Mittwoch, 18. Mai 2011

Die Substanzen

Schon in der Frühe der modernen Philosophie wird die Substanz in Frage gestellt. Dies hat sich bis heute kaum geändert. Dabei beruht auch in diesem Fall die Ablehnung weitgehend auf Missverständnissen des aristotelisch-scholastischen Substanzbegriffs. In erster Linie geht es bei den Substanzen um die konkreten Einzeldinge und hier im Besonderen wieder um die Lebewesen und die Atome, Moleküle und möglicherweise bestimmte subatomare Teilchen, sofern diese als selbständige Seiende sich erweisen lassen. Vom Menschen hergestellte Dinge, wie Tische, Werkzeugmaschinen, Uhren oder Kunstwerke sind nur in einem abgeleiteten Sinne als Substanzen zu bezeichnen. Die Frage aber ist, was denn eine Substanz ist.




Die traditionelle Definition der Substanz lautet, eine Substanz ist eine ontologisch unabhängige Entität, die ihre Existenz in sich selbst hat und auf Grund dieses In-sich-selbst-Seins ein letztes, bestimmtes Subjekt des Seins ist.

Diese Definition bietet freilich zahlreiche Möglichkeiten zu Missverständnissen die auch fast alle aufgetreten sind. Deshalb sind die Bestandteile der Definition zu erläutern. Insbesondere der Begriff der „ontologischen Unabhängigkeit“ wurde und wird immer wieder angegriffen wobei darauf verwiesen wird, dass nichts in dieser Welt wirklich unabhängig ist, da es durch ein anderes verursacht wird. Dies ist zweifellos richtig und deshalb ist Unabhängigkeit in der Definition auch nicht in diesem Sinne zu verstehen. Gemeint ist vielmehr, dass eine Substanz nicht Teil von etwas anderem ist, sie ist nicht ‚in einem anderen‘, sondern besteht in sich selbst. Ein Organ, wie das Herz eines Tieres oder des Menschen, besteht nicht in sich selbst, sondern in einem anderen, eben dem Lebewesen, dessen Herz es ist. Natürlich könnte man Zusammenhänge konstruieren, so dass auch die Substanz Teil eines umfassenderen Systems ist und im Allgemeinen trifft dies auch zu. Der Mensch ist z.B. Teil einer Familie, doch dies bedeutet nicht, dass die Familie eine Substanz ist, denn diese besteht eben nicht in sich selbst, sondern durch ihre Glieder, die Familienmitglieder, von denen jedes einzelne eine Substanz ist.

Die Substanz ist Träger von Akzidenzien und Eigenschaften. Dies ist gemeint bezüglich des Teils der Definition, in dem die Substanz als ein letztes Subjekt (=Träger) des Seins bezeichnet wird, nämlich hinsichtlich der Eigenschaften, Akzidenzien oder anderer Bestandteile. Die Substanz ihrerseits ist aber nicht von etwas anderem getragen, sie ist weder an, noch in etwas anderem, sondern eben in sich selbst.

Alles zusammengenommen kann man auch sagen, dass die Substanz eine vollständige Wesenheit ist, die aus Materie und Form besteht. Auch hier gab und gibt es zahlreiche Missverständnisse, z.B. glaubt man, die Substanz dürfe, um unabhängig und in sich zu sein, keine Bestandteile enthalten, müsse also einfach sein. Doch dies trifft nicht zu. Jede materielle Substanz – und das sind die Substanzen, mit denen wir es in dieser Welt zu tun haben – ist zusammengesetzt aus Materie und Form. Diese beiden sind aber keine Teile der Substanz, wie ein Bein oder ein Herz, sondern sie sind das, was die Substanz zu dem macht, was sie ist: einem selbständigen, in sich bestehenden Einzelding.

Ein weiteres Missverständnis beruht darin, dass man ausschließlich die substantielle Form als die Wesenheit einer Substanz versteht. Auch dies ist falsch, denn die Wesenheit einer Substanz ist das, was durch die Definition ausgesagt wird und diese ist charakterisiert durch Art oder Gattung und spezifische Differenz, worin die Materie in gewisser Weise eingeschlossen ist.

Alle Definitionen der Substanz laufen letztendlich darauf hinaus, dass sie eine Zusammensetzung aus Materie und Form ist. Denn nur eine solche Zusammensetzung ist unabhängig und In-sich-seiend. Materie und Form allerdings sind in der Tat, wie bereits früher dargelegt, einfach; sie haben keine Bestandteile. Erste Materie (materia prima) und Form sind selbst nicht definierbar, außer in Bezug zueinander als Konstitutionsprinzipien der Substanz.

Ein letzter Einwand sei noch erwähnt: Substanzen sind nicht als solche erkennbar. Das ist zweifellos richtig, doch dies bedeutet nicht, dass es keine Substanzen gibt. Was wir erkennen sind zunächst die Akzidenzien und Eigenschaften der Substanz, doch im weiteren Fortgang der Erkenntnis ordnen wir diese der Substanz zu. Wir sehen z.B. ein sich aufrecht bewegendes, sprechendes und lachendes Lebewesen ohne Fell, sondern mit glatter schwarzer Haut. Im Fortschritt des Erkennens ordnen wir diese Eigenschaften und Handlungen ein und demselben Wesen zu, nämlich einem Menschen. Wir erkennen die Substanz durch die Eigenschaften und Akzidenzien. Alles Erkennen ist sogar letztendlich darauf gerichtet, die vollständige Wesenheit eines Gegenstandes zu erfassen und eben dies ist die Substanz. Diese wird bei allem Erkennen vorausgesetzt. Wenn wir etwas neues sehen, dann fragen wir, was dies ist, wir fragen nach seinem Wesen und erst wenn wir dieses durch die Untersuchung der Eigenschaften und Akzidenzien hindurch erfassen, haben wir die Antwort auf die Was-Frage gefunden.

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