Am 23. November wurde in der ARD ein Kammerspiel des Autors Ferdinand von Schirach gesendet, bei dem es um die sogenannte Sterbehilfe ging. Es ging um den konstruierten aber denkbaren Fall eines gesunden 78-jährigen Mannes, dessen Ehefrau unter großen Qualen gestorben war und der nun selbst von einem Arzt einen assistierten Selbstmord erbat. Dazu gab es eine Verhandlung vor einer Ethikkommission und die Zuschauen konnten zum Schluss entscheiden, ob es dem Mann, Herrn Gärtner, erlaubt sein soll, mit Hilfe eines Arztes, der ihm ein Medikament verabreicht, zu sterben. Kaum überraschend stimmten über 70% der Zuschauen mit einem „Ja“. Ein zentrales Thema, das während der gesamten „Verhandlung“ im Zentrum stand, wurde allerdings außer Acht gelassen: Die Frage der „Autonomie“.
Die Verfilmung des Stückes von Ferdinand von Schirach war
ausgezeichnet gemacht, auch weil keine der Positionen, die von den
verschiedenen Kontrahenten vertreten wurden, bevorzugt dargestellt wurden.
Daher konnte sich der Zuschauer ein gutes Bild von den Argumenten machen, die
seit langem in der Debatte vorgetragen werden. Die anschließende Diskussion in
der Sendung war deshalb überflüssig, weil sie keine neuen Argumente hinzufügte.
Der Vorsitzende der Deutschen Bischofskonferenz, Bischof Bätzing, blieb zudem
deutlich hinter der Position des Bischofs im Schauspiel zurück, der eine
klassisch-katholische Position verteidigte.
Im Hintergrund der Debatte stand während der gesamten Diskussion
die Frage nach der Autonomie menschlicher Entscheidungen. Bei seinem
Schlussplädoyer wurde dies vom Verteidiger des fiktiven Herrn Gärtner auch auf
den Punkt gebracht, wenn er sein Plädoyer mit der Frage einleitete: „Wem gehört
mein Leben?“
Viele Entscheidungen in moralischen Fragen, sowohl bei der Formulierung
von Gesetzen, als auch bei Urteilen der Gerichte und insbesondere des
Bundesverfassungsgerichts (z.B. das Urteil vom Februar 2020), setzen voraus,
dass der Mensch ein autonomes Wesen ist und auf der Grundlage dieser Autonomie
über sein Leben frei entscheiden kann, zumindest dann, wenn er über diese
Autonomie verfügt (was bei Kindern oder kranken und dementen Personen
möglicherweise bezweifelt werden kann).
Was in der Debatte des Stückes und auch in der
anschließenden Diskussion nicht diskutiert wurde, was aber das eigentliche
Thema sein sollte, ist die Frage, was Autonomie bedeutet, ob es diese wirklich
gibt und ob sie die Grundlage der Rechtsprechung sein kann. Hierzu möchte ich einige
Argumente beitragen, die bisher nicht zu lesen waren.
Die zentrale Bedeutung der Autonomie für die Ethik stammt
von Immanuel Kant. Bei ihm bedeutet Autonomie soviel wie Selbstgesetzgebung.
Durch den kategorischen Imperativ gibt sich der Mensch als rationales Wesen
sein moralisches Gesetz selbst. Allerdings können sich die Verteidiger der
Autonomie heute nicht auf Kant berufen, denn für ihn muss die Entscheidung frei
von allen subjektiven Wünschen und Ansprüchen sein. Sonst wäre es z.B. möglich,
dass ich mir ein oberste Maxime meines Handelns setze, reich und berühmt zu
werden (vgl. O. Höffe: Ethik. München 2013, C.H. Beck, S. 70). Nach Kant
wäre es deshalb auch unmöglich, eine Maxime zu setzen, nach der ich stets Leid
zu vermeiden habe und dann auch das „Recht“ habe, bei Leid meinem Leben ein
Ende zu setzen. Die Maxime meiner Handlungen muss ja so sein, dass sie
jederzeit zum allgemeinen Gesetz werden kann. Zudem ist nach Kant der Mensch
Selbstzweck und deshalb darf er seinem Leben nicht selbst ein Ende setzen. Der
heutige Autonomiebegriff hingegen betrachtet nur den einzelnen Menschen. Die
Autonomie ist auf eine mehr oder weniger absolute Freiheit des Individuums bezogen,
dass aus sich selbst heraus und für sich selbst entscheidet, was sein soll,
sofern nicht die Freiheit eines anderen beeinträchtigt wird.
In meinem Grundkurs Philosophie. Band 6: Natürliche Ethik (2017 S. 168ff.), habe ich das zentrale Argument für und gegen die
Autonomie im Zusammenhang mit der Sterbehilfe vorgestellt. Bei dem weiteren
Text handelt es sich um einen Auszug aus dem genannten Buch.
„Beginnen wir mit der aktiven Sterbehilfe, und zwar
auf Grund einer ausdrücklichen Willensäußerung des Patienten bzw. einer Person.
Alle Argumente, die in der Debatte über die aktive Euthanasie für die
Zulässigkeit dieser Art der Sterbehilfe angeführt werden, beruhen auf der
Annahme der Autonomie der menschlichen Person (vgl. z. B. M. Quante, D. P.
Schweikard, in: J.S. Ach, K. Bayertz, L. Siep 2011, 43ff.). Wie man auch immer
die Autonomie bzw. die Selbstbestimmung der Person bestimmt, man geht davon
aus, dass die bewusste Person die letzte Verfügungsgewalt über ihr Leben besitzt.
„Der aus unserer Sicht entscheidende Nachteil der Lehre von der Heiligkeit des
menschlichen Lebens besteht darin, dass sie mit der biographischen Verfasstheit
der Identität von Personen nicht vereinbar ist, wenn diese Personen ihr eigenes
Leben weder als eine ihnen von Gott gestellte Aufgabe noch als absoluten Wert
betrachten. Eine liberalistische Position, welche Personen das Recht auf die
eigene Bewertung der eigenen Existenz zuerkennt und die Qualität des Lebens von
autonomen Personen entscheidend von dieser Selbstbewertung abhängen lässt,
entspricht der pluralen und pluralistischen Verfasstheit unserer Kultur
wesentlich besser“ (ibid., 43f.). Abgesehen davon, dass eine moralische
Position zu Leben und Tod nicht von bestimmten Kulturen abhängig sein kann,
sondern entweder wahr oder falsch ist, setzt dieses Argument, wie auch nahezu
alle anderen Argumente für die aktive Sterbehilfe auf Grund der
Selbstbestimmung der menschlichen Person, voraus, dass das menschliche Leben zu
den veräußerlichen Rechten gehört.
Doch genau das ist falsch, auch dann, wenn man den Begriff der „Heiligkeit des
Lebens“ vermeiden möchte (Bittle 1950, 371). Das grundlegende Argument für ein
Recht auf aktive Sterbehilfe lässt sich folgendermaßen ausdrücken:
Alle Rechte sind veräußerlich.
Es gibt ein Recht auf Leben.
Deshalb ist das Recht auf
Leben veräußerlich.
Daraus folgt dann, dass eine Person mit einem gesunden
Verstand, die rational denken kann und ihre Situation angemessen zu beurteilen
vermag, das Recht auf die freie Bestimmung ihres eigenen Todeszeitpunkts hat
(D. Oderberg 2005a, 55). Obwohl das Argument in einem logischen Sinne gültig
ist, ist die erste Prämisse falsch. Vertreter eines Rechts auf aktive
Sterbehilfe vergleichen das Recht auf Leben gelegentlich mit dem Recht auf
Eigentum: Wenn Eigentumsrechte veräußerlich sind, warum sollte dann das eigene
Leben nicht veräußerlich sein? Dabei wird vorausgesetzt oder auch ausdrücklich
behauptet, dass das Recht auf Leben eine Art von Eigentumsrecht sei. Dies ist
auch erkennbar im zuvor angeführten Zitat von Quante und Schweikard. Wir sind
Eigentümer unseres Körpers, das Leben ist uns als Aufgabe übergeben worden und
so besitzen wir das Leben im Prinzip so, wie wir unser Haus besitzen.
Theistische Philosophen widersprechen dieser Auffassung durch den Hinweis, dass
wir unser Leben von Gott geliehen bekommen haben, um dafür zu sorgen, und dass
wir es ihm am Ende des Lebens, das Gott allein bestimmt, wieder zurückgeben.
Doch auch unabhängig von einer theistischen Argumentation lässt sich zeigen,
dass das Recht auf Leben kein Eigentumsrecht ist und dass es zugleich Hinweise
darauf gibt, dass auch das Recht auf Eigentum unveräußerlich ist (D. Oderberg
2005a, 56f.).
Das Kennzeichen von Eigentum ist, dass es veräußert
werden kann. Es kann verschenkt, verliehen oder verkauft werden. Dies bedeutet,
dass Sie Ihr Recht auf dieses oder jenes Eigentum veräußern können. Was Sie
aber nicht veräußern können, ist Ihr Recht
auf Eigentum überhaupt, d. h. unabhängig von irgendeinem bestimmten Eigentum.
Die Veräußerung dieses oder jenes bestimmten Rechts an Eigentum beinhaltet
nicht die Veräußerung des Rechts auf Eigentum im Allgemeinen. Die Veräußerung
des Rechts auf Ihr Leben beinhaltet allerdings die Veräußerung Ihres Rechts auf
Leben im Allgemeinen, denn Sie haben nur ein
Leben. Daher ist das Recht auf Eigentum an diesem oder jenem bestimmten
Eigentum nicht vergleichbar mit dem Recht auf Ihr bestimmtes Leben. Wenn man
beide Rechte in Analogie zueinander setzt, dann ist das Recht auf Eigentum
überhaupt und im Allgemeinen ebenso unveräußerlich wie das Recht auf Leben.
Man könnte hier einwenden, dass es doch die
Möglichkeit gibt, auch das Recht auf Eigentum im Allgemeinen zu veräußern, z.
B. wenn jemand in ein Trappistenkloster eintritt und auf jegliches Eigentum
freiwillig verzichtet. In diesem Fall sind zwei verschiedene Interpretationen
möglich (Oderberg, ibid.). Nach der ersten Interpretation liegt kein Fall von
Veräußerung des Rechts auf Eigentum im Allgemeinen vor, sondern nur eine
Zustimmung, die Gesetze des Klosters zu halten, die privates Eigentum
verbieten. Sollte der Mönch wieder aus dem Kloster austreten, kann er wieder
sein Eigentumsrecht ausüben, das er nie grundsätzlich verloren hat. Nach einer
zweiten Interpretation des Falles kann man davon ausgehen, dass es sich
tatsächlich um eine Veräußerung handelt, aber nur um eine zeitlich begrenzte
Veräußerung des Rechts auf Eigentum, die endet, sobald der Mönch die Gemeinschaft
wieder verlässt. In beiden Fällen handelt es sich nicht um einen permanenten
Verzicht auf das Recht auf Eigentum. Bei der Forderung nach einem Recht auf
Sterbehilfe ist die Absicht, das Leben zu verlieren, dauerhaft. Sobald das
Recht auf Leben erloschen ist, d. h. sobald die Person tot ist, kann das Recht
nicht wieder zurückgeholt werden. Daher können das Recht auf Euthanasie und das
Recht auf Eigentum nicht miteinander verglichen werden.
Von niemandem wird ernsthaft bestritten, dass die
Autonomie der Person Grenzen hat. Autonomie bedeutet nicht die moralische
Fähigkeit, zu tun, was man will, auch nicht in Bezug auf sich selbst. Kaum
jemand wird eine Person dabei unterstützen, sich Heroin zu verabreichen, und
die Autonomie der Person gibt ihr dazu auch kein Recht. Autonomie darf vor
allem nicht gleichgesetzt werden mit der Vorrangigkeit des Willens. Doch genau
dies geschieht vielfach in den gegenwärtigen Debatten über die personale
Autonomie. Autonomie ist auch nicht die moralische Fähigkeit, alles zu tun,
wovon man glaubt, dass es zur eigenen
Selbstvervollkommnung beitrage. Es gibt, wofür ich ausführlich argumentiert
habe, objektive Kriterien für das, was gut ist, bzw. für das, was zur
Selbstvervollkommnung beiträgt, und deshalb kann jemand schlicht etwas Falsches
glauben. Allein diese Möglichkeit des Irrtums bezüglich dessen, was gut für
mich ist, bedeutet, dass die personale Autonomie begrenzt sein muss.
Kurz gesagt bedeutet dies, dass es kein Recht auf
freiwillige Euthanasie als
freiwillige geben kann. Die Freiwilligkeit einer Entscheidung zum Tod ist kein
Argument dafür, dass eine solche Person ein Recht auf einen „selbstbestimmten“
Tod hat.“
Bibliografie
Ach, Johannes
S.; Bayertz, Kurt; Quante, Michael; Siep, Ludwig (Hrsg.) (2011): Grundkurs Ethik 2. Anwendungen. Paderborn: Mentis Verlag.
Bittle, N. Celestine (1950): Man and Morals. Ethics. Milwaukee: Bruce
Publishing Company.
Höffe,
Otfried (2013): Ethik. Eine Einführung. München: C.H.
Beck
Hüntelmann, Rafael (2017): Natürliche Ethik. Grundkurs Philosophie 6.
Neunkirchen-Seelscheid (editiones scholasticae).
Oderberg, David S. (22005a):
Applied Ethics. A Non-Consequentialist
Approach. Malden, Oxford, Carton: Blackwell.
Von Dr. Rafael Huentelmann, erschienen in der Zeitschrift THEOLOGISCHES, Januar/Februar 2021.
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