Freitag, 10. Juni 2011

Analogie des Seins

In der Gegenwartsphilosophie ist mir keine Philosophie bekannt, die „Sein“ als analogen Begriff versteht. Alle modernen philosophischen Systeme stimmen, trotz erheblicher Unterschiede in zahlreichen anderen Fragen, darin überein, dass Sein nichts anderes besagt als „Existenz“ und univok zu verstehen ist. Die aristotelische Scholastik stellt auch hier eine Ausnahme dar. Sie hält daran fest, dass Sein nur analog zu verstehen ist. Die Argumente für diese Behauptung sind in der modernen philosophischen Debatte meist unbekannt oder missverstanden.





Ein univoker Begriff ist ein solcher, bei dem alles, was unter dem Begriff fällt in genau der gleichen Weise unter diesen Begriff fällt. „Huhn“ ist ein univoker Begriff. Alle Hühner, wo auch immer diese leben, wie groß oder wie alt sie sind und welcher Art sie angehören, fallen unter den Begriff des Huhns. Der Grund dafür ist schlicht der, dass sie alle das gleiche Wesen teilen, eben das Wesen, ein Huhn zu sein.

Die moderne Philosophie versteht Sein in genau dieser Weise. Sein bedeutet Existenz, existieren, und  alles, was existiert, fällt unter den Begriff der Existenz, hat Existenz. Wie dieses „haben von Existenz“, bzw. das existieren selbst genauer zu verstehen ist, darüber gehen auch heute die Meinungen sehr weit auseinander. Das Existenz aber univok zu verstehen ist, dies scheint unumstritten.

Das Argument, das für die Univozität des Seins angeführt wird, hört sich durchaus überzeugend an: Die Unterschiede zwischen den verschiedenen Dingen beruhen auf den Dingen selbst. Das etwas eine Wesenheit, eine Eigenschaft oder ein Ereignis ist, oder das dieses Ding diese Wesenheit und jenes jene Wesenheit hat, unterscheidet sie nicht hinsichtlich dessen, dass sie existieren. Hinsichtlich ihrer Existenz sind alle diese Seienden gleich.

Doch so überzeugend diese Argumentation auch auf den ersten Blick erscheint, sie ist falsch. Wenn wir das Huhnsein von einem bestimmten Huhn abstrahieren, dann abstrahieren wir alle Eigenschaften und Akzidentien, so dass allein das Wesen übrig bleibt. Doch dieses Verfahren funktioniert nicht beim Sein, weil Sein heteronym ist. Dies bedeutet, es gibt substanzielles Sein, akzidentelles Sein, vollständiges Sein, unvollständiges Sein, notwendiges Sein, kontingentes Sein, mögliches Sein, absolutes Sein, relatives Sein, intrinsisches Sein, extrinsisches Sein und so weiter (siehe D.S. Oderberg: Real Essentialism, 2007, S. 107).

Nun sind diese Kennzeichen des Seins nichts bloß nebensächliches, akzidentelles, von dem man abstrahieren könnte, um zu einem klaren, vollständigen und homogenen Begriff des Sein zu gelangen. Für jede Art des Seins ist es wesentlich, in welcher Weise sich das Sein selbst manifestiert. Dies bedeutet, dass kontingentes Sein wesentlich kontingent ist, dass akzidentelles Sein wesentlich akzidentell ist und dass substanzielles Sein wesentlich substanziell ist. Wenn wir diese wesentlichen Merkmale abstrahieren um zu einem Sein an sich zu gelangen, dann begehen wir einen sowohl metaphysischen als auch begrifflichen Fehler. Wir abstrahieren dann nämlich etwas, was gerade wesentlich für diese Art des Seins ist.

Dies ist der Grund, warum auch die moderne „Scholastik des 21. Jahrhunderts“ unbeirrt daran festhält, dass Sein analog zu verstehen ist. Dies bedeutet, dass Sein analog auf verschiedenste Dinge angewendet werden kann, die unter den Begriff fallen. Aristoteles verdeutlicht dies anhand des Begriffs „gesund“, der auch ein analoger Begriff ist. Gesund nennen wir einen Apfel, ein Medikament, tägliches Spazierengehen oder einen Menschen. In jeder dieser Verwendungen des Wortes „gesund“ hat das Wort eine etwas andere Bedeutung und doch haben alle Verwendungen des Wortes etwas gemeinsames.

Übrigens unterscheidet die scholastische Philosophie zwischen Sein und Existenz. Existenz ist aktuales Sein.

1 Kommentar:

  1. Ich hätte eine Frage zu diesem Thema. Da ich nicht Philosophie studiert habe, möge man mir die vielleicht unbeholfene Frage verzeihen...

    Ist es richtig, dass Thomas die Analogielehre des Seins auf die Kausalität gründet? In diesem Sinne kommt dem Menschen Sein zu. Gottes Sein ist aber von unendlicher Qualität, menschliches Sein von endlicher.

    2. Wo genau berühren sich nun Gottes Sein und menschliches Sein? Meint Scotus, dass dieser "Kern" für Gott und für den Menschen das gleiche bedeuten, weil sie nicht widersprüchlich angewendet werden können? In andern Worten: Ist Gottes Sein (in allen im Artikel genannten Beispielen) nicht immer genau dieses Sein, aber niemals Nicht-Sein? Wenn es aber immer Sein ist (und nie Nicht-Sein), wie kann dann der Begriff des Seins bloss analog sein, und nicht univok?

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