Freitag, 12. Juni 2015

Poppers und Wittgensteins Anti-Essentialismus

Der Anti-Essentialismus ist die vorherrschende Strömung in der Gegenwartsphilosophie. Daher verwundert es nicht, dass nicht nur Quine, sondern auch andere Philosophen gegen Wesenheiten argumentiert haben. Die Argumente zweier weiterer Philosophen, nämlich Karl Popper und Ludwig Wittgenstein, möchte ich noch vorstellen.

 

Popper ist der Auffassung, dass der Essentialismus mit der Auffassung verbunden ist, das Wissenschaften nach letzten Erklärungen suchen. Eine Erklärung, die sich auf Wesenheiten bezieht, ist für Popper „obskur“ und „hilft uns nicht nur nicht weiter, sondern behindert uns“, weil sie weitere Forschung ausschließt. Demgegenüber meint Popper, dass wir weiter und immer tiefer die Struktur unserer Welt untersuchen müssen, wobei wir Eigenschaften der Welt entdecken sollten, die immer wesentlicher sind und immer tiefer liegen. Gleichsam Wissenschaft als Prozess ohne Ende.

Wenn es tatsächlich wahr wäre, dass der Glaube an Wesenheiten uns daran hindert, weitere Untersuchungen und Forschungen voranzutreiben und immer weiter und tiefer nachzuforschen, wäre dies natürlich noch kein Beweis gegen die Existenz von Wesenheiten. Wenn es tatsächlich andere Argumente für die Existenz von Wesenheiten gibt (und die gibt es, wie u.a. in diesem Blog gezeigt), dann könnte man sich immer noch dazu entschließen, Wege zu finden, wie man das Problem umgeht, dass diese uns bei der wissenschaftlichen Forschung behindert.

Allerdings ist das, was Popper sagt, nicht wahr. Schon rein historisch lässt sich belegen, dass Wesenheiten die wissenschaftliche Forschung alles andere als behindert haben (vgl. David Oderberg: Real Essentialism). Im Gegenteil würden auch Vertreter des „neuen Essentialismus“ behaupten, dass die Annahme von Wesenheiten wissenschaftliche Forschung sogar befördert und immer befördert hat. Darauf habe ich im letzten Blogbetrag hingewiesen. Es ist schlicht falsch, dass die Bestimmung eines Dinges in seiner Wesenheit dazu führt, wissenschaftliche Forschung einzustellen und sich zur Ruhe zu setzen. So wird doch niemand aufhören weiter zu forschen, wenn man feststellt, dass es wesentlich für Wasser ist, aus Wasserstoff und Sauerstoff zusammengesetzt zu sein. Zudem ist es dogmatisch, grundsätzlich auszuschließen, dass es eine letzte Erklärung geben könnte, die weitere wissenschaftliche Forschung nicht nötig macht.

Schließlich gibt es noch Poppers Mahnung gegen den Essentialismus, dass es in der Forschung darauf ankommt, ersthafte Fragen nach Tatsachen zu stellen und uns nicht mit Problemen von Worten und deren Bedeutung zu beschäftigen. Diese Ermahnung betrifft allerdings das aristotelisch-scholastische Verständnis der Wesenheiten nicht, denn diese werden als reale Entitäten, als „Tatsachen“ verstanden. Die Mahnung mag auf den Rationalismus zutreffen oder auf bestimmte Formen oder Richtungen der frühen analytischen Philosophie, die davon ausging, dass die Probleme der Philosophie durch Sprachanalyse gelöst werden können.

Auch Wittgenstein hat gegen den Essentialismus argumentiert und zwar mehr oder weniger indirekt mit seinen Bemerkungen zu Spielen und Familienähnlichkeit. Nach Wittgenstein gibt es kein Merkmal, dass allen Spielen gemeinsam zukommt, sondern bestenfalls bestimmte sich überlappende Ähnlichkeiten, wie sie sich auch bei den Mitgliedern ein und derselben Familie finden. Diese Ähnlichkeit kann uns zwar dazu verführen anzunehmen, dass es ein gemeinsames Merkmal aller Spiele gibt, doch dies ist nicht der Fall. Dies bedeutet, mit anderen Worten, dass Spiele nicht definierbar sind, bzw. keine gemeinsame Wesenheit haben. Und in Weiterführung dieses Arguments wird dann behauptet, dass dies auch bei anderen Dingen der Fall ist: sie haben eine bestimmte Familienähnlichkeit, aber keine Wesenheit, auch wenn wir solche Ähnlichkeiten dann unter einen bestimmten Begriff bzw. unter eine Wesenheit subsummieren. Was Dinge wirklich sind, kann uns nach Wittgenstein nur die „Grammatik“ zeigen (wobei er ein ganz bestimmtes Verständnis von „Grammatik“ hat, das von dem üblichen Verständnis sehr verschieden ist).

Verschiedene Philosophen haben gegen die Behauptung, es gäbe kein gemeinsames Merkmal aller Spiele Einwände vorgebracht, indem sie auf solche Merkmale verwiesen haben. Für die Widerlegung Wittgensteins ist dies aber irrelevant. Viel wichtiger ist die Tatsache, dass Spiele keine natürlichen Arten sind, sondern Artefakte, also vom Menschen hervorgebrachte Entitäten. Und bei diesen spielt der Zweck, für den sie hergestellt werden, eine zentrale Rolle, wodurch häufig Schwierigkeiten entstehen, Artefakte zu definieren oder ein gemeinsames Merkmal zu finden, dass allen Artefakten einer bestimmten Art zukommt. Hätte Wittgenstein eine natürliche Art als Beispiel verwendet, wäre es viel schwieriger gewesen, hier kein gemeinsames Merkmal zu finden. Vor allem würde ein Aristoteliker nicht mit der Voraussetzung übereinstimmen, dass es die „Grammatik“ ist, die uns sagt, was die Dinge in einem metaphysischen Sinne sind oder dass die „Grammatik“ überhaupt metaphysische Probleme zu lösen vermag.

Das Beispiel Wittgenstein verweist bestenfalls auf ein Problem, dass heute unter dem Titel „Vagheit“ diskutiert wird und das auch häufig gegen den Essentialismus vorgebracht wird. Auf dieses Problem bin ich bereits in einem früheren Blogbeitrag eingegangen.

 

1 Kommentar:

  1. Es hat nun nichts mit hiesigem Beitrag zu tun, aber ich erlaube mir als "Stammleser" dieses blogs dann doch mal, auf meine eigene Seite hinzuweisen. Wenngleich nicht auf dem hier gewohnten Niveau, versuche ich trotzdem, ebenfalls den hl. Thomas mit seiner Theologie und Philosophie unter das Volk zu bringen. Dabei bediene ich mich auch immer wieder gerne u.a. bei Edward Feser. Vielleicht interessiert es ja. Mein jüngster Beitrag dazu findet sich hier.

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