Bei der Diskussion um das Für und Wider der von Seiten der Regierenden getroffenen Maßnahmen wird selten Bezug genommen auf die Frage des Gemeinwohls. Das Gemeinwohl ist aber die Aufgabe des Staates. Alle Maßnahmen des Staates und der staatlichen Organe muss auf das Gemeinwohl gerichtet sein. Deshalb muss man die Frage stellen, ob die Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Corona-Pandemie dem Gemeinwohl nützen oder schaden. Insbesondere der sogenannte Lockdown, die nahezu vollständige Schließung der wirtschaftlichen, kulturellen, schulischen, universitären etc. Einrichtungen hat schwerwiegende Folgen für die ganze Gemeinschaft. Andererseits gehört die Gesundheitsfürsorge zu den Aufgaben des Staates im Sinne des Gemeinwohls. Es ist also ein Abwägung erforderlich. Im folgenden Beitrag soll zunächst die klassische, aristotelisch-scholastische Theorie von Gemeinwohl und Subsidiarität dargestellt werden. In einem späteren Beitrag werde ich dann diese Theorie konkreter auf die Maßnahmen der Regierung zur Bekämpfung der Pandemie anwenden.
1. Gemeinwohl
Jede menschliche
Tätigkeit hat ein Ziel, einen Zweck. Auch das menschliche Leben als Ganzes
folgt einem Ziel, einem Sinn. Dieses Ziel ist etwas Objektives, das dem
Einzelnen mit seiner Erschaffung aufgegeben ist und das er erreichen oder
verfehlen kann. Das Endziel jedes Menschen ist die Verherrlichung Gottes. Es
gibt auch ein gewissermaßen vorletztes Ziel, das irdische Ziel des Menschen,
das man als sein persönliches Wohl bezeichnen könnte, d.h. dass er auf
menschliche Weise ein glückliches Leben führen kann.
Kein Mensch kann als
Einzelner dieses sein persönliches Ziel erreichen, so wenig wie er sein ewiges
Ziel alleine zu erreichen vermag. Deshalb ist der Einzelne wesensmäßig, von
seiner Natur her, auf die Gemeinschaft verwiesen und auf sie angewiesen.
Durch die
Gemeinschaft verwirklicht der Mensch sein eigenes Wohl. Aber die Gemeinschaft
als eigene ontologische Realität hat auch selbst ein Ziel, das nicht nur die
Summe der Einzelwohle ist. Auch das Wohl jeder Gemeinschaft – der Familie, der
Gemeinde, der Berufsgemeinschaft, des Staates – ist ein objektives Ziel, das
der Gemeinschaft von ihrer Natur her zukommt. Dieses Ziel der Gemeinschaft, der
Zweck der Gemeinschaft ist das Gemeinwohl.
Grundsätzlich stehen
das Wohl des Einzelnen und das Gemeinwohl nicht im Widerspruch zueinander, da
sie sich ergänzen sollen. Der Einzelne verwirklicht seine persönlichen Ziele in
und durch die Gemeinschaft und wird durch sie zugleich über sich selbst
hinausgehoben zu weit höheren Leistungen und zu einem weit größeren Wohl.
Zugleich trägt seine eigene Tätigkeit für die Gemeinschaft zum Gemeinwohl bei.
Gleichwohl schließt
dies, wie jeder weiß, Konflikte zwischen den Wünschen und Interessen des
Einzelnen und dem Gemeinwohl nicht aus. Deshalb gilt das Prinzip, dass das
Gemeinwohl über dem Einzelwohl steht. Ob jedoch ein vermeintliches Gemeinwohl, das
im Konflikt zu einem Einzelwohl steht, wirklich auch ein Gemeinwohl ist, dafür
gibt es vier Kriterien:
1. Es
ist der Gemeinschaft nicht erlaubt, etwas zu gebieten, was dem Naturrecht
bzw. der Sittlichkeit widerspricht.
2. Die
Forderungen der Gemeinschaft dürfen insbesondere nicht dem Subsidiaritätsprinzip
widersprechen, d.h. es darf nur das gefordert werden, was dem Ziel des
Gemeinwohls dienlich ist.
3. Die
Zuständigkeit der Gemeinschaft bezieht sich ausschließlich auf eine äußere
Ordnung, d.h. sie darf nur äußere Handlungen fordern. Eine Gesinnung darf
nicht vorgeschrieben werden, wenn es auch durchaus wünschenswert ist, auf die
Gesinnung der Mitglieder einer Gemeinschaft im Sinne des Gemeinwohls
einzuwirken.
4. Jede
Gemeinschaft in einem Gemeinwesen ist verpflichtet, ihr Ziel im Zusammenhang
mit den Zielen der anderen Gemeinschaft zu verwirklichen, insbesondere im
Zusammenhang mit dem Allgemeinwohl.
Verstößt die
Forderung einer Gemeinschaft gegen eine Person oder einer höheren Gemeinschaft
gegen eine kleinere Gemeinschaft gegen eine dieser Kriterien, so ist die
Forderung nicht berechtigt, d.h. sie ist nicht im Interesse des Gemeinwohls.
Eingriffe des Bundes in die Kompetenz der Länder während der Pandemie könnten eine
Verletzung des Gemeinwohls darstellen und sind deshalb zu verurteilen.
Dies wird auch daraus
ersichtlich, dass das Gemeinwohl insbesondere zwei gesellschaftliche
Grundfunktion erfüllt:
1. Die Zusammenarbeit der Glieder einer Gemeinschaft muss
die Voraussetzungen für das Zusammenleben der Gemeinschaftsglieder
sicherstellen. Hierzu gehört besonders die Sicherstellung der äußeren Ordnung
der Gesellschaft, die Verhinderung von Übergriffen und die Beseitigung von
Hindernissen für die Erfüllung der Lebensaufgaben der Gesellschaftsglieder.
Diese Aufgabe wird insbesondere durch das Recht und die mit ihr verbundene
Zwangsgewalt einer Gemeinschaft sichergestellt. Der Liberalismus beschränkt den
Staat allein auf diese negative Funktion des Gemeinwohls.
2. Darüber hinaus gibt es eine weitere Grundfunktion der
Gemeinschaft im Sinne des Gemeinwohls, nämlich die Sicherung der wirtschaftlichen
und kulturellen Wohlfahrt der Gemeinschaftsglieder. Dies bedeutet aber nicht,
dass die Gemeinschaft die Funktion einer Wohlfahrtsanstalt zu übernehmen hat,
also direkt für die Bedürfnisse der Glieder des Gemeinwohls zu sorgen hat, wie
dies Linke aller Schattierungen fordern. Die Gemeinschaft muss nur die Voraussetzungen schaffen, damit der
Einzelne seine irdischen Ziele erreichen kann. Während der Pandemie wurde und
wird gegen diese Grundfunktion verstoßen. Sehr viele Menschen werden daran gehindert,
ihren Lebensunterhalt selbständig zu verdienen; Kinder und Studierende wurden
und werden daran gehindert, ihre Ausbildung fortzusetzen usw. Die Frage ist
aber, ob diese Eingriffe durch die Folgen der Pandemie gerechtfertigt sein
könnten.
Das Gemeinwohl ist
mehr als die Summe der Einzelwohle der Gemeinschaftsglieder. Deshalb wird es
als eine eigene Wirklichkeit (Entität) aufgefasst. Diese Wirklichkeit besteht
jedoch nicht „über“ oder „neben“ oder unabhängig von den Gesellschaftsgliedern,
sondern nur „in“ ihnen. In scholastischer Terminologie könnte man sagen, dass,
so wie die Farbe olivgrün nur an olivgrünen Dingen existiert und nicht von
diesen abgetrennt, das Gemeinwohl nur „in“ den Gliedern der Gemeinschaft wirklich
ist.
Zur Definition des
Gemeinwohls, die bereits früher erfolgte, sollen hier drei verschiedene
Definitionen zitiert werden, die einigermaßen klar das zusammenfassen, was mit
dem Wort „Gemeinwohl“ gesagt werden soll:
1. „Das Gemeinwohl
ist die Gesamtheit der Bedingungen, die erforderlich sind, damit nach
Möglichkeit alle Glieder des Staates frei und selbständig ihr wahres irdisches
Glück erreichen können“ (Cathrein, zitiert nach Messer, 1934, 491).
2. „Das Gemeinwohl
ist die Ordnung der Gesellschaft, in der jedes Glied die Möglichkeit der
Erfüllung seiner Lebensaufgaben (...) auf Grund der Teilnahme an den Früchten
der gesellschaftlichen Kooperation besitzt“. (Messner, 1950, 134).
3. „Das oberste Gesetz der staatlichen
Ordnung ist das Gemeinwohl. Es besteht in der aus der gesellschaftlichen
Verbundenheit der Gesellschaftsglieder für alle erwachsenden Hilfe zur
eigenverantwortlichen Erfüllung der in ihrer Natur vorgezeichneten und im
Einklang damit von ihnen frei gewählten persönlichen und gesellschaftlichen
Lebensaufgaben. Anders ausgedrückt: „Das Gemeinwohl besteht in jenen äußeren
Bedingungen, die der Gesamtheit der Staatsbürger notwendig sind zur Entfaltung
ihrer Anlagen und Aufgaben, ihres materiellen, kulturellen und religiösen Lebens“
(Pius XII. U-G 231) (Messner, Kurz gefaßte christliche Soziallehre, Wien 2001).
Von Sinn her sind sich
alle drei Definitionen aus unterschiedlichen Zeiten sehr ähnlich, wenn sie auch
sprachlich unterschiedlich formuliert sind. Gemeinsam ist allen Bestimmungen,
dass sie das Gemeinwohl dadurch definieren, dass es die Mittel für die Mitglieder einer Gemeinschaft bereitstellt, durch
die diese die Möglichkeit erhalten, ihre eigenen Ziele („Früchte“, „irdisches
Glück“) zu erreichen. Das Gemeinwohl beschafft den Gliedgemeinschaften oder den
Einzelnen nicht selbst die von ihnen erstrebten Güter (Ziele, Zwecke), sondern
stellt nur die Mittel bereit, durch die der Einzelne wie die
Gliedgemeinschaften diese Güter erlangen können. Dies kann durch ein einfaches
Beispiel verständlich gemacht werden: Wenn ein Gewerbetreibender bestimmte
Produkte für den Markt bereitstellt, allerdings regelmäßig einmal pro Woche von
einer Horde Räuber überfallen und seiner Produkte beraubt wird, oder wenn ihm
durch Schutzgelderpressung die Früchte seiner Arbeit entzogen werden, so wird
er nach kurzer Zeit die Güter, die er der Gemeinschaft zur Verfügung stellt,
nicht mehr herstellen wollen und können. Hier ist es die Aufgabe des Gemeinwohls,
für die Sicherheit der Person und seines Gewerbes zu sorgen, z.B. durch Gesetze
und ihre Durchführung durch Justiz und Polizei.
Dementsprechend
definieren wir das Gemeinwohl wie folgt:
AW „Gemeinwohl“ = Etwas ist im Sinne des
Gemeinwohls genau dann, wenn dieses die Mittel zur Verfügung stellt, damit eine
Person, oder eine Gemeinschaft in die Lage versetzt wird, ihren Zweck
selbständig zu verwirklichen.
Wie eng die
Verbindung zwischen dem recht verstandenen Gemeinwohl und dem
Subsidiaritätsprinzip ist, wird schon allein durch die Kriterien zur Bestimmung
eines echten Gemeinwohlinteresses sichtbar, die wir zuvor genannt haben.
Bereits aus unserer Definition folgt gewissermaßen die Bedeutung der
Subsidiarität für das Gemeinwohl.
2.
Gemeinwohl durch Subsidiarität
Eine größere
Gemeinschaft wie der Staat hat nicht das Recht, aber auch nicht die Pflicht, in
wirtschaftliche und soziale Bereiche einzugreifen, wenn die kleineren Gemeinschaften,
die Länder, Gemeinden, Familien oder sonstige Einrichtungen der Gesellschaft in
der Lage und willens sind, diese Bereiche selbst zu ordnen. Wie weit praktisch
alle formaldemokratischen Staaten der Gegenwart von diesem Prinzip entfernt
sind, ohne das keine wirklich freie und gerechte Gesellschaft bestehen kann,
zeigt allein ein Blick auf die tatsächlichen Verhältnisse, und insbesondere mit
Blick auf die EU.
Man kann in
zweifacher Weise gegen dieses Prinzip verstoßen. Einerseits durch Eingriffe des
Staates in das Selbstverwaltungs- und Selbstbestimmungsrecht der kleineren
Gemeinschaften, andererseits aber auch durch einen radikalen
Wirtschaftsliberalismus. Im letzteren Fall wird jede staatliche Intervention,
zugleich aber auch die berufsgemeinschaftliche Selbstverwaltung untersagt, so
dass jedes Unternehmen für sich dem sogenannten „freien Markt“, dem „freien
Spiel der Marktkräfte“ überlassen wird und die Angestellten und Arbeiter von
einer Mitwirkung ausgeschlossen werden. Auf der anderen Seite, die heute weit
stärker wirksam ist, werden die Eingriffe des Staates bis hinein in das private
Leben immer massiver, bis hin zu Beschneidungen der Meinungsfreiheit, z.B. im
Zusammenhang mit Debatten über den Sinn der Corona-Maßnahmen der Regierung,
womit tatsächlich eine bestimmte Gesinnung vorgeschrieben werden soll.
Da das Allgemeinwohl
das Wohl aller sein muss, sind auch alle gefordert, daran mitzuarbeiten. Den
größten Teil der Menschen, die zum Gemeinwohl durch ihre Arbeit beitragen, von
der Organisation und Verwaltung auszuschließen, verstößt nicht nur gegen das
Subsidiaritätsprinzip, sondern auch gegen die Gerechtigkeit. Sowohl der
Staatssozialismus, wie er heute in vielen westeuropäischen Ländern sich immer
deutlicher zeigt und durch die EU weiter gefördert wird, als auch der Neoliberalismus
schließen aber den größten Teil der Menschen von der Mitwirkung an der
Verwaltung des Allgemeinwohls aus. Dies verstößt nicht nur gegen die Gerechtigkeit,
sondern reduziert die Möglichkeiten und Kräfte der Gemeinschaft, die durch eine
breite Mitwirkung aller Mitglieder und Gemeinschaften gerade in den Bereichen,
in denen die Menschen etwas von der Sache verstehen, zu einer kreativen
Entfaltung führen könnten. Anstelle der echten Gemeinschaften treten seit
längerer Zeit mehr und mehr sogenannte NGOs und „zivilgesellschaftliche Gruppen“,
die mit Hilfe massiver finanzieller Förderung durch einflussreiche Kreise den
Staat in eine bestimmte Richtung lenken wollen, die dem Gemeinwohl
widerspricht.
Es ist vor allem die
Ergänzungsbedürftigkeit des Menschen, der nicht allein in der Lage ist, sich
die zum Leben notwendigen Güter zu beschaffen, die ihn auf einen gemeinsamen
Zweck, das Gemeinwohl, hinordnet. Aus diesem Grund kann das Gemeinwohl nicht
darin bestehen, dass die Gesellschaft bzw. die übergeordnete Gesellschaft auch
das vollbringt, was der Einzelne oder die kleinere Gemeinschaft selbst tun
kann. In diesem Satz ist der Wesenszusammenhang von Gemeinwohlprinzip und
Subsidiaritätsprinzip klar und deutlich zusammengefasst. Gerade die besonders
strenge Beachtung des Subsidiaritätsprinzips führt zu einer größeren Entfaltung
und zur echten Verwirklichung des Gemeinwohls.
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