Thomas von Aquin und die ihm folgenden Philosophen sehen im Unterschied zwischen der Wesenheit (das, was etwas ist) und Existenz, (dass es ist) einen realen Unterschied, also einen Unterschied, der nicht nur von uns gedacht wird. Bei Aristoteles finden sich bezüglich dieser Frage keine klaren Aussagen. Schon kurz nach Thomas wurde diese Auffassung des Unterschieds zwischen Wesenheit und Existenz durch Duns Scotus in Frage gestellt, der den Unterschied als „formale Differenz“ betrachtet und in der späteren Scholastik vertritt auch Franz Suarez die Auffassung, dass sich Wesenheit und Existenz nur „virtuell“ unterscheiden. In breiten Teilen der Gegenwartsphilosophie wird dieses Problem nicht mehr diskutiert, da man bestreitet, dass es überhaupt Wesenheiten gibt.
Im Wesentlichen lässt sich der Unterschied zwischen Thomas von Aquin und Duns Scotus bzw. Suarez auf ein unterschiedliches Verständnis dessen zurückführen, was ein „realer Unterschied“ ist, wie Edward Feser in seinem jüngsten Buch ausführlich darstellt.
Für Thomas ist ein realer Unterschied, d.h. ein Unterschied, der unabhängig von unserem Denken in der Welt selbst besteht, auch dann gegeben, wenn die beiden Teile sich nicht trennen lassen. Für Scotus und Suarez hingegen ist ein realer Unterschied nur dann gegeben, wenn die Teile trennbar sind. Da auch Thomas der festen Überzeugung ist, dass es keine Wesenheiten gibt, die nicht existieren und keine Existenz ohne Wesenheit, liegt für Scotus und Suarez nahe zu behaupten, dass Wesenheit und Existenz nur gedanklich, bzw. formal oder virtuell verschieden sind.
Thomas von Aquin muss somit dafür argumentieren, dass es reale Unterschiede gibt die nicht bedeuten, dass das Unterschiedene auch getrennt ist. Natürlich sind die meisten realen Unterschiede mit einer Trennung verbunden. So ist der Unterschied zwischen Ihnen, die Sie diesen Blogbeitrag lesen und mir, der ich diesen Beitrag geschrieben habe, ein realer Unterschied. Wir beide sind real voneinander verschieden und nicht bloß logisch (gedanklich), oder „formal“ bzw. „virtuell“. Welches Argument führt Thomas für die These an, dass nicht jeder reale Unterschied auch mit einer Trennung oder Trennbarkeit des Unterschiedenen verbunden ist?
Zunächst kann man darauf verweisen, dass die Trennbarkeit des Unterschiedenen nicht das einzige Kriterium für eine reale Differenz ist. Ein weiteres Kriterium besteht in der Gegensätzlichkeit der Begriffe. Zwei Begriffe, die entgegengesetzt sind, weisen darauf hin, dass es sich um zwei verschiedene Dinge handelt. So ist der Unterschied zwischen den Begriff „Materialität“ und „Immaterialität“ ein realer Unterschied, denn beide sind sich entgegengesetzt (E. Feser 2014, 74). Ein drittes Kriterium, das ebenfalls gelegentlich für das Vorliegen einer realen Differenz angeführt wird, ist die Wirkursächlichkeit. Wenn A die Wirkursache von B ist, müssen A und B real verschieden sein.
Ein klares Kriterium für eine nicht-reale, virtuelle oder logische Unterscheidung liegt darin, dass man diese Unterscheidung nicht ohne die Tätigkeit des Verstandes entdecken kann, dass dieser Unterschied nur insofern besteht, als es ein denkendes Wesen gibt, das diesen Unterschied macht.
Wir haben nun drei Kriterien für eine reale Unterscheidung gefunden. Wenn nun die Trennbarkeit des Unterschiedenen nicht das einzige Kennzeichen für eine reale Verschiedenheit ist, so könnte sie zumindest ein notwendiges Kriterium sein. Doch genau dies wird von Thomas von Aquin bestritten. Thomas unterscheidet zur Begründung seiner Auffassung zwischen einer realen physischen und einer realen metaphysischen Unterscheidung. Ein realer physischer Unterschied setzt in der Tat die Trennbarkeit voraus. Physisch real verschieden sind nur solche Dinge, die voneinander getrennt existieren können. Hunde, Pferde, Autobahnen, Fritz und Dagmar sind physisch real verschiedene Dinge und sie kommen auch getrennt voneinander vor, denn Fritz ist nicht Dagmar und auch keine Autobahn oder ein Pferd. Ein metaphysischer Unterschied hingegen beinhaltet keine Trennbarkeit des Unterschiedenen. Und um eben einen solchen metaphysischen Unterschied handelt es sich beim Unterschied zwischen Wesenheit und Existenz.
Duns Scotus führt nun eine dritte Form der Unterscheidung an, die zwischen einem bloß logischen und einem realen Unterschied bestehen soll, nämlich der von ihm so bezeichnete „formale Unterschied“. Was Scotus genau mit „formal“ meint, ist in der Forschung umstritten und ohnehin ist Scotus ein schwer verständlicher Philosoph. Ich möchte hier nicht versuchen, diesen Begriff näher zu erläutern, sondern verweise dazu auf das bereits erwähnte neue Buch von Edward Feser (S. 75 u.a.). Die Kritik an dieser dritten Form der Unterscheidung besteht darin, dass man zeigen kann, dass sie nicht selbständig ist, dass es sich gar nicht um eine dritte Form der Unterscheidung handelt, sondern dass sie auf eine reale oder eine logische Unterscheidung zurückführbar ist.
David Oderberg hat zur Begründung der thomistischen Auffassung, dass ein realer Unterscheid nicht die Trennbarkeit beinhaltet, Beispiele angeführt, die dies belegen. Ein Kreis hat einen Radius und einen Umfang. Zwischen beiden gibt es offensichtlich einen realen Unterschied, d.h. die Eigenschaften „einen Radius zu haben“ und „einen Umfang zu haben“ sind real verschieden. Doch gleichzeitig gibt es keinen Kreis, der nicht zugleich einen Umfang und einen Radius hat. Dass Radius und Umfang real verschieden sind lässt sich daraus ersehen, dass der Umfang das Doppelte des Radius multipliziert mit pi ist.
Mir scheinen die Argumente für die reale metaphysische Verschiedenheit von Wesenheit und Existenz überzeugend. Man könnte zusätzlich die Folgen aufzeigen, die sich dadurch ergeben, dass man behauptet, Wesenheit und Existenz seien nicht real verschieden. In Bezug zur natürlichen Theologie (oder Theodizee, d.h. der Erkenntnis Gottes ohne Bezug zur Offenbarung, allein aus dem menschlichen Verstand) behauptet Thomas von Aquin, dass nur bei Gott Wesenheit und Existenz identisch sind, dass Gott seine Existenz ist, dass Gottes Wesen darin besteht zu existieren. Daraus folgt dann, dass Gott notwendigerweise existiert, d.h. dass er nicht nicht sein kann. Dies würde aber auch für alle anderen Entitäten folgen, wenn Wesenheit und Existenz nicht real verschieden wären: alles was existiert würde dann notwendigerweise existieren, was den Tatsachen widerspricht, denn ich habe einmal nicht existiert und existiere deshalb durchaus nicht notwendig.
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