Dienstag, 3. Mai 2011

Wesenheit und Existenz

Fundamental für die gesamte scholastische Philosophie ist die reale Unterscheidung von Wesenheit und Existenz. Thomas von Aquin nennt seine erste kleine Schrift, gewissermaßen seine „Dissertation“, „De ente et essentia“, über das Sein und das Wesen und schreibt hier einleitend; „Ein kleiner Irrtum zu Beginn wird am Ende zu einem großen, sagt der Philosoph (gemeint ist hier Aristoteles, sagt Scholastiker) im ersten Buch seiner Schrift über Himmel und Erde. Nun sind aber, wie Avicenna zu Beginn seiner Metaphysik bemerkt, Seiendes und Wesen die beiden Begriffe, die von unserem Denken zu allererst erfasst werden.“ Und so fährt Thomas fort, um ein Missverständnis gleich am Anfang zu vermeiden, muss man zunächst diese Wort Seiendes und Wesen klären. Dies ist dann der Gegenstand der kleinen Schrift. Die spätere Philosophie hat diesen Rat leider nicht mehr befolgt und damit auch die Unterscheidung von Seiendes und Wesen übergangen. Die Folgen sieht man in der neuzeitlichen Philosophie.




Die Wesenheit, über die wir bereits einiges gesagt haben, ist dasjenige, was ein Ding, ein Seiendes zu der Art Ding macht, das es ist. Auch die Erkennbarkeit eines Dinges hängt von seiner Wesenheit ab. Ein Huhn, einen Fisch oder einen Menschen zu erkennen bedeutet, diese Wesenheiten zu erkennen. Die Wesenheit ist eben das, was etwas ist, das, zu welcher Art oder Gattung etwas gehört.

Von der Wesenheit verschieden ist jedoch die Existenz. Wesenheit sind allgemeine, abstrakte Entitäten, Universalien. Sie kommen zahlreichen Einzeldingen zu. Das Wesen des Huhns findet sich in jedem einzelnen Huhn instanziiert, d.h. jedes Huhn ist eine Instanz, ein Vorkommnis der Wesenheit des Huhnes. Diese selbst, die Wesenheit, das „Huhnsein“ existiert nicht separat von den einzelnen Hühnern, in denen es instanziiert ist. Freilich, der menschliche Geist kann den abstrakten Begriff des Huhnes denken und insofern existiert diese abstrakte Entität im menschlichen Geist und nur hier.

Damit eine solche Wesenheit existiert, d.h. real in der Welt vorkommt, muss zur Wesenheit noch etwas hinzukommen, nämlich die Existenz, das Sein. Die Wesenheit ist gewissermaßen ein Etwas in Potenz, der Möglichkeit nach. Wir können durchaus den Begriff eines Pegasus, eines Pferdes mit Flügeln bilden, doch ein solches geflügeltes Pferd existiert ist. Es fehlt diesem Begriff, dieser Wesenheit etwas, nämlich die Wirklichkeit, das Sein. Diese Wirklichkeit, in der scholastischen Terminologie auch Aktualität genannt, muss zur Wesenheit hinzu kommen, damit die Wesenheit „aktualisiert“ wird und wo dies geschieht, dort wird die Wesenheit in einem einzelnen, konkreten Seienden instanziiert. Die Wesenheit des Huhnes ist noch kein Huhn. Erst wenn zu dieser Wesenheit das Sein hinzukommt, wenn die Wesenheit als, sozusagen potentielles Huhn, durch das Sein aktualisiert wird, haben wir es mit einem wirklich Huhn zu tun.

Diese Unterscheidung zwischen Wesen und Existenz, die dem gesunden Menschenverstand im Allgemeinen einleuchtend erscheint, wird von der modernen Philosophie in Frage gestellt. Dies wiederum hängt mit der Skepsis der modernen Philosophie zusammen, die bestreitet oder zumindest bezweifelt, dass die Existenz von etwas überhaupt erkennbar ist. Dass wir die Begriffe oder die Vorstellungen von Dingen in unserem Bewusstsein haben, kann man kaum bestreiten, doch dass diesen Vorstellungen etwas außerhalb des Bewusstseins entspricht, wird bezweifelt. Wenn wir aber nur mit Gewissheit sagen können, dass die Begriffe, die Vorstellungen, oder auch die Sinnesdaten in unserem Bewusstsein existieren, dann muss man nicht mehr zwischen Wesenheit und Existenz unterscheiden. Dann aber muss man auch nicht erklären, wie oder wodurch, d.h. durch welche Ursache die Existenz zur Wesenheit hinzukommt.

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