Die Theorie Akt und Potenz bildet das Fundament der aristotelischen-thomistischen Philosophie. Beide kommen bei allen geschaffenen Entitäten nur zusammen vor. Akt und Potenz stehen in Beziehung zueinander und die Frage lautet: Um welche Art der Beziehung handelt es sich bei Akt und Potenz? Die scholastische Philosophie unterscheidet nämlich drei verschiedene Arten von Relationen: reale, logische und formale Relationen. Ob es sich bei der „formalen Relation“, die nur bei Duns Scotus vorkommt, um eine eigenständige Art der Relation handelt, ist eine weitere Frage. Und innerhalb der scholastischen Philosophie ist die Antwort auf die Frage, welche Art der Relation die Beziehung zwischen Akt und Potenz ist, umstritten.
Ebenso umstritten ist unter Scholastikern, was den Akt begrenzt. Um das Beispiel aus früheren Beiträgen wieder aufzugreifen: ein bestimmter aktualer Ball ist rund aber in einer begrenzten Weise insofern als die Rundheit als solche eine vollkommene Rundheit ist, während der Ball nicht vollkommen rund ist (denn es gibt immer eine wenn auch nur minimale Unvollkommenheit bei jedem Ball). Die Rundheit selbst ist ein Universale, etwas Allgemeines, dass in allen runden Gegenständen instanziiert ist und auch in diesem Sinne ist die Rundheit als solche in einem bestimmten einzelnen Gegenstand wie dem Ball in Raum und Zeit begrenzt. Nach thomistischer Auffassung ist der Grund dieser Begrenzung allein die Potenz.
Duns Scotus und Suarez und ihre Schulen vertreten hingegen die Auffassung, dass die Begrenzung der Aktualität der Dinge durch die Ursache der Dinge gegeben wird. Die Rundheit des Balls ist deshalb begrenzt, weil die Ursache des Balls nur eine begrenzte Rundheit in den Ball „hineingibt“. Die Rundheit ist begrenzt durch diese bestimmte Zeit und diesen bestimmten Ort, weil die Ursache zu dieser bestimmten Zeit und an diesem bestimmten Ort wirkt. Die Thomisten widersprechen dieser Theorie eines extrinsischen Prinzips der Begrenzung, weil sie argumentieren, dass eine extrinsische, äußere Begrenzung nur möglich ist, wenn es ein intrinsisches, innere Prinzip der Begrenzung gibt, durch das die Ursache die Aktualität begrenzt. Und dieses innere Prinzip ist die Potenz.
Diese Diskussion steht in Beziehung zu der Frage, ob der Unterschied zwischen Akt und Potenz nur ein logischer oder formaler, oder ein realer Unterschied ist. Eine ähnliche Frage, die ebenfalls unter Scholastikern umstritten ist, ist die Frage, ob der Unterschied zwischen Wesenheit und Existenz logisch, formal oder real ist. Dazu in einem späteren Beitrag mehr.
Einig sind sich die Scholastiker in der Auffassung, dass der Akt den Vorrang vor der Potenz hat. Dies ist deshalb der Fall, weil jede Potenz durch ihren Akt bestimmt wird. Die Potenz des Gummiballs geschmolzen zu werden, flach zu werden usw., ist die Potenz aktual werden unter bestimmten Bedingungen, nämlich wenn der Ball geschmolzen wird.
Zudem gründen die Potenzen in ihren Aktualitäten. So ist der Ball aktual aus Gummi hergestellt worden und nicht aus Granit oder Butter und durch diese Aktualität des Gummiballs hat er die Potenzen, die er hat, nämlich das er bei einer bestimmten Temperatur geschmolzen werden kann usw.
Außerdem hat die Aktualität gegenüber der Potenzialität einen Vorrang, weil jede Potenz nur durch etwas aktualisiert wird, was bereits aktual ist und nicht aus sich selbst. So kann die Potenz des Balls geschmolzen zu werden nur aktualisiert werden, wenn er mit Wärme (aktual) in Verbindung gebracht wird.
Und schließlich gibt es nichts, was reine Potenzialität ist, d.h. die Potenz kann nicht ohne Akt existieren, während der Akt ohne Potenz bestehen kann, als reiner Akt, actus purus. Der Begriff des reinen Aktes ist das, was dem scholastischen Begriff Gottes entspricht. Gott ist reine Aktualität, absolute Wirklichkeit die mit keiner Potenzialität vermischt ist.
Zusammenfassung des Kapitels1.1.2 aus Edward Feser: Scholastic Metaphysics, editiones scholasticae 2014, S. 36ff.
Genau genommen handelt sich sich bei der Beziehung zwischen Akt und Potenz um eine transzendentale Relation. Der Akt ist transzendental auf seine Potenz bezogen. Der Akt ist mit seiner Beziehung auf die Potenz sowohl identisch als auch nicht identisch. Dieser Umstand stellt ein Widerspruchsproblem, dass im Rahmen der herkömmlichen Akt-Potenz-Lehre nicht gelöst werden kann. Etwas einfacher ausgedrückt: Akt und Potenz sind material identisch.
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