Herklit vertritt geradezu das Gegenteil der Eleatischen Theorie, denn nach Heraklit gibt es überhaupt kein beständiges Sein, sondern alles ist Werden. Nur die Veränderung ist wirklich. Diese Position ist, wie die des Parmenides, keine bloß historische Theorie, sondern beide philosophischen Positionen werden auch heute, mehr oder weniger verändert, vertreten. Die Auffassung Heraklits findet sich beispielsweise in der modernen Prozessphilosophie. Gegen die Auffassung, dass alles nur Werden ist und es überhaupt keine Beständigkeit gibt, lässt sich einwenden, dass ein Philosoph, der diese Theorie verteidigt, überhaupt nicht durch verschiedene Schritte argumentieren könnte um seinen Gegner zu überzeugen. Denn nach der Auffassung Heraklits gibt es kein beständiges Subjekt, wodurch die Person, die zu einer Schlussfolgerung gelangt, nicht dieselbe Person sein kann, die die Prämissen vertreten hat. Zudem gäbe es dann nicht einmal so etwas wie „das“ Argument dieser Schlussfolgerung, d.h. ein bestimmtes, einzelnes Argumentationsmuster.
Nach aristotelischer Auffassung kann man zudem nur dann von Veränderung, Werden sprechen, wenn diese auf ein bestimmtes Ergebnis gerichtet ist. Wenn man einen Gummiball schmilzt ist dies nicht nur eine Veränderung der Rundheit und Festigkeit, sondern eine Bewegung in der Richtung auf Quetschung und Flachheit und deshalb in Richtung auf eine neue Aktualität. Und diese Veränderung verläuft nach bestimmte Mustern, d.h. dieses oder jenes Vorkommnis von Rundheit oder Flachheit kommt und geht, aber neue Vorkommnisse derselben Eigenschaften können entstehen. So zeigt jede Veränderung einen gewissen Grad der Beständigkeit, die dem ständigen Fluss aller Dinge bei Heraklit und den ihm folgenden Philosophen widerlegt.
Beide Positionen, die des Parmenides und die des Heraklit, haben weitere Folgen auch in anderen Fragen. Nach Parmenides kann es nicht mehr als ein Seiendes geben. Denn wenn zwei Seiende A und B wirklich verschieden wären, müsste es etwas geben, das sie unterscheidet. Doch wenn A und B nach der parmenideischen Hypothese Seiend sind, könnte nur das Nicht-Sein sie voneinander unterscheiden. Doch weil Nicht-Sein nichts ist, kann es auch nichts unterscheiden.
Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Zeno, der Schüler des Parmenides, mit seinem Paradox der Teile. Zeno sagt: Wenn es mehr als ein Seiendes gibt, dann haben diese anderen Seienden entweder eine bestimmte Größe oder nicht. Wenn sie keine Größe haben, dann können sie auch nicht durch eine Verbindung miteinander eine Größe haben, denn wenn man zwei Dinge ohne jede Größe miteinander verbindet entsteht daraus keine Größe. Daraus folgt dann aber, dass es nichts mit irgendeiner Größe gibt, was natürlich absurd ist. Wenn man allerdings annimmt, dass diese vielfältigen Dinge eine Größe haben, dann sind sie unendlich teilbar und sie hätten eine unendliche Zahl von Teilen. Wenn sie aber eine unendliche Zahl von Teilen haben, dann müssen diese Teile eine unendliche Größe haben, was wiederum absurd ist. Daraus folgt nach Zeno, dass es nicht mehr als ein Seiendes gibt.
Wenn man demgegenüber die Theorie des Heraklit zu Ende denkt, dann folgt daraus, dass es nur eine Vielfalt ohne Einheit in der Welt gibt und nichts, was diese vielfältigen Dinge zusammenhält. Es gibt dieses bestimmte Ding, das wir „rot“ nennen und ein anderes und noch ein drittes, aber nichts, das Rundheit ist, von dem die einzelnen Dinge nur Vorkommnisse sind. Diese bestimmte Wahrnehmung ist die eines „Balles“ und diese Wahrnehmung ist die eines anderen „Balls“ und dann gibt es noch einen dritten „Ball“, aber kein Ding, dass man als den Ball selbst bezeichnen könnte und von dem die verschiedenen Bälle nur Vorkommnisse und Beispiele, Exemplifikationen sind. Heraklit selbst war allerdings der Auffassung, dass es nur ein einziges Seiendes gibt, die Welt, die als dieses eine Seiende in ständiger Veränderung ist. Diese Theorie wird auch als „dynamischer Monismus“ bezeichnet, im Unterschied zum „statischen Monismus“ des Parmenides.
Mit Hilfe der Unterscheidung von Akt und Potenz lassen sich sowohl die Argumente der Eleaten, als auch die Argumente der Herakliter widerlegen. Gegen Parmenides lässt sich zeigen, dass das Nichts oder das Nicht-Sein nicht die einzige Möglichkeit ist um etwas zu unterscheiden. Denn wenn beide Seienden A und B aktual existieren, können sie in Bezug auf ihre Potentialität unterschieden werden. Zwei Bälle A und B können beide rund und rot sein, doch sie unterscheiden sich z.B. dadurch, dass A gerade rollt, während B nur potentiell, nicht wirklich, rollt. Gegen Zeno lässt sich zeigen, dass er eine unendliche Zahl von Teilen als aktual annimmt, obwohl diese Teile nur potentiell unendlich sind.
Damit kommen wir zum grundlegenden Argument für die Unterscheidung von Akt und Potenz: Veränderung und Beständigkeit, Vielfalt und Einheit sind wirkliche Merkmale der Welt. Doch dies bedeutet, dass man sie voneinander unterscheiden muss. Diese Unterscheidung ist aber nur möglich auf der Grundlage der fundamentaleren Unterscheidung dessen, was im Akt und was in Potenz ist. Deshalb gibt es eine Unterscheidung in den Dingen zwischen dem, was Aktual und dem, was Potentiell ist.
Zudem wäre jede Art der Wissenschaft praktisch unmöglich, wenn die Theorien des Parmenides oder des Heraklit bzw. ihrer Gefolgsleute richtig wären. Nach Parmenides und Zeno gäbe es nämlich keine Welt von verschiedenen, sich verändernden Dingen und Ereignissen für die Forschung der Physiker, Chemiker oder Biologen. Wäre hingegen die Auffassung Heraklits zutreffend, dann gäbe es keine stabilen, wiederholbaren Muster für die Wissenschaftler zu erforschen und damit keine Gesetze der Physik, kein Periodensystem der Elemente, keine biologischen Arten.
Es gibt aber keinen anderen Weg zur Widerlegung der extremen Positionen von Parmenides und Heraklit als die Einführung der Akt-Potenz Theorie.
Der vorhergehende Text ist eine Zusammenfassung der Seiten 33-36 des Buches: Edward Feser: Scholastic Metaphysics. A Contemporary Introduction, editiones scholasticae 2014.
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