Donnerstag, 18. April 2024

Geist, Materie und Formbarkeit. Von Descartes zum Konstruktivismus


Wir setzen unseren Blick auf Jacques Maritains Three Reformers: Luther, Descartes, Rousseau fort und wollen einige interessante Passagen über das Menschenbild betrachten, das die moderne Welt von Descartes geerbt hat.  Maritain untertitelt sein Kapitel zu diesem Thema mit "Die Inkarnation des Engels".  Wie zu erwarten, hat dies zum Teil mit der Auffassung des kartesischen Dualisten zu tun, dass der Geist eine res cogitans oder denkende Substanz ist, deren Natur gänzlich unkörperlich ist, so dass sie nur zufällig mit dem Körper verbunden ist.  Maritain interessiert sich jedoch vor allem für die kartesische Lehre von den eingeborenen Ideen und ihre Auswirkungen.


Für einen scholastischen Aristoteliker wie Thomas von Aquin ist der menschliche Intellekt zwar immateriell, aber leer, solange er nicht durch Sinneserfahrung mit der vom Geist unabhängigen physischen Realität in Berührung kommt.  Selbst wenn er sich in die höchsten Höhen der Metaphysik erhebt und etwas über die immaterielle und göttliche erste Ursache aller Dinge erfährt, tut er dies nur auf der Grundlage von Schlussfolgerungen aus dem, was er über die Materie weiß.  Der Intellekt eines Engels hingegen ist völlig unabhängig von der Materie und damit von den Sinnesorganen.  Sein Wissen wird ihm bei seiner Erschaffung gewissermaßen eingeimpft.  Und da es Gott ist, der es ihm zur Verfügung stellt, gibt es natürlich keine Möglichkeit eines Irrtums, solange der Engel willens ist, auf das zu achten, was er weiß.

 

Descartes' Darstellung der menschlichen Erkenntnis gleicht sie im Wesentlichen diesem Engelsmodell an.  Für ihn ist das Wissen um die Grundstruktur der Wirklichkeit angeboren und nicht aus der Sinneserfahrung abgeleitet.  Dazu gehört auch das Wissen um die Natur der materiellen Dinge.  Wir brauchen uns bei unseren Urteilen nur darauf zu beschränken, die Sätze und Schlussfolgerungen zu akzeptieren, die uns "klar und deutlich" als wahr bzw. gültig erscheinen, denn Gott würde nicht zulassen, dass wir uns darüber täuschen.  Ein Irrtum schleicht sich nur dann ein, wenn der Wille diese Grenze überschreitet und eine Behauptung oder Schlussfolgerung annimmt, die nicht klar und eindeutig ist.  Eine rein mathematische Auffassung der Materie ist eine natürliche Begleiterscheinung dieser Darstellung des Wissens, denn nur sie verfügt über die erforderliche Klarheit und Eindeutigkeit.

 

Das Problem besteht natürlich darin, dass wir keine Engel sind, dass uns keine unfehlbare Urteilsfähigkeit innewohnt und dass wir die Beschaffenheit von Dingen, die vom Geist unabhängig sind, nicht aus unseren Vorstellungen von ihnen ablesen können.  Wenn wir also das menschliche Wissen im Lichte des falschen Modells von Descartes interpretieren, sind wir gezwungen, es ernsthaft misszuverstehen.  Einerseits könnten wir in einen Dogmatismus verfallen, der fälschlicherweise eine bestimmte erfolgreiche - aber dennoch begrenzte und fehlbare - Art und Weise, die Welt zu begreifen, als eine erschöpfende und notwendige Art und Weise ansieht, dies zu tun.  Andererseits könnten wir in einen Subjektivismus verfallen, der daran verzweifelt, jemals über unsere eigenen Vorstellungen hinaus zur objektiven Realität zu gelangen.  Beide Tendenzen resultieren daraus, dass wir unsere eigenen Vorstellungen von der Welt für alles halten, was wir wirklich direkt wissen.  Die erste Tendenz, die davon ausgeht, dass diese Darstellungen der Realität engelsgleich entsprechend sind, führt zu übermäßigem Optimismus.  Die zweite Tendenz, die zu der Einsicht gelangt, dass unsere Vorstellungen nicht engelsgleich sind, führt zu übermäßigem Pessimismus.

 

Kant hat diese beiden gegensätzlichen extremen Irrtümer des Dogmatismus und des Subjektivismus nicht überwunden, sondern sie miteinander kombiniert.  Auf der einen Seite nimmt er das, was im Grunde nur eine moderne, nachkartesianische Darstellung der Natur der Realitätserkenntnis des Geistes ist, und dogmatisiert es – indem er unser Wissen über die natürliche Welt auf das beschränkt, was uns die postnewtonsche Wissenschaft darüber zu sagen hat, und jedes echte Wissen über das, was die natürliche Welt übersteigt (wie die Existenz Gottes und die Unsterblichkeit der Seele), völlig ausschließt.  Andererseits betrachtet er auch unser Wissen über die natürliche Welt nur als Wissen darüber, wie sie uns erscheint, und nicht über die Dinge, wie sie an sich sind.

 

Das Ergebnis, sagt Maritain, ist folgendes:

 

Mit [Descartes'] Theorie der gegenständlichen Ideen erreichen die Ansprüche der kartesischen Vernunft auf Unabhängigkeit von äußeren Objekten ihren höchsten Punkt: Das Denken bricht mit dem Sein.  Es bildet eine abgeschlossene Welt, die mit nichts mehr in Berührung kommt als mit sich selbst; seine Ideen, nun undurchsichtige Abbilder, die zwischen ihm und den äußeren Objekten stehen, sind für Descartes immer noch eine Art Auskleidung der realen Welt... Hier vollendet Kant wiederum Descartes' Werk.  Wenn der Verstand, wenn er denkt, unmittelbar nur seinen eigenen Gedanken oder seine Vorstellungen erreicht, so bleibt das hinter diesen Vorstellungen verborgene Ding für immer unerkennbar. (p. 78)

 

Ironischerweise ist die Folge jedoch nicht größere Demut, sondern eher eine stolze Selbstvergötterung.  Wenn er keine von ihm unabhängige Realität erkennen kann, beschließt der moderne Verstand nur allzu oft, sich selbst zum Maßstab der Realität zu machen:

 

Das Ergebnis einer Usurpation der engelsgleichen Privilegien, diese über die Grenzen ihrer Art hinaus getriebene Denaturierung der menschlichen Vernunft, diese Gier nach reiner Spiritualität, konnte nur bis ins Unendliche gehen: Über die Welt der geschaffenen Geister hinaus musste sie uns dazu bringen, für unsere Intelligenz die vollkommene Autonomie und die vollkommene Immanenz, die absolute Unabhängigkeit, die Aseität der ungeschaffenen Intelligenz zu beanspruchen... [Es] bleibt das geheime Prinzip des Zerfalls unserer Kultur und der Krankheit, an der der abtrünnige Westen zu sterben entschlossen scheint...

 

[Weil es eine absolute und unbestimmte Freiheit für sich selbst will, ist es natürlich, dass sich das menschliche Denken seit Descartes weigert, objektiv gemessen zu werden oder sich intelligiblen Notwendigkeiten zu unterwerfen.  Die Freiheit in Bezug auf das Objektive ist die Mutter und Amme aller modernen Freiheiten... wir werden durch nichts mehr gemessen, sind nichts mehr unterworfen!  Die intellektuelle Freiheit, die Chesterton mit der der Rübe verglich (und das ist eine Beleidigung für die Rübe) und die streng genommen nur zur Urmaterie gehört. (S. 79-80)

 

Daher die Spielarten des Idealismus und Relativismus (Perspektivismus, Historismus, Sozialkonstruktivismus, Postmoderne usw.), die das westliche Denken und die Kultur in den Jahrhunderten nach Kant geplagt haben.

 

Das ist natürlich eine alte Geschichte, und eine kompliziertere, als diese Bemerkungen von Maritain vermuten lassen.  Aber darauf möchte ich hier nicht eingehen.  Was mir vielmehr ins Auge sticht, ist der Vergleich des modernen Geistes (wie er dazu neigt, sich selbst zu begreifen) mit der "Urmaterie".  Was meint Maritain damit?

 

In der aristotelisch-scholastischen Philosophie ist die Urmaterie die reine Potentialität, die eine Form annehmen kann.  Die Urmaterie an sich ist überhaupt kein bestimmtes Ding.  Sie wird erst dann zu einem konkreten besonderen Ding – Wasser, Gold, Blei, ein Stern, ein Baum, ein Hund, ein menschlicher Körper oder was auch immer -, wenn sie sich mit einer substanziellen Form verbindet.  Und qua reiner Formpotentialität kann sie jedes dieser Dinge werden.  Sie ist nicht darauf beschränkt, ein physisches Ding nur einer bestimmten Art zu sein (wie sekundäre Materie, Materie, die bereits eine substanzielle Form oder etwas anderes hat).  (Zur Diskussion und Verteidigung des Begriffs der primären Materie siehe S. 171-75 der Scholastic Metaphysics  und S. 310-24 von Aristoteles' Revenge ).

 

Maritains Analogie ist also klar genug.  So wie die Urmaterie zu allem werden kann (oder zumindest zu allem Physischen, um genauer zu sein), so machen auch konstruktivistische und relativistische Theorien aus der menschlichen Natur etwas unendlich Formbarem.  Auf den ersten Blick mag dies für einen aristotelisch-thomistischen Philosophen wie Maritain eine seltsame Kritik an solchen Ansichten sein.  Denn Aristoteles vertritt die Auffassung, dass Wissen bedeutet, dass der Intellekt die Form des Erkannten annimmt.  Und es gibt keine prinzipielle Grenze für die Formen, die der Intellekt auf diese Weise annehmen kann.  Tatsächlich bemerkt Aristoteles in De Anima, dass angesichts dieser Macht des Intellekts, die Formen aller Dinge anzunehmen, "die Seele in gewisser Weise alle Dinge ist, die existieren" (Buch III, Kapitel 8).  Wenn aber die Aristoteliker selbst zulassen, dass der Intellekt in diesem Sinne zu allem werden kann, warum gibt es dann ein Problem mit den Ansichten, die Maritain kritisiert, die etwas Ähnliches sagen?  Und warum vergleichen diese Auffassungen die menschliche Natur mit der Urmaterie und nicht mit Aristoteles' eigener Auffassung des Intellekts?

 

Die Antwort findet sich in der Beantwortung einer anderen Frage, nämlich: Was ist der Unterschied zwischen der Art und Weise, wie die Urmaterie eine bestimmte Form annimmt, und der Art und Weise, wie der Intellekt sie annimmt?  Der Unterschied ist der folgende: Wenn die Urmaterie die Form eines Hundes annimmt, ist das Ergebnis ein Hund.  Aber wenn der Intellekt die Form eines Hundes annimmt, ist das Ergebnis kein Hund.  Vielmehr ist es das Wissen um einen Hund.  Wenn Aristoteles sagt, dass die Seele – oder genauer gesagt, ein bestimmtes Vermögen der Seele, der Intellekt – alles ist, spricht er natürlich im übertragenen Sinne.  Der Intellekt wird nicht wirklich zu einem Hund, wenn er die Form eines Hundes annimmt.  Allerdings ist die Redewendung treffend, denn indem er die Form eines Hundes annimmt, nimmt der Intellekt das Wesen eines Hundes an.  Der Intellekt nimmt die "Hundheit" an.  Aber ihn nur intellektuell anzunehmen, bedeutet eben, ihn anzunehmen, ohne tatsächlich ein Hund zu sein.  Im Gegensatz dazu bedeutet die Übernahme dieser Natur durch die Materie, dass sie auf eine Art und Weise übernommen wird, die es erfordert, ein Hund zu sein.

 

Dies sollte deutlich machen, warum Maritains Analogie angemessen ist.  Auffassungen, die die Wirklichkeit als relativ zu unserer Wahrnehmung, unserer Sprache, unseren Konventionen usw. betrachten, machen den Menschen zu so etwas wie einer Urmaterie, da sie voraussetzen, dass das, was ein Mensch ist (und nicht nur das, was ein Mensch weiß), unbegrenzt formbar ist und sich mit Veränderungen der Wahrnehmung, der Sprache, der Konventionen usw. verändern kann.  Tatsächlich trifft das auf uns nicht zu.  Wir sind unter anderem von Natur aus rationale Sinneswesen, und keine Veränderung unserer Wahrnehmung, Sprache, Konventionen oder dergleichen kann daran etwas ändern.  Solche Veränderungen können uns höchstens für die Realität blind machen, ohne jedoch die Realität selbst zu verändern.

 

Quelle: EdwardFeser.blogspot.com 

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