegt. (G.M. Manser: Das Wesen des Thomismus, S. 175).
Solche ersten Prinzipien sind beispielsweise der „Satz vom Widerspruch“, der auf der ontologischen Tatsache beruht, dass etwas nicht zugleich sein und nicht sein kann, ein Prinzip, das jedem fast unmittelbar einleuchtet und das nicht nur ein Denkprinzip, sondern auch ein Prinzip der Realität ist.
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