Ein weiteres Argument gegen die scholastische Theorie der vier Ursachen stammt vom englischen Philosophen Locke, dessen ganzes Bemühen der Kritik der Scholastik galt. Obgleich Locke keine außerordentlichen philosophischen Neuerungen gebracht hat und seine Kritik der Scholastik äußerst flach, oberflächlich und von Missverständnissen durchsetzt ist, hatte und hat Lockes Philosophie großen Einfluss ausgeübt. Speziell gegen die Form, die gemeinsam mit der Materie jedes Ding konstituiert, wendet Locke ein, dass es „monster“ und „changelings“ gibt, womit er vielfältig deformierte und geistig zurückgebliebene Wesen, wie den „Elephant Man“ meint, die er offensichtlich nicht zu den Menschen zählt und die deshalb jeweils eine eigene Form nötig machen.
Mit diesen Beispielen will Locke deutlich machen, dass es keine festen, eindeutigen Formen, Wesenheiten oder Arten in der natürlichen Welt gibt, wie dies von der Scholastik behauptet wird. Das Argument wurde später dahingehend erweitert, dass die Grenzen zwischen verschiedenen Arten schwer definierbar sind, wie z.B. der Unterschied zwischen Baum und Strauch und das diese Unterscheidungen vom Menschen gemacht werden, nicht jedoch in der Natur selbst zu finden sind.
Gegen das Argument Lockes ist zunächst darauf hinzuweisen, dass auch die Scholastiker darum wussten, dass es in der Natur Deformierungen gibt. Doch ist dies überhaupt kein Argument gegen Wesenheiten bzw. Formen von Dingen. Nicht jede Ding instantiiert seine Form in vollkommener Weise. Doch bedeutet dies nicht, dass ein Ding überhaupt keine Form instantiiert. Der „Elephant Man“ ist ebenso ein Mensch wie jeder andere behinderte Mensch das Wesen des Menschen, die Form des Menschen instantiiert, wenn auch in unvollkommener Weise. Doch wer ist schon ein vollkommener Mensch? Ein behinderter Mensch ist keine andere Art, sondern eben ein Mensch und gerade deshalb erkennt man, dass er das Menschsein unvollkommen instantiiert.
Der andere Einwand bezüglich der Grenzen zwischen Arten betrifft nicht so sehr die Metaphysik, sondern die Erkenntnis. Sicherlich ist die Einordnung bestimmter Dinge in bestimmte Arten nicht immer einfach, doch spricht dies nicht gegen die Annahme von Arten, bzw. Wesenheiten und substantiellen Formen überhaupt. Ob etwas ein Baum oder Strauch ist mag umstritten sein, auf jeden Fall ist es eines von beiden und wenn weder das eine, noch das andere, dann muss es sich um eine eigne Art handeln.
Locke geht noch weiter und führt gegen die Annahme von substantiellen Formen an, dass ein Mensch seine Erinnerung verlieren kann, seine Fähigkeit zu denken oder zum Gebrauch seiner Vernunft überhaupt, oder das er ganze Teile seines Körpers verlieren kann und dennoch ein Mensch bleibt. Dies, so meint er, würde beweisen, dass Dinge keine wesentlichen Eigenschaften besitzen. Diese Behauptung ignoriert schlicht und einfach die aristotelische Unterscheidung zwischen verschiedenen Ebenen von Aktualität und Potenzialität. Nach Aristoteles ist das, was einen Menschen zum Menschen macht, nicht die Tatsache, dass jemand seine Rationalität in vollem Maße ausübt, sondern die inhärente Potenz zur Rationalität, die sich in jedem Menschen findet und die sich nicht bei Hunden, Katzen oder Eichen findet. Ein geistig behinderter Mensch, ein Mensch im Schlaf oder im Koma, ein Embryo oder ein Neugeborenes ist stets ein Mensch mit der inhärenten Potenzialität zur Rationalität, selbst dann, wenn dieser Mensch dieser Potenz derzeit oder auch über mehrere Jahre oder nie ausüben kann. Ein Mensch der nicht ein paradigmatischer Fall der Instantiierung des Menschseins ist deshalb noch nicht überhaupt kein Mensch. Und die Nichtausübung einer Potenz wie der Rationalität schließt einen Menschen nicht vom Menschsein aus. Ein Huhn hat keine Potenz zur Rationalität und ist eben deshalb kein Mensch.
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