Dienstag, 24. November 2020

GOTT von Ferdinand von Schirach und die Sterbehilfe

 


Am 23. November wurde in der ARD ein Kammerspiel des Autors Ferdinand von Schirach gesendet, bei dem es um die sogenannte Sterbehilfe gab. Es ging um den konstruierten aber denkbaren Fall eines gesunden 78-jährigen Mannes, dessen Ehefrau unter großen Qualen gestorben war und der nun selbst von einem Arzt einen assistierten Selbstmord erbat. Dazu gab es eine Verhandlung vor einer Ethikkommission und die Zuschauen konnten zum Schluss entscheiden, ob es dem Mann, Herrn Gärtner, erlaubt sein soll, mit Hilfe eines Arztes, der ihm ein Medikament verabreicht, zu sterben. Kaum überraschend stimmten über 70% der Zuschauen mit einem „Ja“ ab. Ein zentrales Thema, das während der gesamten „Verhandlung“ im Zentrum stand, wurde allerdings außer Acht gelassen: Die Frage der „Autonomie“.


Die Verfilmung des Stückes von Ferdinand von Schirach war ausgezeichnet gemacht, auch weil keine der Positionen, die von den verschiedenen Kontrahenten vertreten wurden, bevorzugt dargestellt wurden. Daher konnte sich der Zuschauer ein gutes Bild von den Argumenten machen, die seit langem in der Debatte vorgetragen werden. Die anschließende Diskussion in der Sendung war deshalb überflüssig, weil sie keine neuen Argumente hinzufügte. Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Bätzing, blieb zudem deutlich hinter der Position des Bischofs im Schauspiel zurück, der eine klassisch-katholische Position verteidigte.

Im Hintergrund der Debatte stand während der gesamten Diskussion die Frage nach der Autonomie menschlicher Entscheidungen. Bei seinem Schlussplädoyer wurde dies von dem Verteidiger des fiktiven Herrn Gärtner auch auf den Punkt gebracht, wenn er sein Plädoyer mit der Frage einleitete: „Wem gehört mein Leben?“

Viele Entscheidungen in moralischen Fragen, sowohl bei der Formulierung von Gesetzen, als auch bei Urteilen der Gerichte und insbesondere des Bundesverfassungsgerichts (z.B. das Urteil vom Februar diesen Jahres), setzen voraus, dass der Mensch ein autonomes Wesen ist und auf der Grundlage dieser Autonomie über sein Leben frei entscheiden kann, zumindest dann, wenn er über diese Autonomie verfügt (was bei Kindern oder kranken und dementen Personen möglicherweise bezweifelt werden kann).

Was in der Debatte des Stückes und auch in der anschließenden Diskussion nicht diskutiert wurde, was aber das eigentliche Thema sein sollte, ist die Frage, was Autonomie bedeutet, ob es diese wirklich gibt und ob sie die Grundlage der Rechtsprechung sein kann. Hierzu deshalb einige Argumente in meinem Beitrag.

Die zentrale Bedeutung der Autonomie für die Ethik stammt von Immanuel Kant. Bei ihm bedeutet Autonomie soviel wie Selbstgesetzgebung. Durch den kategorischen Imperativ gibt sich der Mensch als rationales Wesen sein moralisches Gesetz selbst. Allerdings können sich die Verteidiger der Autonomie heute nicht auf Kant berufen, denn für ihn muss die Entscheidung frei von allen subjektiven Wünschen und Ansprüchen sein. Sonst wäre es z.B. möglich, dass ich mir ein oberste Maxime meines Handelns setze, reich und berühmt zu werden (vgl. O. Höffe: Ethik. München 2013, C.H. Beck, S. 70). Nach Kant wäre es deshalb auch unmöglich, eine Maxime zu setzen, nach der ich stets Leid zu vermeiden habe und dann auch das „Recht“ habe, bei Leid meinem Leben ein Ende zu setzen. Die Maxime meiner Handlungen muss ja so sein, dass sie jederzeit zum allgemeinen Gesetz werden kann. Der heutige Autonomiebegriff hingegen betrachtet nur den einzelnen Menschen. Die Autonomie ist auf eine mehr oder weniger absolute Freiheit des Individuums bezogen, dass aus sich selbst heraus und für sich selbst entscheidet, was sein soll, sofern nicht die Freiheit eines anderen beeinträchtigt wird.

In seinem Grundkurs Philosophie. Band 6: Natürliche Ethik, hat Rafael Hüntelmann das zentrale Argument für und gegen die Autonomie vorgestellt. Ich erleichtere mir hier meine Aufgabe, indem ich diese Passage zitiere (S. 168ff.):

 

„Beginnen wir mit der aktiven Sterbehilfe, und zwar auf Grund einer ausdrücklichen Willensäußerung des Patienten bzw. einer Person. Alle Argumente, die in der Debatte über die aktive Euthanasie für die Zulässigkeit dieser Art der Sterbehilfe angeführt werden, beruhen auf der Annahme der Autonomie der menschlichen Person (vgl. z. B. M. Quante, D. P. Schweikard, in: J.S. Ach, K. Bayertz, L. Siep 2011, 43ff.). Wie man auch immer die Autonomie bzw. die Selbstbestimmung der Person bestimmt, man geht davon aus, dass die bewusste Person die letzte Verfügungsgewalt über ihr Leben besitzt. „Der aus unserer Sicht entscheidende Nachteil der Lehre von der Heiligkeit des menschlichen Lebens besteht darin, dass sie mit der biographischen Verfasstheit der Identität von Personen nicht vereinbar ist, wenn diese Personen ihr eigenes Leben weder als eine ihnen von Gott gestellte Aufgabe noch als absoluten Wert betrachten. Eine liberalistische Position, welche Personen das Recht auf die eigene Bewertung der eigenen Existenz zuerkennt und die Qualität des Lebens von autonomen Personen entscheidend von dieser Selbstbewertung abhängen lässt, entspricht der pluralen und pluralistischen Verfasstheit unserer Kultur wesentlich besser“ (ibid., 43f.). Abgesehen davon, dass eine moralische Position zu Leben und Tod nicht von bestimmten Kulturen abhängig sein kann, sondern entweder wahr oder falsch ist, setzt dieses Argument, wie auch nahezu alle anderen Argumente für die aktive Sterbehilfe auf Grund der Selbstbestimmung der menschlichen Person, voraus, dass das menschliche Leben zu den veräußerlichen Rechten gehört. Doch genau das ist falsch, auch dann, wenn man den Begriff der „Heiligkeit des Lebens“ vermeiden möchte (Bittle 1950, 371). Das grundlegende Argument für ein Recht auf aktive Sterbehilfe lässt sich folgendermaßen ausdrücken:

 

Alle Rechte sind veräußerlich.

Es gibt ein Recht auf Leben.

Deshalb ist das Recht auf Leben veräußerlich.

 

Daraus folgt dann, dass eine Person mit einem gesunden Verstand, die rational denken kann und ihre Situation angemessen zu beurteilen vermag, das Recht auf die freie Bestimmung ihres eigenen Todeszeitpunkts hat (D. Oderberg 2005a, 55). Obwohl das Argument in einem logischen Sinne gültig ist, ist die erste Prämisse falsch. Vertreter eines Rechts auf aktive Sterbehilfe vergleichen das Recht auf Leben gelegentlich mit dem Recht auf Eigentum: Wenn Eigentumsrechte veräußerlich sind, warum sollte dann das eigene Leben nicht veräußerlich sein? Dabei wird vorausgesetzt oder auch ausdrücklich behauptet, dass das Recht auf Leben eine Art von Eigentumsrecht sei. Dies ist auch erkennbar im zuvor angeführten Zitat von Quante und Schweikard. Wir sind Eigentümer unseres Körpers, das Leben ist uns als Aufgabe übergeben worden und so besitzen wir das Leben im Prinzip so, wie wir unser Haus besitzen. Theistische Philosophen widersprechen dieser Auffassung durch den Hinweis, dass wir unser Leben von Gott geliehen bekommen haben, um dafür zu sorgen, und dass wir es ihm am Ende des Lebens, das Gott allein bestimmt, wieder zurückgeben. Doch auch unabhängig von einer theistischen Argumentation lässt sich zeigen, dass das Recht auf Leben kein Eigentumsrecht ist und dass es zugleich Hinweise darauf gibt, dass auch das Recht auf Eigentum unveräußerlich ist (D. Oderberg 2005a, 56f.).

Das Kennzeichen von Eigentum ist, dass es veräußert werden kann. Es kann verschenkt, verliehen oder verkauft werden. Dies bedeutet, dass Sie Ihr Recht auf dieses oder jenes Eigentum veräußern können. Was Sie aber nicht veräußern können, ist Ihr Recht auf Eigentum überhaupt, d. h. unabhängig von irgendeinem bestimmten Eigentum. Die Veräußerung dieses oder jenes bestimmten Rechts an Eigentum beinhaltet nicht die Veräußerung des Rechts auf Eigentum im Allgemeinen. Die Veräußerung des Rechts auf Ihr Leben beinhaltet allerdings die Veräußerung Ihres Rechts auf Leben im Allgemeinen, denn Sie haben nur ein Leben. Daher ist das Recht auf Eigentum an diesem oder jenem bestimmten Eigentum nicht vergleichbar mit dem Recht auf Ihr bestimmtes Leben. Wenn man beide Rechte in Analogie zueinander setzt, dann ist das Recht auf Eigentum überhaupt und im Allgemeinen ebenso unveräußerlich wie das Recht auf Leben.

 

Man könnte hier einwenden, dass es doch die Möglichkeit gibt, auch das Recht auf Eigentum im Allgemeinen zu veräußern, z. B. wenn jemand in ein Trappistenkloster eintritt und auf jegliches Eigentum freiwillig verzichtet. In diesem Fall sind zwei verschiedene Interpretationen möglich (Oderberg, ibid.). Nach der ersten Interpretation liegt kein Fall von Veräußerung des Rechts auf Eigentum im Allgemeinen vor, sondern nur eine Zustimmung, die Gesetze des Klosters zu halten, die privates Eigentum verbieten. Sollte der Mönch wieder aus dem Kloster austreten, kann er wieder sein Eigentumsrecht ausüben, das er nie grundsätzlich verloren hat. Nach einer zweiten Interpretation des Falles kann man davon ausgehen, dass es sich tatsächlich um eine Veräußerung handelt, aber nur um eine zeitlich begrenzte Veräußerung des Rechts auf Eigentum, die endet, sobald der Mönch die Gemeinschaft wieder verlässt. In beiden Fällen handelt es sich nicht um einen permanenten Verzicht auf das Recht auf Eigentum. Bei der Forderung nach einem Recht auf Sterbehilfe ist die Absicht, das Leben zu verlieren, dauerhaft. Sobald das Recht auf Leben erloschen ist, d. h. sobald die Person tot ist, kann das Recht nicht wieder zurückgeholt werden. Daher können das Recht auf Euthanasie und das Recht auf Eigentum nicht miteinander verglichen werden.

Von niemandem wird ernsthaft bestritten, dass die Autonomie der Person Grenzen hat. Autonomie bedeutet nicht die moralische Fähigkeit, zu tun, was man will, auch nicht in Bezug auf sich selbst. Kaum jemand wird eine Person dabei unterstützen, sich Heroin zu verabreichen, und die Autonomie der Person gibt ihr dazu auch kein Recht. Autonomie darf vor allem nicht gleichgesetzt werden mit der Vorrangigkeit des Willens. Doch genau dies geschieht vielfach in den gegenwärtigen Debatten über die personale Autonomie. Autonomie ist auch nicht die moralische Fähigkeit, alles zu tun, wovon man glaubt, dass es zur eigenen Selbstvervollkommnung beitrage. Es gibt, wofür ich ausführlich argumentiert habe, objektive Kriterien für das, was gut ist, bzw. für das, was zur Selbstvervollkommnung beiträgt, und deshalb kann jemand schlicht etwas Falsches glauben. Allein diese Möglichkeit des Irrtums bezüglich dessen, was gut für mich ist, bedeutet, dass die personale Autonomie begrenzt sein muss.

Kurz gesagt bedeutet dies, dass es kein Recht auf freiwillige Euthanasie als freiwillige geben kann. Die Freiwilligkeit einer Entscheidung zum Tod ist kein Argument dafür, dass eine solche Person ein Recht auf einen „selbstbestimmten“ Tod hat.“

 

 

 

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