Mittwoch, 8. Juni 2016

Ist ein Kieselstein eine Substanz?



Unter Aristotelikern gibt es eine Diskussion über die Frage, ob unbelebte Entitäten wie Kieselsteine, Felsbrocken oder Sandkörner Substanzen sind oder ob nur die Moleküle, aus denen diese Dinge bestehen, als Substanzen betrachtet werden können. Für Aristoteles, Thomas von Aquin und ältere Scholastiker konnte diese Frage zumindest nicht in dieser Form entstehen, da sie von der atomaren Struktur der Dinge noch nichts wussten. Natürlich setzte sich bereits Aristoteles mit den antiken Atomisten auseinander, allerdings war deren Atombegriff ein philosophischer Begriff und nicht ein physikalischer Begriff. Zudem behaupteten die antiken Atomisten, dass alles was existiert, ausschließlich aus Atomen zusammengesetzt ist und dass diese Atome sich durch Zufall zu bestimmten komplexen Entitäten ordnen, wie Steinen, Pflanzen, Tieren und Menschen. Diese Auffassung steht auch bei vielen materialistischen Philosophien der Gegenwart im Hintergrund, wenn freilich auch erheblich komplexer ausgearbeitet durch die Verbindung des Atomismus mit der Naturwissenschaft. Die Frage der Aristoteliker nach der Substanzialität der unbelebten Materie hat einen anderen Hintergrund.


Dieser entspringt nicht aus dem Atomismus oder auch nur aus einer Auseinandersetzung mit dem Atomismus, sondern aus einer sozusagen „inneraristotelischen“ Problematik. Die Vertreter der Theorie, dass unbelebte Entitäten nur Komplexe von Molekülen sind, die bloß durch eine äußere Zusammensetzung zu Dingen werden, wie wir sie makroskopisch wahrnehmen, hat einiges für sich. Dass ein Molekül oder ein Atom eine Substanz ist, steht außer Zweifel. Ein Molekül hat eine bestimmte substanzielle Form. Bei den Molekülen von Steinen handelt es sich z.B. um Quarz oder Kalk in Verbindung mit anderen Stoffen, wie Eisen usw. Wasser ist H2O. Natürlich hat eine Ansammlung von Wasser oder von Quarzatomen andere Eigenschaften als ein einzelnes Quarzmolekül, aber diese Änderung der Eigenschaften ändert nichts an der substantiellen Form, nämlich, dass es sich um ein Quarzmolekül handelt. Deshalb, so das Argument, kann man nur die Atome und Moleküle als Substanzen betrachten und nicht die Komplexe, wie ein Sandkorn oder einen Stein, bzw. einen Eimer Wasser.

Im Unterschied dazu verteidigen andere Aristoteliker die überlieferte Auffassung, dass materielle Dinge wie Steine, Wasser oder auch Luft selbst Substanzen sind. Allerdings war es schwierig, Argumente für diese Auffassung bei Aristoteles oder späteren Aristotelikern nachzuweisen, mit denen sie diese Behauptung untermauern konnten. Zur Lösung dieser Problematik hat die amerikanische Thomistin Eleonore Stump, eine der renommiertesten Thomas-Forscher der Gegenwart, ein entscheidendes Argument beigetragen. 

Stump hat in einem wichtigen Aufsatz aus dem Jahre 2013* einen Indikator für das Vorliegen einer Substanz vorgeschlagen, der meines Erachtens überzeugend ist und die traditionelle Position der Aristoteliker verteidigen kann. Der Indikator für das Vorhandensein einer Substanz und damit für das Bestehen einer substanziellen Form ist nach Stump der Besitz nicht-reduzierbarer kausaler Kräfte. Ein Stein besitzt solche kausalen Kräfte, die sich nicht auf die kausalen Kräfte der Moleküle zurückführen lassen. Natürlich haben auch die Moleküle, aus denen ein Stein besteht, kausale Kräfte, doch diese unterscheiden sich ganz deutlich von den kausalen Kräften eines Steines. Wenn ein Quarzmolekül meinen Kopf trifft, wird mir dies keine Schmerzen bereiten, ein Stein an meinem Kopf hingegen kann mir erhebliche Schmerzen verursachen. Ein Wassermolekül macht nicht nass, ein Eimer Wasser sehr wohl. Diese kausale Kraft eines Eimer Wassers ist nicht auf die Wassermoleküle reduzierbar, denn Wassermoleküle sind nicht nass. 

Die kausalen Kräfte eines Steins, einer bestimmten Menge Wasser und anderer unbelebter Dinge weisen darauf hin, dass es sich um eine eigene substanzielle Form handelt, die sich von der substanziellen Form der zugrundeliegenden Moleküle unterscheidet. 

Demgegenüber ist ein Haufen Kieselsteine nur eine akzidentelle Ansammlung von Substanzen. Selbst wenn diese Ansammlung neue Eigenschaften hat, ändert dies nichts an der substanziellen Form der Steine. 

Man könnte jetzt noch die Frage stellen, ab welcher Menge von Molekülen eine neue substanzielle Form entsteht, die kausale Kräfte besitzt, die die Moleküle unterhalb dieser Menge nicht besitzen. Allerdings ist das keine philosophische Frage, sondern eine Frage der Physik. Ein bestimmtes Forschungsgebiet der Physik, die Clusterphysik, behandelt solche Fragen, wenn auch nicht unter einem philosophischen Gesichtspunkt.

·      *  Eleonore Stump (2013): Emergence, Causal Powers, and Aristotelianism in Metaphysics”, in: Powers and Capacities in Philosophy: The New Aristotelian, ed. By Ruth Groff and John Greco (London: Routledge).

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