Freitag, 13. Mai 2011

Materie

Der philosophische Zeitgeist ist materialistisch. Er versucht, alles was es gibt auf etwas Materielles zurückzuführen. Dabei überlässt man die Antwort auf die eigentlich philosophische Frage, was denn die Materie ist, den Naturwissenschaften. Doch diese sind sowohl vom Gegenstand ihrer Forschung als auch von ihrer Methode her nicht in der Lage eine philosophische Wesensfrage zu beantworten. In meinem letzten Beitrag wurde mehrfach die Materie als zweites Konstitutionsprinzip der Dinge genannt. Was wir als Materie oder als materielle Dinge kennen, ob Sandhaufen, Steine, Berge, Planeten, Sterne oder auch Lebewesen, die ja auch materiell sind, ist immer schon geformte Materie, Materie, die durch die Form bestimmt ist. Dies gilt selbst für Moleküle, Atome und selbst subatomare Teilchen, wie Elektronen, Protonen, Neutronen und deren Bestandteile. Ein Materialist, oder besser gesagt ein Physikalist, als besondere Spezies des Materialisten, behauptet, Materie sei letztlich auf diese atomaren Teile zurückführbar; Atome und subatomare Teilchen seien das, was man mit Materie bezeichnet und aus diesen Teilchen sei alles andere zusammengesetzt. Natürlich ist das nicht falsch, aber es ist keine wirklich philosophische Erklärung.




Unerklärt bleibt nämlich nicht nur, wie diese Zusammensetzung geschieht, sondern auch, dass diese physikalischen materiellen Bausteine der Welt selbst geordnete, geformte Teilchen sind. Atome und Moleküle und auch subatomare Teilchen wie die Elektronen, Protonen etc. sind Substanzen, d.h. sie sind zusammengesetzt aus Materie und Form. Doch was ist „Materie“?

Die Theorie des Hylemorphismus (vom griechischen „hyle“ für Materie und dem griechischen Wort für Form „morphé“) vertritt die Auffassung, dass jede Substanz, also auch Atome und Moleküle und deren Bestandteile, sofern diese selbständig und außerhalb des Atoms bestehen können, ihr letztes Fundament in einer ersten Materie, der „prima materia“ haben. Diese ist gewissermaßen die Urmaterie, die aber, im Unterschied zu Atomen, nicht als solche erkennbar ist. Diese Urmaterie ist nur ein Prinzip, gewissermaßen das Gegenprinzip zur Form.

Die Urmaterie ist eigentlich so gut wie nichts. Sie hat überhaupt keine Eigenschaften, keinerlei Bestimmungen, keine Gestalt und somit auch keine Ausdehnung. Alle physikalischen Eigenschaften der Materie finden sich nicht an der Urmaterie. Sie ist, wie David Oderberg dies formuliert hat, dasjenige im Universum, was am allernächsten zum Nichts ist, obgleich es doch nicht nichts ist. Die Urmaterie ist vollkommen empfänglich, pure Potenz, reine Möglichkeit zu etwa, aber selbst nicht etwas. Sie ist deshalb auch unveränderlich, doch die Grundlage aller Veränderungen in der Welt.

Nun, eine solche Beschreibung hört sich für heutige Menschen geradezu esoterisch an. Doch die Urmaterie, die prima materia ist alles andere als esoterisch. Allerdings können wir diese Materie nur indirekt erkennen, aber das gilt auch für die Wesenheiten. Die Urmaterie ist sozusagen das Material das die substantiellen Formen „verwenden“ und aus dem dann, in Verbindung mit eben dieser Form, die Substanz entsteht. Alles was wir in dieser Welt vorfinden ist geformte Materie, eine Zusammensetzung aus Urmaterie und bestimmender Form. Die reine Potentialität der Materie wird durch die Wesensform aktualisiert und das Ergebnis ist ein materielles Ding, sei es ein Atom, ein Molekül, Steine, Berge, Pflanzen, Tiere und Menschen. Vom Menschen hergestellte Gegenstände sind keine Substanzen, was auch bedeutet, dass Menschen keine Substanzen „herstellen“ können. Artefakte werden aus bereits bestehenden Substanzen zusammengesetzt. Dazu werde ich später einmal mehr sagen. Aber jede Substanz ist zusammengesetzt, konstituiert, aus einer bestimmten Wesensform und der Urmaterie. Durch die Wesensform bekommt die Urmaterie ihre Wesenheit aus der die Eigenschaften sich ableiten, auch die allgemeinen Eigenschaften der Materie, wie Ausdehnung, Undurchdringlichkeit, Schwere und all die anderen Eigenschaften, die uns die Physik erklärt. Die Urmaterie selbst aber hat keine dieser Eigenschaften, sie hat überhaupt keine Eigenschaften.

Insofern hat die Urmaterie eine gewisse Ähnlichkeit mit dem, was in der modernen analytischen Ontologie als „bare particular“ bezeichnet wird, das als Individuum von Sachverhalten oder Tatsachen dient. Dazu werde ich später mehr sagen und vielleicht meldet sich ja ein Sachverhaltsontologe zu Wort, der zu dem Geschriebenen Stellung nimmt, z.B. „Erwin“ oder „achrudi“, denn diese beiden sind, wie ich aus ihren Äußerungen erkenne, analytische Sachverhaltsontologen.

3 Kommentare:

  1. Doctor angelicus30. Mai 2011 um 16:33

    Der Sandhaufen, der nun schon wiederholt als "Ding" od. "Substanz" bezeichnet wurde, kann nicht als solche(s) gelten.

    Substanzen zeichnen sich beispielsweise durch aktive Selbsterhaltung ("actio immanens") und Einheit aus. Ein bloßer Materiehaufen stellt da gewissermaßen geradezu das Gegenteil dar. Er ist keine Einheit, sondern eine Vielheit, die durch rein äußere Faktoren (Gravitation,...) zusammengehalten wird.
    Eine echte Substanz ist hingegen das einzelne Sandkorn.

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  2. Wenn das Sandkorn eine "echte Substanz" wäre, dann auch der Sandhaufen, denn ein Sandkorn ist ein sehr kleiner Haufen. Echte Substanzen sind aber beide nicht, sondern nur Atome, Moleküle und Lebewesen. In einem weiteren Sinne sind auch Sandhaufen, Berge, Planeten und Sterne Substanzen. Artefakte sind in keinem Fall Substanzen, da ihnen jede ontologische Unabhängigkeit fehlt. Vgl. D. Oderberg: Real Essentialism, 166ff.

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  3. Doctor angelicus30. Mai 2011 um 16:59

    Zunächst eine Verständnisfrage:

    Was bedeutet denn der Ausdruck "ontologische Unabhängigkeit"? Wie lautet für den damit gemeinten Sachverhalt der entsprechende scholastische Begriff, wie man ihn z.B. bei Thomas bzw. Aristoteles findet?

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