Mittwoch, 11. Mai 2011

Wesenheit und Wesensform

Die Wesenheit eines jeden Seienden wird durch die Definition ausgesagt. Bestimmend für die Wesenheit eines jeden Dinges ist die Form. Ganz allgemein besteht jede Entität aus Form und Materie, wobei die Form das Bestimmende, die Materie das Bestimmte und Bestimmbare ist. In dieser Allgemeinheit ist die Form das Prinzip der Bestimmung, das auch bei nicht-substantiellen Dingen, Eigenschaften und Akzidenzien, zu finden ist. Die Form bestimmt, was etwas ist, sei es ein grüner Fleck, ein Sandhaufen, ein Auto und natürlich echte Substanzen, also insbesondere alle Lebewesen. Bei diesen Letzteren, den Substanzen, handelt es sich um eine besondere Form, nämlich die Wesensform oder substantielle Form.




Die substantielle Form ist ein intrinsisches, unvollständiges Konstitutionsprinzip jeder Substanz, die die Potentialitäten der Materie, als dem zweiten Konstitutionsprinzip der Substanz, aktualisiert und so die bestimmte materielle Substanz konstituiert. Jede Substanz hat genau eine einzige Form, die das Wesen dieser Substanz bestimmt. Durch die Form ist eine Substanz das, was sie ist und wovon ihre Identität sich ableitet.

Im Unterschied zur Wesenheit, die stets zusammengesetzt ist („der Mensch ist ein vernunftbegabtes Lebewesen“), ist die Form einfach, d.h. sie hat keine weiteren Bestandteile. Das Gleiche gilt auch für die Materie im Sinne des Konstitutionsprinzips der Substanz, also die materia prima, wie sie in der Scholastik bezeichnet wird. Diese ist vollkommen unbestimmt und somit einfach.

Die substantielle Form kann nicht ohne die Materie bestehen. Es gibt keine „freischwebenden“ Formen im Sinne des Platonismus. Formen existieren nur in Verbindung mit Materie in konkreten, individuellen Substanzen. Als Bestimmendes in der Konstitution der Substanz ist die Form das Prinzip der Aktualität, d.h. die Form aktualisiert die in der Materie liegenden Potentialitäten, deren Möglichkeiten.

Die Philosophie der Neuzeit hat die scholastischen Formen von Anfang an strikt zurückgewiesen, wobei auch hier – wie sollte es anders sein – ihre Unerkennbarkeit im Mittelpunkt der Kritik stand und steht. Dabei ist es gerade die Form, die die Erkennbarkeit der Dinge erst ermöglicht. Bestreitet man die Formen der Dinge, dann folgt daraus selbstverständlich, dass die Dinge nicht als diese selbst erkennbar sind. Dazu gehört auch, dass es ohne die substantiellen Formen keine Erklärung für die Einheit einer materiellen Substanz gibt. Folglich erklärt Kant diese Einheit der Substanz zu einer mentalen Leistung des Bewusstseins und bestreitet, dass diese Einheit den Substanzen als solchen inhäriert. Die substantiellen Formen sind das Prinzip dieser Einheit der verschiedenen Teile einer Substanz, wohlgemerkt, das Prinzip der Einheit, nicht die Einheit selbst. Die moderne Philosophie kann diese Einheit einer Entität mit ihren verschiedenen Teilen kaum erklären, weshalb diese Einheit, wie bei Kant, durch eine synthetische Leistung des Bewusstseins erklärt wird. Man verschiebt dabei das Problem nur von der Ebene der Wirklichkeit auf die Ebene des Bewusstseins, denn wie will man nun die Einheit des Bewusstseins erklären?

In der analytischen Ontologie haben sich bestimmte mereologische Ansätze herausgebildet, die sich an der Mengenlehre orientieren. Auch in diesen fragwürdigen Ontologien gelingt es nicht, die Einheit und Ganzheit einer Entität vollständig zu erklären, weil man substantielle Formen nicht annehmen will. Ein Hund ist aber nicht bloß eine Menge von Teilen (Schwanz, Beine, Kopf, Ohren etc.), sondern diese sind in einer bestimmten Einheit und Ganzheit organisiert, die sich nur durch die materielle Form erklären lassen, die selbst kein Bestandteil der Menge ist. Die substantielle Form durchdringt vollständig die ganze Substanz die diese Form besitzt und zwar nicht nur horizontal in seinen Teilen (in jedem der Teile, ob im Schwanz, dem Kopf oder der Nase des Hundes ist dieser ganze Hund ‚gegenwärtig‘), sondern auch vertikal, d.h. bis in die chemischen Elemente, die den Körper des Hundes ausmachen. Die an der Mereologie orientierten ontologischen Ansätze bleiben weit hinter dieser scholastischen Theorie der Einheit und Ganzheit der Substanz zurück.

Die Theorie der Formen hat auch Bedeutung für die Sozialphilosophie, da sie die Einheit einer Gemeinschaft wie der Familie oder des Staates zu erklären vermag. Die liberale Sozialphilosophie kennt eine solche echte Einheit der Gemeinschaften nicht, was für die moderne Politik und Kultur schwerwiegende Folgen nach sich gezogen hat.

2 Kommentare:

  1. Doctor angelicus30. Mai 2011 um 16:08

    Zitate aus obigem Artikel:

    - "Ganz allgemein besteht jede Entität aus Form und Materie..."

    - "Die substantielle Form ist ein intrinsisches, unvollständiges Konstitutionsprinzip jeder Substanz..."

    - "Die substantielle Form kann nicht ohne die Materie bestehen."


    In ihrer Allgemeinheit geben diese Aussagen die Wirklichkeit bzw. die scholastische Position nicht ganz korrekt wieder. Die Welt der reinen Geistwesen, der Engel, wird dabei ausgeblendet. Die Engel etwa bezeichnet der hl. Thomas gerne als "formae separatae".
    Ein weiteres "Problem" stellt die vom Leib, also der Materie, getrennte Seele dar, die Thomas als "anima separata" bezeichnet.

    In diesem Sinne würde ich die Ausführungen in obigem Blogeintrag dahingehend nachschärfen, daß hier nur von materiellen Entitäten, Substanzen,... die Rede ist.

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  2. Doctor angelicus hat selbstverständlich recht: Hier ist nur die Rede von materiellen Substanzen, wie aus dem Kontext deutlich wird.

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