Dienstag, 5. Dezember 2023

Idealismus, Konstruktivismus, Dekonstruktivismus. Der philosophische Hintergrund der gegenwärtigen Krise in Politik, Kultur und Kirche. Teil 1


Der folgende Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift THEOLOGISCHES. Katholische Monatsschrift, Jg. 52, Nr. 09/10, 2023. Der umfangreiche Artikel wird hier in voller Länge wiedergegeben, allerdings in zwei Teilen. Hier folgt der 1. Teil.

 

Im Folgenden möchte ich dafür argumentieren, dass die gegenwärtige Krise in Politik, Kultur und in der Kirche einen philosophischen Hintergrund hat, der insbesondere in der Philosophie des Konstruktivismus bzw. im Dekonstruktivismus liegt. Dies wird in den aktuellen Debatten häufig übersehen. Daher scheint mir eine Auseinandersetzung mit diesen philosophischen Positionen hilfreich zu sein, um eine tiefere Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen der Gegenwart anstoßen zu können.

 

Kant und der Deutsche Idealismus

Der Konstruktivismus, der im 20. Jahrhundert entsteht, hat seinen Ursprung in der idealistischen Philosophie des 19. Jahrhunderts, also insbesondere in der Philosophie Immanuel Kants und des deutschen Idealismus. In diesen philosophischen Systemen wird bestritten, dass wir einen epistemischen Zugang zu der realen Welt haben, und behauptet, dass all das, was wir wahrnehmen oder erkennen, durch das Bewusstsein hervorgebracht wird. Nach Kant gibt es zwar eine „Außenwelt“, zu der wir aber keinen direkten Zugang haben. Vielmehr werden unsere Sinnesdaten durch die transzendentalen Strukturen des Bewusstseins, also über den Einzelnen hinausgehenden Bewusstseinsstrukturen, so konstruiert, dass wir alles so wahrnehmen, wie wir es tun. Wir nehmen Dinge mit Eigenschaften wahr, die nacheinander in Raum und Zeit erscheinen. Ob dies der „Außenwelt“ entspricht, können wir nicht mit Gewissheit sagen. Der deutsche Idealismus, der im Unterschied zu Kant, dessen Philosophie eine Synthese von Rationalismus und Empirismus versucht, einen rationalistischen Hintergrund hat, verschärft diese kantische Position weiter. Die Außenwelt wird komplett gestrichen und der absolute Geist selbst ist das Einzige, was existiert. Dieser absolute Geist vollzieht sich gewissermaßen evolutionär durch die einzelnen Individuen vom primitiven und naiven Realismus bis zum absoluten Geist, der sich selbst als Ursprung seiner selbst und der gesamten Welt begreift.

Für den Konstruktivismus des 20. Jahrhunderts spielt die Philosophie Kants eine größere Rolle als der deutsche Idealismus, und er versucht nicht mehr die von Kant angestrebte Synthese von Empirismus und Rationalismus weiter zu verfolgen, sondern ist eindeutig empiristisch und nominalistisch. Unter philosophischem Nominalismus versteht man die Theorie, dass ausschließlich eigenschaftslose Individuen existieren und das alles andere, was wir wahrnehmen bzw. erkennen, durch unsere Wahrnehmung beeinflusst und hervorgebracht wird. So bestreitet der Nominalismus, dass es in der Realität irgendetwas Allgemeines gibt, aber er bestreitet auch, im Unterschied zum Konzeptualismus bzw. Rationalismus, dass es überhaupt Allgemeinbegriffe gibt. Was wir als Begriffe bezeichnen, sind für den Nominalismus nichts anderes als Worte, die man auf einen Aktenordner schreibt, um darin bestimmte Objekte ablegen zu können. Begriffe oder Worte haben keinerlei Bezug zur Realität. Die Realität besteht nur aus nackten, partikulären und eigenschaftslosen Individuen.

 

Scholastische Philosophie

Der Nominalismus setzt sich damit deutlich von der aristotelischen Philosophie des Hochmittelalters ab, die besonders von Albertus Magnus und Thomas von Aquin bestimmt wird. Die hochmittelalterliche Philosophie, insbesondere die thomistische Scholastik, stellt eine gelungene Synthese dar, nach der Kant erfolglos gesucht hat. Demnach besteht die Wirklichkeit als solche tatsächlich aus Individuen und individuellen Wesenheiten und Eigenschaften. Jedes Individuum hat eine individuelle Wesenheit, die aber nicht nur diesem Individuum zu eigen ist, sondern allen Individuen der gleichen Art. Diese Wesenheit kann von uns erkannt werden und zwar genau so, wie sie tatsächlich ist, wenn auch unvollständig. Dies geschieht mit Hilfe des Abstraktionsvermögens des menschlichen Verstandes, durch den wir alle Bestimmungen eines Individuums weglassen, die zufällig sind. Die allgemeinen Wesenheiten der Dinge existieren zwar nicht als solche in der realen Welt, sondern nur im menschlichen Verstand, aber diesen allgemeinen Wesenheiten entspricht etwas in der Realität. Diese Entsprechung besteht darin, dass die Wesenheit z.B. eines Huhns in allen Hühnern „instanziiert“ ist, um einen modernen Begriff zu verwenden. Das bedeutet, dass jedes einzelne Huhn eine Instanz, ein Vorkommnis der allgemeinen Wesenheit des Huhns ist und genau deshalb können wir diese Wesenheit in der Erkenntnis aus dem einzelnen Huhn abstrahieren. Das Entsprechende gilt natürlich auch für die Akzidenzien. Die Farbe Rot ist in allen roten Gegenständen instanziiert und deshalb sehen wir rote Gegenstände und können diese Farbe aus den roten Gegenständen abstrahieren und im Begriff „rot“ erfassen.

Schon in der Spätscholastik wird diese aristotelische Theorie in Frage gestellt, zum Teil bereits bei Duns Scotus und besonders bei William von Occam. Die beiden Hauptströmungen der Neuzeit, der Rationalismus und der Empirismus entspringen letztlich beide aus dem Nominalismus, der damit als ontologische Grundlage der gesamten neuzeitlichen Philosophie bezeichnet werden kann. Und dies trifft auch in besonderer Weise auf den Konstruktivismus des 20. Jahrhundert zu.

 

Konstruktivismus

Der Konstruktivismus entsteht zunächst nicht als philosophische Theorie, sondern in verschiedenen Geisteswissenschaften, wie in der Pädagogik und den Sozialwissenschaften. Konstruktivismus ist zunächst eine Theorie und Philosophie des Lernens, die besagt, dass Wissen nicht einfach aufgenommen und gespeichert wird, sondern dass es von Individuen aktiv konstruiert wird, basierend auf ihren Erfahrungen und Interaktionen mit der Umwelt. Die Grundannahme des Konstruktivismus ist, dass Menschen ihr Wissen durch ihre eigene Erfahrung und Reflektion aufbauen und dass dieses Wissen kontextabhängig ist. Konstruktivisten glauben, dass Wissen nicht objektiv und unabhängig von unserer Wahrnehmung der Welt existiert, sondern dass es von individuellen Interpretationen abhängt.

Im Konstruktivismus ist Lernen ein aktiver Prozess, bei dem Wissen nicht einfach vermittelt wird, sondern von den Lernenden selbst hervorgebracht wird. Das bedeutet, dass die Lernenden die Möglichkeit haben, ihr Verständnis und Wissen auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und Ideen aufzubauen. Konstruktivistische Ansätze wurden und werden heute in vielen Bereichen der Bildung angewendet, einschließlich der Gestaltung von Unterricht, der Entwicklung von Lehrmaterialien und der Bewertung von Lernergebnissen. Um ein Beispiel für die praktische Bedeutung dieses pädagogischen Ansatzes zu nennen, könnte man auf die sogenannte lautsprachliche Schrift verweisen. Die Kinder sollen die Worte zunächst so schreiben, wie sie diese hören. Rechtschreibfehler wurden damit nicht mehr als solche bezeichnet und korrigiert. Dies hat dazu geführt, dass Kinder die korrekte Rechtschreibung nicht mehr richtig lernen konnten, da sie nach der Gewöhnung an die lautsprachliche Rechtschreibung in späteren Schuljahren Probleme hatten, die richtige Rechtschreibung zu erlernen.

 

Der philosophische Konstruktivismus ist eine Position in der Philosophie, die besagt, dass Wissen nicht unabhängig von unserem Geist und unseren Erfahrungen existiert, sondern dass es von uns konstruiert wird. Gegen diese allgemeine Formulierung muss man nicht Einwände erheben, denn dies ist eine alltägliche Erfahrung. Für das, was wir wahrnehmen bzw. erkennen, spielen Interessen und der Wissenshintergrund eine große Rolle, was aber nicht ausschließt, dass es eine objektive Erkenntnis der Realität gibt. Der Konstruktivismus geht aber weit darüber hinaus. Die Konstruktivisten in der Philosophie argumentieren, dass die Welt nicht einfach „da draußen“ existiert, sondern dass wir durch unsere Wahrnehmungen und Interpretationen der Welt aktiv an ihrer Konstruktion beteiligt sind, ja, dass wir diese Welt aktiv erst hervorbringen. Es gibt keine von unseren Konstruktionen der Welt unabhängige Welt, die sich objektiv, d.h. unabhängig von unseren Wahrnehmungen und Erkenntnissen erfassen lässt.

Der Konstruktivismus in der Philosophie wird heute auf verschiedene Bereiche angewendet, einschließlich der Philosophie des Geistes, der Sprachphilosophie und der Erkenntnistheorie. In der Philosophie des Geistes geht es darum, wie unser Geist und unser Bewusstsein entstehen und wie wir unser Wissen über die Welt aufbauen. In der Sprachphilosophie geht es darum, wie wir Bedeutungen von Wörtern und Ausdrücken konstruieren. In der Erkenntnistheorie geht es darum, wie wir Wissen erlangen und wie wir entscheiden, was wahr oder falsch ist. Dies bedeutet, dass es keine objektive Wahrheit oder Falschheit geben kann, sondern dass etwas nur für uns wahr oder falsch ist. Es mag sein, dass viele Menschen mit uns übereinstimmen, aber dies liegt nicht daran, dass die gemeinsame „Erkenntnis“ an einem objektiven Maßstab gemessen wird, sondern dass diese Übereinstimmung eher zufällig ist, oder durch bestimmte Faktoren, wie einen gemeinsamen historischen oder kulturellen Hintergrund, determiniert wird.

Der Konstruktivismus in der Philosophie ist eng mit anderen philosophischen Strömungen wie dem Pragmatismus und dem Poststrukturalismus verbunden, die ähnliche Ansätze verfolgen und die Idee betonen, dass unsere Wahrnehmungen und Interpretationen der Welt von unseren Erfahrungen und sozialen Kontexten abhängen.

Man muss aber betonen, dass der Konstruktivismus keine einheitliche Theorie bzw. keine gemeinsame philosophische Schule ist. Es gibt eine ganze Reihe sehr unterschiedlicher konstruktivistischer Theorien. Dies gilt nicht nur für den Konstruktivismus allgemein, sondern auch für den philosophischen Konstruktivismus in der Erkenntnistheorie. Die meisten Varianten des Konstruktivismus gehen aber davon aus, dass ein erkannter Gegenstand vom Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. In der Fachsprache der Philosophie ausgedrückt, nehmen sie damit eine nominalistische Position zum Universalienproblem ein. Inwiefern? Im Unterschied zur aristotelischen Tradition der Philosophie, bei der einem Willensakt eine Erkenntnis vorhergeht, ist dies im Nominalismus umgekehrt. Da für den Nominalismus die Gegenstände eigentlich der Erkenntnis nicht zugänglich sind, ist es der Wille, der etwas als gut erfasst und danach dem Erkenntnisvermögen als zu erkennenden Gegenstand vorstellt. Der Nominalismus ist daher von Anfang an eine voluntaristische Theorie. Und dies wird ganz besonders im Konstruktivismus deutlich. Kurz gesagt, wenn die Wahrnehmung und Erkenntnis durch uns bestimmt wird, dann kann dies nur durch den Willen geschehen. Üblicherweise nimmt man an, dass sich die Erkenntnis nach den Gegenständen richtet, diese also die Erkenntnis bestimmen, während der Wille die Gegenstände bestimmt. Bereits Kant hatte in der Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft gesagt, dass er dieses Verhältnis umkehren wolle, dass also die Vernunft (er meint dabei den Willen) die Gegenstände bestimmt. Diesen Gedanken nimmt der erkenntnistheoretische Konstruktivismus auf.

 

Während im Radikalen Konstruktivismus die menschliche Fähigkeit, objektive Realität zu erkennen, mit der Begründung bestritten wird, dass jeder Einzelne sich seine Wirklichkeit im eigenen Kopf „konstruiert“, glauben Anhänger des Erlanger Konstruktivismus an eine gemeinsame Konstruktionsweise, das heißt, dass es mit Hilfe einer besonderen Sprach- und Wissenschaftsmethodik möglich sei, „das naive Vorfinden der Welt“ zu überwinden und durch „methodische Erkenntnis- und Wissenschaftskonstruktion“ zu ersetzen. Ob dieses gemeinsam Konstruierte auch unabhängig von seiner Konstruktion existiert oder bloß einen Konsens belegt, ist dagegen ein anderes Problem. Der Relationale Konstruktivismus hingegen teilt zwar den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt des Radikalen Konstruktivismus, legt dann aber den Fokus nicht nur auf das erkennende Subjekt, sondern gerade auch auf die sozialen und materiellen Relationen, unter denen dessen kognitiven Konstruktionsprozesse vollzogen werden. Der Erlanger Konstruktivismus ist wesentlich angeregt von der Konstruktiven Mathematik. Für den Relationalen Konstruktivismus ist die Erweiterung der erkenntnistheoretischen Grundlagen um sozialtheoretische Perspektiven (insbesondere zur Kommunikations- und Machttheorie) kennzeichnend. Dieser Relationale Konstruktivismus wird dann im Dekonstruktivismus bestimmend


Dekonstruktivismus

Der Begriff „Dekonstruktion“ ist die „grammatische Bezeichnung für eine Störung im Satzbau“ [1]. Zudem wird der Begriff auch im Maschinenbau verwendet für die Zerlegung einer Maschine in ihre Einzelteile. Der Dekonstruktivismus ist, ganz allgemein gesagt, eine philosophische und kulturelle Strömung, die in den 1960-er Jahren aufkam und sich gegen die Vorstellung einer stabilen und einheitlichen Wahrheit richtet. Der Begriff „Dekonstruktion“ stammt von Jacques Derrida. Es handelt sich dabei um einen kritischen Ansatz, der versucht, die unterliegenden Annahmen und Hierarchien in der Sprache und Kultur zu enthüllen, um zu zeigen, dass Bedeutungen und Identitäten nicht fest und unveränderlich sind, sondern dass sie sich im Laufe der Zeit verändern und vielfältig sind. Dieser Grundansatz, der zunächst auf die Sprach- und Kulturphilosophie begrenzt war, wurde im weiteren Verlauf auf immer weitere Gebiete ausgedehnt.

Dekonstruktivisten argumentieren, dass Bedeutungen und Identitäten in Sprache und Kultur immer vage und widersprüchlich sind und dass es keine klare, einheitliche Interpretation gibt. Sie betonen, dass Sprache und Kultur von Machtverhältnissen und Hierarchien geprägt sind und dass es wichtig ist, diese Hierarchien aufzudecken und zu dekonstruieren, um eine gerechtere und inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Bei der Dekonstruktion handelt es sich um einen zweiphasigen Ansatz. Zunächst wird in der Kritik gezeigt, dass Sprache, Kultur und auch Wahrheiten nichts anderes sind als vom Menschen hervorgebrachte Konstrukte, die auf bestimmte Machtverhältnisse beruhen. In einem zweiten Schritt werden dann diese Bestandteile neu zusammengesetzt und so neue kulturelle, soziale, politische oder sprachliche Konstrukte geschaffen, die gerechter, freier, liberaler, inklusiver usw. sein sollen. Faktisch geht es vor allem um Machtverhältnisse.

In der Philosophie ist Jacques Derrida einer der wichtigsten Vertreter des Dekonstruktivismus. Vorläufer ist unter anderen Michel Foucault. Derrida hat die Idee der Dekonstruktion entwickelt und angewendet, um die versteckten Annahmen und Hierarchien in Sprache, Kultur und Philosophie aufzudecken. Andere wichtige Vertreter des Dekonstruktivismus in der Philosophie sind Michel Foucault, Judith Butler (im Bereich Gender und Feminismus) und Richard Rorty (im Bereich politische Philosophie und Sozialphilosophie).

Anmerkungen

[1] H.J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 2021, S. 358.

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