Freitag, 18. Januar 2013

War Thomas ein Fundamentalist?


Unter einem erkenntnistheoretischen Fundamentalismus versteht man heute eine epistemische Theorie, bei der jede nicht-grundlegende Aussage, oder Annahme auf eine letzte grundlegende, fundamentale Aussage zurückgeführt werden muss. Anders gesagt: von Wissen kann man nur dann sprechen, wenn es sich um eine begründete Erkenntnis handelt, die auf ein letztes, nicht begründbares Fundament zurückgeführt werden kann. Der klassische erkenntnistheoretische Fundamentalismus wird mit René Descartes in Verbindung gebracht, der nach einem letzten Fundament für jede Wahrheit gesucht hat, einem Fundament, auf das alle anderen Wahrheiten aufbauen. Descartes sieht dieses Fundament in dem berühmten cogito ergo sum. Verschiedene analytisch-orientierte Philosophen wie Nicholas Wolterstorff oder Alvin Plantinga haben auch der Erkenntnistheorie des Aquinaten (sofern man überhaupt von einer solchen sprechen kann) diesen oder einen ähnlichen Fundamentalismus unterstellt. Eleonore Stump, einer der besten Thomas-Spezialistinnen der Gegenwart, hat diese Unterstellung in einer hervorragenden Argumentation widerlegt.






In ihrem außerordentlich lesenswerten und lehrreichen Buch „Aquinas“ zeigt sie, dass die Unterstellung eines erkenntnistheoretischen Fundamentalismus in der thomistischen Erkenntnistheorie auf einer falschen Voraussetzung beruht, die allerdings weit verbreitet ist. Das lateinische Wort „scientia“ wird im Englischen meistens mit „knowledge“, (Wissen oder Erkenntnis im Deutschen) übersetzt. Wenn scientia wirklich Wissen oder Erkenntnis, also knowledge bedeutet, dann ist die Zuordnung eines erkenntnistheoretischen Fundamentalismus für die thomistische Erkenntnistheorie in der Tat berechtigt. Stump zeigt aber in ihrer weiteren Argumentation in strenger Anlehnung an den Textbestand bei Thomas, dass das lateinische Wort sciencia mit knowledge falsch übersetzt wird.

Sciencia muss korrekt mit übersetzt werden mit Wissenschaft, allerdings in einem sehr breiten Verständnis das auch die Geisteswissenschaften und die Metaphysik und Theologie einschließt. Das englische Wort „science“ bezieht sich, anders als das deutsche Wort „Wissenschaft“, vor allem auf die Naturwissenschaften. Stump belegt diese Übersetzung unter anderem mit Aussagen des Aquinaten, in denen er sagt, dass es von kontingenten Dingen keine scientia gibt, was bedeuten würde, dass wir von solchen Dingen kein Wissen haben könnten. Dies ist allerdings absurd. Thomas sagt z.B. Scientia ist eine gewisse Erkenntnis einer Sache, aber eine Person kann nicht irgendetwas mit Gewissheit erkennen, das auch anders sein kann (also kontingent ist).  Wissenschaftliche Erkenntnisse sind stets allgemeine Erkenntnisse, die in der Tat nicht anders sein können, denn gerade darin besteht ihr Charakter als gesetzmäßige Erkenntnisse.

Hinsichtlich der Wissenschaft ist eine solche Aussage daher zutreffend, denn jede Wissenschaft beschäftigt sich mit allgemeinen, gesetzmäßigen Erkenntnissen und nicht mit kontingenten Tatsachen, wie der, dass der Hund von Frau Mayer bissig ist. Eine wissenschaftliche Erkenntnis muss zudem durch grundlegendere Erkenntnisse begründet werden, im Allgemeinen in der Weise, dass eine bereits bekannte Gesetzmäßigkeit eine neue Erkenntnis begründet. In der Philosophie ist das fundamentalste Prinzip der Satz vom Nichtwiderspruch, auf den sich letztlich alle anderen Erkenntnisse zurückführen lassen.

Stump argumentiert dann im weiteren dafür, dass die thomistische Erkenntnistheorie am ehesten mit dem verwandt ist, was heute als Reliabilismus bezeichnet wird. Dieser Theorie zufolge hat jemand Wissen bezüglich der Proposition p, genau dann, wenn p wahr ist und jemand glaubt, dass p wahr ist und jemand zu diesem Glauben gekommen ist, durch einen zuverlässigen Prozess. Dementsprechend könnte man z.B. die Annahme, dass der Hund von Frau Mayer bissig ist als Wissen bezeichnen, wenn Gustav schon mehrfach von dem Hund bedroht wurde und ihm zuverlässig berichtet wurde, dass der Hund jemanden gebissen hat.

Nach Thomas beruht menschliches Wissen auf einem Prozess, der von zwei kognitiven Fähigkeiten abhängig ist, nämlich von den Sinnen und dem Intellekt, bzw. dem Verstand. Selbstverständlich weiß Thomas, dass es noch weitere Fähigkeiten gibt, wie Erinnerung, Phantasie oder Vorstellungsvermögen, doch für die aktuelle Frage geht es besonders um diese beiden Fähigkeiten, die auch von den anderen Fähigkeiten vorausgesetzt werden. Thomas behauptet nun sogar, dass die Sinne hinsichtlich ihres eigentlichen Gegenstandes im Prinzip nicht irren können, außer akzidentell durch eine Erkrankung eines Sinnesorgans. Wenn das Auge, dessen primärer Gegenstand die Farben sind, gesund ist und die Bedingungen des Sehens (Licht) erfüllt sind, dann ist ein Irrtum ausgeschlossen. Das Objekt ist Verstandes ist die Wesenheit eines Dinges. Und auch hier ist Thomas der festen Überzeugung, dass der Verstand sich hinsichtlich seines primären Gegenstandes nicht irren kann.

Um dieses Vertrauen in die Sinne und den Verstand zu verstehen, muss man freilich die thomistische Erkenntnistheorie zumindest in ihren Grundzügen kennen. Einiges dazu habe ich in einem früheren Blogbeitrag angedeutet. und dabei auf ein Buch in deutscher Sprache von Dominik Perler hingewiesen. Eine noch bessere und ausführlichere Darstellung des gesamten Prozesses der Erkenntnis findet sich in dem genannten Buch „Aquinas“ von Eleonore Stump, allerdings sollte man dafür über gute Englischkenntnisse verfügen. Jeder der mehr erfahren möchte, sollte das 8. Kapitel dieses Buches lesen. Einen Einblick können Sie bei Google Books bekommen.

3 Kommentare:

  1. Frage: Inwieweit laesst sich die Anthropologie von Robert Spaemann (etwa in seinem Werk "Personen") als thomistisch interpretieren? Fuer Spaemann ist ja nur das Dasein der Person wirklich erkennbar (durch die Transzendenz des Menschen). Das Sosein, Wesen des Menschen bleibt fuer Spaemann ja als intentionales Objekt immer mit Irrtumsmoeglichkeit behaftet, wir koennen demnach das Wesen des Menschen nicht wirklich erkennen. Widerspricht hier Spaemann nicht der Ontologie/Erkenntnislehre des Thomas? Koennen Sie mir diese Frage auf ihrem Blogspot ev. beantworten. Vielen Dank. Adrian A.

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  2. Lieber Adrian A., Spaemann ist sowohl im engeren Sinne als auch im weiteren Sinne kein Thomist, was er auch selbst nicht beansprucht. Einige zentrale metaphysische Positionen sind allerdings deutlich von einer aristotelisch-thomistischen Philosophie beeinflusst, so seine zentrale Betonung der Zwecke und Ziele (Finalursachen). Ich kenne Spaemann persönlich, allerdings seine Philosophie nur sehr oberflächlich. Daher weiß ich nicht genau, was er mit der Erkennbarkeit des „Daseins der Person meint“. Auch kein Thomist behauptet, dass die Wesenheit des Menschen voll und ganz erkennbar ist (kein Wesen ist vollständig für uns erkennbar). Aus dem was wir über das Wesen des Menschen erkennen können (das er animal rationale ist), ergeben sich zahlreiche Schlussfolgerungen, z.B. für die Moral (Naturrecht). Viel schwieriger ist freilich die Erkenntnis des individuellen Wesens dieser oder jener Person. Doch was Spaemann konkret meint, weiß ich leider nicht. Jedenfalls ist seine Auffassung von Max Scheler, dem Personalismus, der Phänomenologie und Heidegger beeinflusst. Verschiedene Philosophen seiner Generation haben eine derartige Synthese zwischen Thomismus und neueren philosophischen Ansätzen des 20. Jahrhunderts versucht, z.B. Hans-Eduard Hengstenberg (+ 1998) oder Walter Hoeres. Ich halte diese Versuche für wenig erfolgversprechend und sie spielen im gegenwärtigen Neoaristotelismus bzw. der Scholastik 21 keine Rolle mehr.

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    1. Vielen herzlichen Dank fuer Ihre Antwort

      Ihr Adrian A.

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