Freitag, 15. März 2019

Warum der Verstand kein Gehirn braucht


Der folgende Text ist entnommen aus dem „Grundkurs Philosophie IV. Das Leib-Seele-Problem“ von Rafael Hüntelmann. In dem Text werden die wichtigsten Argumente für die Immaterialität des Geistes, bzw. des Verstandes vorgestellt:

Ganz offensichtlich sind sinnliche Wahrnehmungen auf materielle Organe angewiesen. Um Farben zu sehen, benötigen wir Augen, Sehnerven und ein Gehirn. Um Töne zu erfassen, müssen Schallwellen an unser Ohr gelangen und das Trommelfell muss in Schwingung versetzt werden, Schwingungen, die durch bestimmte Knochen und andere Organe weitergeleitet und in elektrische Impulse umgewandelt werden, die dann ins Gehirn gelangen.






Alle diese sinnlichen Vorgänge sind heutzutage sehr gut erforscht und können durch die Neurowissenschaft exakt beschrieben werden. Die Gegenstände aller sinnlichen Erkenntnisse sind immer einzelne, individuelle Gegenstände, diese bestimmte Braunfärbung der Kastanie, diese bestimmte Kastanie dort, dieser bestimmte Schall des Motorrades, dieser bestimmte Geruch einer Linsensuppe usw. Ich habe dies ausführlicher im dritten Band des Grundkurses beschrieben, der sich mit der Erkenntnistheorie beschäftigt. 


Der Gegenstand rationaler Erkenntnisse ist aber nicht etwas Individuelles. Darin besteht gerade die Besonderheit der rationalen Erkenntnis, dass ihr Gegenstand abstrakt ist. Abstrakt ist hier im wörtlichen Sinne zu verstehen. Rationale Erkenntnis kommt zustande durch Abstraktion. Der Geist, der Verstand abstrahiert alle unwesentlichen Bestimmungen von einer Entität und erfasst so die abstrakte Wesenheit dieser Entität. Dann stellt sich aber die Frage, welches Organ der Verstand hat? Welches Organ ist in der Lage, etwas Abstraktes zu erfassen? Mir scheint es offensichtlich zu sein, dass kein materielles Organ in der Lage ist, etwas Immaterielles – und abstrakte Entitäten sind zweifellos immateriell – zu erfassen. Darauf beruhen die Argumente für die Immaterialität des Verstandes, die ich nun kurz vorstellen möchte.



Das erste Argument für die Immaterialität des Geistes bzw. des Verstandes lautet also kurz zusammengefasst:



1. Jedes materielle Organ erfasst Individuelles.


2. Der menschliche Verstand erfasst Abstraktes bzw. Allgemeines.

3. Abstrakte Entitäten werden nicht von materiellen Organen erfasst.

4. Also ist der Verstand kein materielles Organ und benötigt kein materielles Organ, um seinen Gegenstand zu erfassen.

Die erste Prämisse ist offensichtlich und mir ist niemand bekannt, der sie in Frage stellt. Alle sinnlichen Wahrnehmungen brauchen auf jeden Fall Sinnesorgane und diese sind materiell. Die zweite Prämisse scheint mir auch nicht problematisch zu sein. Denn dass der Verstand in der Lage ist, abstrakte Entitäten zu erfassen, ist unumstritten. Selbst wenn man als Nominalist bestreiten sollte, dass es Begriffe, Universalien oder Propositionen gibt, kann auch der Nominalist nicht bestreiten, dass der Verstand es grundsätzlich mit allgemeinen Entitäten zu tun hat, vor allem aber kann er nicht bestreiten, dass es logische Gesetze und Schlussfolgerungen gibt, die natürlich abstrakt sind. Hinzu kommen mathematische und geometrische Sachverhalte, deren Existenz auch ein Nominalist nicht bestreiten kann. Wenn er auch jegliche Realität derselben bestreitet, so wird er doch zugestehen, dass der Verstand oder Intellekt solche mathematischen Sachverhalte, wie z.B. Mengen, akzeptiert.

Die dritte Prämisse ist weniger offensichtlich, doch sie ergibt sich bereits aus den beiden anderen Prämissen. Man könnte allerdings einwenden, dass nicht nur sinnliche Wahrnehmungen, sondern auch abstrakte Verstandeserkenntnisse ein Organ benötigen, nämlich das Gehirn selbst. Doch dagegensprechen, zumindest implizit, die beiden vorherigen Argumente. Alles Materielle ist individuiert und erfasst deshalb auch nur Individuelles. Wie soll es möglich sein, dass etwas Nicht-Individuelles von etwas Individuellem erfasst wird? Der Gegenstand der Erkenntnis muss dem Erkenntnisvermögen angemessen sein. Ein individuelles Erkenntnisvermögen kann aber nur Individuelles erkennen und nicht etwas Abstraktes. Nur ein Erkenntnisvermögen, das selbst nichtmateriell ist, kann etwas Nichtmaterielles erfassen, und dieses Vermögen ist der Verstand.

Das Argument lässt sich auch mit Bezug auf den Prozess der Ab­straktion selbst verdeutlichen (vgl. Hüntelmann 2014, 37). Wir nehmen mit den Sinnen verschiedene Dreiecke wahr: Dreiecke mit verschiedenen Farben, verschiedenen Formen und Größen, präzise gezeichnete Dreiecke und grob dargestellte Dreiecke, wir sehen Dreiecke aus verschiedenen Materialien, wir sehen einen Triangel aus Stahl und aus Kupfer usw. Der Verstand ist nun in der Lage, alle Besonderheiten dieser Dreiecke zu abstrahieren, um das Wesen des Dreiecks zu erfassen. Dabei sieht der Intellekt von den verschiedenen Formen, Farben, Materialien und Größen der Dreiecke ab und erfasst auf diese Weise das Wesen des Dreiecks, das darin besteht, eine geometrische Figur zu sein, deren Winkel zusammen 180° ausmachen oder deren Winkelsumme exakt der Winkelsumme zweier Rechtecke entspricht. Dieses abstrakte Dreieck ist frei von jeder sinnlichen Wahrnehmung, wenn auch die Vorstellung dieses Dreiecks im Bewusstsein stets durch eine sinnliche Wahrnehmung bestimmt wird und daher auch individuell ist. Doch die Vorstellung des Dreiecks ist nicht identisch mit dem Dreieck, d.h. mit dem Wesen oder der Idee oder dem Begriff des Dreiecks. Dieser Fehler, d.h. die Identifizierung des Begriffs des Dreiecks mit der Vorstellung des Dreiecks, findet sich bei David Hume und anderen Empiristen. Es ist ganz offensichtlich, dass das Dreieck als solches frei ist von allen individuierenden Bestimmungen, wie sie die Vorstellung oder die Wahrnehmung des Dreiecks auszeichnen. Dass das abstrakte Dreieck als solches, das immateriell ist und nur vom Verstand erfasst werden kann, immer von einer nicht-abstrakten Vorstellung eines Dreiecks im Bewusstsein begleitet wird, bedeutet weder, dass der Begriff mit der Vorstellung identisch ist, noch, dass das Dreieck als solches deshalb nicht abstrakt ist. Daher wäre ein empirischer Test, bei dem man untersuchen könnte, ob es beim Erfassen eines abstrakten Dreiecks durch den Verstand eine Gehirnaktivität im EKG oder in der Magnetresonanztomographie gibt, kein Beweis gegen die These der Immaterialität des Geistes, wenn es dabei zu nachweisbarer Gehirnaktivität käme. Denn jede abstrakte Tätigkeit des Verstandes wird von einer Vorstellung begleitet, die natürlich eine organische Tätigkeit erfordert. Dies gilt selbst von Ideen oder abstrakten Begriffen, die keine Beziehung mehr zu einer bestimmten Vorstellung oder sinnlichen Wahrnehmung haben, wie beispielsweise bei Begriffen wie „Gerechtigkeit“, „Freiheit“ oder einem „achtdimensionalen Raum“ der Geometrie. Es handelt sich hier um sehr weitgehende Abstraktionen, die aber, wie uns die Psychologie lehrt, immer von individuellen Vorstellungen begleitet werden. Der abstrakte Begriff selbst ist deshalb aber nicht individuell und damit ist auch der Verstand nicht auf ein Organ angewiesen. Es ist ein Selbstwiderspruch, anzunehmen, dass ein immaterielles Objekt, das unabhängig von Raum und Zeit und jeglichen materiellen Bestim­mungen ist, durch ein materielles Organ, das in Raum und Zeit ist, erfasst werden könne.

So viel zum ersten Argument für die Immaterialität des Verstandes und dazu, weshalb der Verstand kein Organ braucht. Ein weiteres Argument beruht auf dem Phänomen der Selbstreflexion. Mit Selbstreflexion ist die Fähigkeit des Verstandes gemeint, sich auf sein eigenes Denken zurückzubeziehen und dies zum Gegenstand eines weiteren Denkaktes zu machen. Keine einzige materielle Entität ist zu einer solchen Tätigkeit in der Lage. Materielle Entitäten wie Tiere sind in der Lage, sich auf bestimmte Tätigkeiten oder Vermögen zurückzubeziehen, jedoch nicht vollständig auf sich selbst. So ist es bei höheren Tieren möglich, dass sich ein Zentralsinn auf einen speziellen Sinn zurückbezieht. Der Verstand hingegen ist in der Lage sich selbst zu erkennen und seinen eigenen Erkenntnisakt in einer vollständigen Reflexion zu erfassen. Dies übersteigt alles Materielle und ist folglich selbst eine immaterielle Tätigkeit.

Ein drittes Argument für die Immaterialität des Verstandes ergibt sich aus bestimmten Überlegungen Aristoteles’, die von Thomas von Aquin aufgegriffen wurden. Dieses Argument lässt sich folgendermaßen zusammenfassen:

1. Wenn der Verstand aktual ein materielles Vermögen ist, dann erkennt der Verstand potenziell nur materielle Gegenstände.

2. Der Verstand erkennt potenziell alle Gegenstände.

3. Also ist der Verstand aktual kein materielles Vermögen.

Thomas erläutert dieses Argument mit einer Analogie zu den Sinneswahrnehmungen. Jedes sinnliche Vermögen hat nur ein bestimmtes und begrenztes Erkenntnisvermögen. So kann das Auge nur Farben sehen, aber keine Töne. Der Verstand ist potenziell in der Lage, alles zu erkennen, d.h., es gibt grundsätzlich keinen Gegenstand, den der Verstand nicht erkennen kann. Von Aristoteles stammt bekanntlich der Satz, der Verstand sei in gewisser Weise alles, weil er für alles aufgeschlossen ist. Der Verstand ist also nicht auf ein bestimmtes Gegenstandsgebiet eingeschränkt, wie das Auge auf Farben und die Ohren auf Töne. Und nun kommt Thomas zur Analogie zwischen sinnlicher und intellektueller Erkenntnis: Wenn das Sehen selbst grün wäre, dann wäre es indifferent gegenüber Farben und wäre damit nicht in der Lage, alle Farben zu erkennen, sondern nur grüne Farbschattierungen, wie dies bei altmodischen Sonnenbrillen der Fall ist. Das Sehvermögen ist aber in der Lage, potenziell alle Farben zu erkennen, und hat deshalb nicht selbst eine Farbe. Thomas überträgt nun diese Analogie auf den Verstand: Wenn der Verstand ein materieller Körper wäre, z.B. ein Gehirn, wäre er nicht in der Lage, potenziell alle Körper zu erkennen.

Ein viertes Argument für die Immaterialität des Verstandes, das auf den zuvor zitierten Satz des Aristoteles Bezug nimmt, der Geist sei in gewisser Weise alles, verweist auf die unbegrenzte Aufnahmefähigkeit des Verstandes. Während alle Sinnesorgane nur eine begrenzte Aufnahmefähigkeit besitzen und darüber hinaus krank werden oder sogar ihre Funktion einstellen, ist der Verstand unbegrenzt aufnahmefähig. So führen extreme sinnliche Eindrücke – extrem helles Licht (z.B. längeres Blicken in die Sonne) oder ex­trem laute Geräusche – zur Beeinträchtigung des Seh- bzw. Hörvermögens bis hin zur Blindheit oder Taubheit. Für den Verstand gibt es hingegen keine solchen Begrenzungen, da er zumindest potenziell für unendlich viele Er-kenntnisse aufnahmefähig ist.

Es gibt eine ganze Reihe weiterer Argumente, die von scholastischen Philosophen entwickelt wurden, um die Immaterialität des Verstandes zu begründen und damit zugleich zu zeigen, dass der Intellekt kein Gehirn benötigt. Um diesen Teil nicht noch weiter auszudehnen, verweise ich auf einschlägige Literatur.[1]

Wenn nun der Verstand grundsätzlich in der Lage ist, seine Tätigkeit ohne die sinnlichen Vermögen, oder allgemeiner gesagt, ohne körperliche Organe auszuüben, dann kann der Verstand oder der Geist auch grundsätzlich noch dann existieren, wenn der Körper zerstört, d.h. gestorben ist. Da die rationale Seele des Menschen wesentlich auf den Körper als Form des Leibes hingeordnet ist, ist sie auch wesentlich vom Leib abhängig. Im Unterschied zum kartesischen Dualismus ist die rationale Seele keine eigenständige Substanz. Deshalb ist auch die Person nicht mit der Seele identisch. Vielmehr ist die menschliche Person die Einheit von rationaler Seele und Körper. Wenn daher der Mensch stirbt, so ist die rationale Seele, die diesen Tod überlebt, da sie als immaterielle Entität unsterblich ist, weder ein vollständiger Mensch, keine vollständige Substanz, und also auch keine menschliche Person. Die rationale Seele ohne Leib ist, wie Thomas von Aquin sagt, eine unvollständige Substanz, etwas, das zwar „subsistiert“, der aber etwas Wesentliches fehlt. So vermag die rationale Seele nicht aus eigener Kraft neue Erkenntnisse zu erwerben und überhaupt irgendeine Tätigkeit zu vollziehen, die auf den Leib angewiesen ist. Es gibt viele weitere Implikationen, die mit der These verbunden sind, dass die rationale Seele nach dem Tod des Leibes auf immaterielle Weise weiterlebt, die ich aber in diesem Zusammenhang nicht weiter thematisieren muss, weil sie in den Bereich der Religionsphilosophie fallen 

Ich möchte noch einmal betonen, dass die Immaterialität der rationalen Seele keinen kartesischen Dualismus nach sich zieht, da die Seele, solange sie mit dem Leib verbunden ist, zwar zu immateriellen Tätigkeiten wie dem rationalen Denken in der Lage ist, aber doch vor allem die Form des Leibes ist. Daher ergeben sich eine ganze Reihe von Problemen, mit denen der kartesische Dualismus, aber auch andere dualistische Systeme konfrontiert sind, für den Hylemorphismus nicht. So ist z.B. die Seele nicht raum- und zeitlos, wie bei Descartes, sondern die Seele als Form des Leibes befindet sich genau dort, wo der Leib ist, sowohl räumlich als auch zeitlich. Auch ist der Hylemorphismus keine Variante des Eigenschaftsdualismus, weil Seele und Körper keine Eigenschaften des Menschen oder eines Organismus sind, sondern Ursachen, Prinzipien, aus denen der Mensch bzw. der Organismus besteht. Die Seele ist als Ganzes in jedem Teil des Körpers gegenwärtig, was man von keiner Eigenschaft behaupten könnte, die ja etwas an etwas anderem ist.



[1] Thomas von Aquin: Summa theologiae I. 75.2; ders.: Summa contra gentiles II. 4951; James Ross 1992; David Oderberg 2007, Kapitel 10; Edward Feser 2013, 132.

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