In seinem Hauptwerk „Das Wesen des Thomismus“ macht der Neuscholastiker Gallus M. Manser deutlich, dass das Wesen dieser Philosophie in der von Aristoteles begründeten Akt-Potenz-Theorie besteht. Manser geht in seinem Werk sämtliche Grundlagen der Philosophie und Theologie des Aquinaten durch, um diese These zu exemplifizieren. Das Buch ist leider nur noch antiquarisch zu bekommen (wenn überhaupt). Worin besteht diese Theorie?
Nach der Akt-Potenz-Theorie (APT) sind alle materiellen Gegenstände aus Akt und Potenz zusammengesetzt. Diese Theorie dient primär zur Erklärung jeder Art der Veränderung, sei es die Ortsbewegung, Wachstum und Vergehen, qualitative, quantitative oder substantielle Veränderung u.a. Da alle materiellen Gegenstände sich ständig in irgendeiner Veränderung befinden, kann man sich leicht vorstellen, dass diese Theorie eine sehr weitreichende Bedeutung hat.
Grundsätzlich ist jede Veränderung ein Übergang von etwas, das noch nicht wirklich ist – etwas potentiellem -, zu etwas wirklichem, aktualem. Dabei ist das, was verwirklicht wird, das Ziel der Tätigkeit bzw. der Veränderung. Wenn ich von Köln nach München fahre, dann ist das Ziel für mich in Köln nur der Möglichkeit nach vorhanden und wird während der Reise immer wirklicher. Bin ich in München angekommen, so ist das Ziel der Reise verwirklicht. Wenn eine Kastanie zu einem Baum heranwächst, dann muss der Baum potentiell in der Kastanie sein und durch das Wachstum wird diese Potenz aktualisiert.
Nun kann sich keine Potenz durch sich selbst aktualisieren. Es bedarf dazu stets einer äußeren Ursache. Eine solche äußere Ursache ist das Ziel (Zielursache; causa finalis) aber auch die Wirkursache. Die Form- und Materialursachen hingegen sind innere Ursachen eines Gegenstandes. Die Potenz zu einem Kastanienbaum wird in der Kastanie durch verschiedene Wirkursachen aktualisiert, z.B. die Bodenbeschaffenheit, Temperatur, Flüssigkeit und Mineralien usw. Im Zusammenwirken führen diese Ursachen zur Entwicklung der Kastanie zum Kastanienbaum. Jeder Gegenstand hat nur ganz bestimmte Möglichkeiten, Potenzen. Aus der Kastanie wird nie eine Eiche oder eine Wolke.
Alle weiteren Theorien der aristotelisch-thomistischen Scholastik bauen auf dieser Theorie auf. Die Theorie von Form und Materie, der Hylemorphismus also, ist eine der wichtigsten Anwendungen zur Erklärung der Substanz. Auch die Vier-Ursachen-Lehre , die Ordnung und Hierarchie des Seienden die Behauptung, dass der Embryo von Anfang an ein Mensch ist und andere moralische Fragen, aber auch das scholastische Verständnis der DNA werden stets von der APT bestimmt. Daher bedarf diese einer weiteren Erklärung für eine Erneuerung der Scholastik im 21. Jahrhundert. Besonders wichtig ist dabei die Zurückweisung der zahlreichen Kritiken an dieser Theorie wodurch sich erst erweisen lässt, ob die APT auch heute noch tragfähig ist.
Warum sprechen Sie von einer Akt-Potenz-Theorie? Zeigen nicht sogar die Beispiele, dass es offensichtlich Seiende in Akt und Seiende in Potenz gibt? Oder ist mit Theorie gemeint, dass wir uns auf einer intellektuellen betrachtenden Ebene befinden, doch dann dürfte der Begriff "Theorie" aufgrund des Sprachgebrauchs missverständlich sein. Mir scheint jedenfalls, dass es sich bei dieser "Theorie" um etwas Sicheres handelt. Mfg. CvR.
AntwortenLöschenAkt und Potenz sind theoretische Prinzipien. Es gibt keine "Seiende im Akt" im präzisen Sinne. Jedes Seiende ist zusammengesetzt aus den Prinzipien Akt und Potenz. Ein Seiendes hat aktive und passive Potenzen, die aktualisiert werden können. Deshalb beschreibt man mit Akt und Potenz nicht die Wirklichkeit, wie ich mein Wohnzimmer beschreiben kann, sondern es sind Prinzipien, mit deren Hilfe man das Seiende als Seiendes erklärt. Und deshalb spricht man von einer Theorie. Außer der Scholastik und ihrer Nachfolger gibt es derzeit keine einzige Philosophie, die Akt und Potenz als Prinzipien des Seienden anerkennt. Insofern ist diese Theorie nicht "sicher", obgleich man sie sicher verteidigen kann.
AntwortenLöschenDie von mir verwendete Formulierung "Seiende in Akt" bzw. "Potenz" war in dieser Form in der Tat unsinnig, ich war zu sehr auf das im Text genannte Beispiel Kastanie/Kastanienbaum fixiert. Nichtsdestotrotz störe ich mich weiterhin an dem Begriff "Theorie". Die Argumentation, dass es sich hier "insofern" (!) um eine "nicht" sichere Theorie handle, als es "außer der Scholasik und ihrer Nachfolger" derzeit keine ander Philosophie gebe, die diese "Theorie" anerkennt, ist insofern nicht nachvollziehbar, als der Grad der allgemeinen Anerkennung zum Gradmesser für sicher und nicht sicher von philosophischen Erklärungen gemacht wird. So gesehen könnte man gar die scholastische Philosophie überhaupt als Theorie bezeichnen. CR.
AntwortenLöschenLieber Scholastiker,
AntwortenLöschendie Theorie, dass der Embryo von Anfang an Mensch ist, dürfte man wohl kaum als aristotelisch-thomistisch bezeichnen können, zumindest dann nicht, wenn das Denken des historischen Aristoteles und des historischen Thomas damit etwas zu tun haben soll. Tipp: Studieren sie einmal das dritte Kapitel von Thomas' Kommentar zum Buch Iob!
Es ist immer wieder erstaunlich, dass sich besondere Schlauberger auf den Blogs herumtreiben, die alles besser wissen. So auch unser "Anonym". Es ist durchaus "aristotelisch-thomistisch" den Embryo von Anfang an als Mensch zu bezeichnen, wie auch die Kastanie als Kastanienbaum. Doch "aristotelisch-thomistisch" ist nicht identisch mit den Texten des Aristoteles und Thomas. Das diese den Embryo in den ersten zwei Wochen nicht als Mensch sahen, lag ausschließlich an fehlenden naturwissenschaftlichen Kenntnissen der Embryologie, die erst viel später zur Verfügung standen. Doch hätten sie diese Kenntnisse gehabt, so hätten sie natürlich auch den Embryo von Anfang an als Menschen verstanden.
AntwortenLöschenEs ehrt mich, dass Sie mich als Schlauberger bezeichnen. Vergelt's Gott dafür!
AntwortenLöschenIch vermute, dass Sie und ich wohl schwerlich fruchtbar zu diskutieren im Stande sind. Wenn einer von zwei Kontrahenten historisch-kritisch denkt, der andere jedoch "systematisch" (oder wie immer man dieses Ins-Blaue-hinein-Philosophieren nennen soll), dann prallen eben zwei Welten aufeinander, die kaum miteinander kompatibel gemacht werden können.
Für mich ist es immer noch eine Akt-Potenz-"Lehre" (APL), und keine Theorie. Ich vertrete sie selbst, wenngleich ich kein Neuscholastiker oder Neuthomist bin.
AntwortenLöschenSehr coole Website können Sie einige wichtige Tipps zu ziehen.
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