Der folgende Beitrag wurde zuerst veröffentlicht in der Zeitschrift THEOLOGISCHES. Katholische Monatsschrift, Jg. 52, Nr. 09/10, 2023. Der umfangreiche Artikel wird hier in voller Länge wiedergegeben, allerdings in zwei Teilen. Hier folgt der 1. Teil.
Im Folgenden möchte ich dafür
argumentieren, dass die gegenwärtige Krise in Politik, Kultur und in der Kirche
einen philosophischen Hintergrund hat, der insbesondere in der Philosophie des
Konstruktivismus bzw. im Dekonstruktivismus liegt. Dies wird in den aktuellen
Debatten häufig übersehen. Daher scheint mir eine Auseinandersetzung mit diesen
philosophischen Positionen hilfreich zu sein, um eine tiefere
Auseinandersetzung mit den aktuellen Problemen der Gegenwart anstoßen zu
können.
Kant und der Deutsche Idealismus
Der Konstruktivismus, der im 20.
Jahrhundert entsteht, hat seinen Ursprung in der idealistischen Philosophie des
19. Jahrhunderts, also insbesondere in der Philosophie Immanuel Kants und des
deutschen Idealismus. In diesen philosophischen Systemen wird bestritten, dass
wir einen epistemischen Zugang zu der realen Welt haben, und behauptet, dass
all das, was wir wahrnehmen oder erkennen, durch das Bewusstsein hervorgebracht
wird. Nach Kant gibt es zwar eine „Außenwelt“, zu der wir aber keinen direkten
Zugang haben. Vielmehr werden unsere Sinnesdaten durch die transzendentalen
Strukturen des Bewusstseins, also über den Einzelnen hinausgehenden
Bewusstseinsstrukturen, so konstruiert, dass wir alles so wahrnehmen, wie wir
es tun. Wir nehmen Dinge mit Eigenschaften wahr, die nacheinander in Raum und
Zeit erscheinen. Ob dies der „Außenwelt“ entspricht, können wir nicht mit
Gewissheit sagen. Der deutsche Idealismus, der im Unterschied zu Kant, dessen
Philosophie eine Synthese von Rationalismus und Empirismus versucht, einen
rationalistischen Hintergrund hat, verschärft diese kantische Position weiter.
Die Außenwelt wird komplett gestrichen und der absolute Geist selbst ist das
Einzige, was existiert. Dieser absolute Geist vollzieht sich gewissermaßen
evolutionär durch die einzelnen Individuen vom primitiven und naiven Realismus
bis zum absoluten Geist, der sich selbst als Ursprung seiner selbst und der
gesamten Welt begreift.
Für den
Konstruktivismus des 20. Jahrhunderts spielt die Philosophie Kants eine größere
Rolle als der deutsche Idealismus, und er versucht nicht mehr die von Kant
angestrebte Synthese von Empirismus und Rationalismus weiter zu verfolgen,
sondern ist eindeutig empiristisch und nominalistisch. Unter philosophischem
Nominalismus versteht man die Theorie, dass ausschließlich eigenschaftslose
Individuen existieren und das alles andere, was wir wahrnehmen bzw. erkennen,
durch unsere Wahrnehmung beeinflusst und hervorgebracht wird. So bestreitet der
Nominalismus, dass es in der Realität irgendetwas Allgemeines gibt, aber er
bestreitet auch, im Unterschied zum Konzeptualismus bzw. Rationalismus, dass es
überhaupt Allgemeinbegriffe gibt. Was wir als Begriffe bezeichnen, sind für den
Nominalismus nichts anderes als Worte, die man auf einen Aktenordner schreibt,
um darin bestimmte Objekte ablegen zu können. Begriffe oder Worte haben
keinerlei Bezug zur Realität. Die Realität besteht nur aus nackten,
partikulären und eigenschaftslosen Individuen.
Scholastische
Philosophie
Der Nominalismus setzt sich damit
deutlich von der aristotelischen Philosophie des Hochmittelalters ab, die
besonders von Albertus Magnus und Thomas von Aquin bestimmt wird. Die
hochmittelalterliche Philosophie, insbesondere die thomistische Scholastik, stellt
eine gelungene Synthese dar, nach der Kant erfolglos gesucht hat. Demnach
besteht die Wirklichkeit als solche tatsächlich aus Individuen und
individuellen Wesenheiten und Eigenschaften. Jedes Individuum hat eine
individuelle Wesenheit, die aber nicht nur diesem Individuum zu eigen ist,
sondern allen Individuen der gleichen Art. Diese Wesenheit kann von uns erkannt
werden und zwar genau so, wie sie tatsächlich ist, wenn auch unvollständig.
Dies geschieht mit Hilfe des Abstraktionsvermögens des menschlichen Verstandes,
durch den wir alle Bestimmungen eines Individuums weglassen, die zufällig sind.
Die allgemeinen Wesenheiten der Dinge existieren zwar nicht als solche in der
realen Welt, sondern nur im menschlichen Verstand, aber diesen allgemeinen
Wesenheiten entspricht etwas in der Realität. Diese Entsprechung besteht darin,
dass die Wesenheit z.B. eines Huhns in allen Hühnern „instanziiert“ ist, um
einen modernen Begriff zu verwenden. Das bedeutet, dass jedes einzelne Huhn
eine Instanz, ein Vorkommnis der allgemeinen Wesenheit des Huhns ist und genau
deshalb können wir diese Wesenheit in der Erkenntnis aus dem einzelnen Huhn
abstrahieren. Das Entsprechende gilt natürlich auch für die Akzidenzien. Die
Farbe Rot ist in allen roten Gegenständen instanziiert und deshalb sehen wir
rote Gegenstände und können diese Farbe aus den roten Gegenständen abstrahieren
und im Begriff „rot“ erfassen.
Schon in
der Spätscholastik wird diese aristotelische Theorie in Frage gestellt, zum
Teil bereits bei Duns Scotus und besonders bei William von Occam. Die beiden
Hauptströmungen der Neuzeit, der Rationalismus und der Empirismus entspringen
letztlich beide aus dem Nominalismus, der damit als ontologische Grundlage der
gesamten neuzeitlichen Philosophie bezeichnet werden kann. Und dies trifft auch
in besonderer Weise auf den Konstruktivismus des 20. Jahrhundert zu.
Konstruktivismus
Der Konstruktivismus entsteht
zunächst nicht als philosophische Theorie, sondern in verschiedenen
Geisteswissenschaften, wie in der Pädagogik und den Sozialwissenschaften. Konstruktivismus
ist zunächst eine Theorie und Philosophie des Lernens, die besagt, dass Wissen
nicht einfach aufgenommen und gespeichert wird, sondern dass es von Individuen
aktiv konstruiert wird, basierend auf ihren Erfahrungen und Interaktionen mit der
Umwelt. Die Grundannahme des Konstruktivismus ist, dass Menschen ihr Wissen
durch ihre eigene Erfahrung und Reflektion aufbauen und dass dieses Wissen
kontextabhängig ist. Konstruktivisten glauben, dass Wissen nicht objektiv und
unabhängig von unserer Wahrnehmung der Welt existiert, sondern dass es von
individuellen Interpretationen abhängt.
Im
Konstruktivismus ist Lernen ein aktiver Prozess, bei dem Wissen nicht einfach
vermittelt wird, sondern von den Lernenden selbst hervorgebracht wird. Das
bedeutet, dass die Lernenden die Möglichkeit haben, ihr Verständnis und Wissen
auf der Grundlage ihrer eigenen Erfahrungen und Ideen aufzubauen.
Konstruktivistische Ansätze wurden und werden heute in vielen Bereichen der
Bildung angewendet, einschließlich der Gestaltung von Unterricht, der
Entwicklung von Lehrmaterialien und der Bewertung von Lernergebnissen. Um ein Beispiel
für die praktische Bedeutung dieses pädagogischen Ansatzes zu nennen, könnte
man auf die sogenannte lautsprachliche Schrift verweisen. Die Kinder sollen die
Worte zunächst so schreiben, wie sie diese hören. Rechtschreibfehler wurden
damit nicht mehr als solche bezeichnet und korrigiert. Dies hat dazu geführt,
dass Kinder die korrekte Rechtschreibung nicht mehr richtig lernen konnten, da
sie nach der Gewöhnung an die lautsprachliche Rechtschreibung in späteren
Schuljahren Probleme hatten, die richtige Rechtschreibung zu erlernen.
Der
philosophische Konstruktivismus ist eine Position in der Philosophie, die
besagt, dass Wissen nicht unabhängig von unserem Geist und unseren Erfahrungen
existiert, sondern dass es von uns konstruiert wird. Gegen diese allgemeine
Formulierung muss man nicht Einwände erheben, denn dies ist eine alltägliche
Erfahrung. Für das, was wir wahrnehmen bzw. erkennen, spielen Interessen und
der Wissenshintergrund eine große Rolle, was aber nicht ausschließt, dass es
eine objektive Erkenntnis der Realität gibt. Der Konstruktivismus geht aber
weit darüber hinaus. Die Konstruktivisten in der Philosophie argumentieren,
dass die Welt nicht einfach „da draußen“ existiert, sondern dass wir durch
unsere Wahrnehmungen und Interpretationen der Welt aktiv an ihrer Konstruktion
beteiligt sind, ja, dass wir diese Welt aktiv erst hervorbringen. Es gibt keine
von unseren Konstruktionen der Welt unabhängige Welt, die sich objektiv, d.h.
unabhängig von unseren Wahrnehmungen und Erkenntnissen erfassen lässt.
Der Konstruktivismus
in der Philosophie wird heute auf verschiedene Bereiche angewendet,
einschließlich der Philosophie des Geistes, der Sprachphilosophie und der
Erkenntnistheorie. In der Philosophie des Geistes geht es darum, wie unser
Geist und unser Bewusstsein entstehen und wie wir unser Wissen über die Welt
aufbauen. In der Sprachphilosophie geht es darum, wie wir Bedeutungen von
Wörtern und Ausdrücken konstruieren. In der Erkenntnistheorie geht es darum,
wie wir Wissen erlangen und wie wir entscheiden, was wahr oder falsch ist. Dies
bedeutet, dass es keine objektive Wahrheit oder Falschheit geben kann, sondern
dass etwas nur für uns wahr oder falsch ist. Es mag sein, dass viele Menschen
mit uns übereinstimmen, aber dies liegt nicht daran, dass die gemeinsame „Erkenntnis“
an einem objektiven Maßstab gemessen wird, sondern dass diese Übereinstimmung eher
zufällig ist, oder durch bestimmte Faktoren, wie einen gemeinsamen historischen
oder kulturellen Hintergrund, determiniert wird.
Der
Konstruktivismus in der Philosophie ist eng mit anderen philosophischen
Strömungen wie dem Pragmatismus und dem Poststrukturalismus verbunden, die
ähnliche Ansätze verfolgen und die Idee betonen, dass unsere Wahrnehmungen und
Interpretationen der Welt von unseren Erfahrungen und sozialen Kontexten
abhängen.
Man muss
aber betonen, dass der Konstruktivismus keine einheitliche Theorie bzw. keine
gemeinsame philosophische Schule ist. Es gibt eine ganze Reihe sehr
unterschiedlicher konstruktivistischer Theorien. Dies gilt nicht nur für den
Konstruktivismus allgemein, sondern auch für den philosophischen
Konstruktivismus in der Erkenntnistheorie. Die meisten Varianten des
Konstruktivismus gehen aber davon aus, dass ein erkannter Gegenstand vom
Betrachter selbst durch den Vorgang des Erkennens konstruiert wird. In der
Fachsprache der Philosophie ausgedrückt, nehmen sie damit eine nominalistische Position
zum Universalienproblem ein. Inwiefern? Im Unterschied zur aristotelischen
Tradition der Philosophie, bei der einem Willensakt eine Erkenntnis vorhergeht,
ist dies im Nominalismus umgekehrt. Da für den Nominalismus die Gegenstände
eigentlich der Erkenntnis nicht zugänglich sind, ist es der Wille, der etwas
als gut erfasst und danach dem Erkenntnisvermögen als zu erkennenden Gegenstand
vorstellt. Der Nominalismus ist daher von Anfang an eine voluntaristische
Theorie. Und dies wird ganz besonders im Konstruktivismus deutlich. Kurz
gesagt, wenn die Wahrnehmung und Erkenntnis durch uns bestimmt wird, dann kann
dies nur durch den Willen geschehen. Üblicherweise nimmt man an, dass sich die
Erkenntnis nach den Gegenständen richtet, diese also die Erkenntnis bestimmen,
während der Wille die Gegenstände bestimmt. Bereits Kant hatte in der
Einleitung zur Kritik der reinen Vernunft gesagt, dass er dieses
Verhältnis umkehren wolle, dass also die Vernunft (er meint dabei den Willen)
die Gegenstände bestimmt. Diesen Gedanken nimmt der erkenntnistheoretische
Konstruktivismus auf.
Während im Radikalen Konstruktivismus die menschliche Fähigkeit, objektive Realität zu erkennen, mit der Begründung bestritten wird, dass jeder Einzelne sich seine Wirklichkeit im eigenen Kopf „konstruiert“, glauben Anhänger des Erlanger Konstruktivismus an eine gemeinsame Konstruktionsweise, das heißt, dass es mit Hilfe einer besonderen Sprach- und Wissenschaftsmethodik möglich sei, „das naive Vorfinden der Welt“ zu überwinden und durch „methodische Erkenntnis- und Wissenschaftskonstruktion“ zu ersetzen. Ob dieses gemeinsam Konstruierte auch unabhängig von seiner Konstruktion existiert oder bloß einen Konsens belegt, ist dagegen ein anderes Problem. Der Relationale Konstruktivismus hingegen teilt zwar den erkenntnistheoretischen Ausgangspunkt des Radikalen Konstruktivismus, legt dann aber den Fokus nicht nur auf das erkennende Subjekt, sondern gerade auch auf die sozialen und materiellen Relationen, unter denen dessen kognitiven Konstruktionsprozesse vollzogen werden. Der Erlanger Konstruktivismus ist wesentlich angeregt von der Konstruktiven Mathematik. Für den Relationalen Konstruktivismus ist die Erweiterung der erkenntnistheoretischen Grundlagen um sozialtheoretische Perspektiven (insbesondere zur Kommunikations- und Machttheorie) kennzeichnend. Dieser Relationale Konstruktivismus wird dann im Dekonstruktivismus bestimmend
Dekonstruktivismus
Der Begriff „Dekonstruktion“ ist
die „grammatische Bezeichnung für eine Störung im Satzbau“ [1]. Zudem wird der Begriff
auch im Maschinenbau verwendet für die Zerlegung einer Maschine in ihre
Einzelteile. Der Dekonstruktivismus ist, ganz allgemein gesagt, eine
philosophische und kulturelle Strömung, die in den 1960-er Jahren aufkam und
sich gegen die Vorstellung einer stabilen und einheitlichen Wahrheit richtet. Der
Begriff „Dekonstruktion“ stammt von Jacques Derrida. Es handelt sich dabei um
einen kritischen Ansatz, der versucht, die unterliegenden Annahmen und
Hierarchien in der Sprache und Kultur zu enthüllen, um zu zeigen, dass
Bedeutungen und Identitäten nicht fest und unveränderlich sind, sondern dass
sie sich im Laufe der Zeit verändern und vielfältig sind. Dieser Grundansatz,
der zunächst auf die Sprach- und Kulturphilosophie begrenzt war, wurde im
weiteren Verlauf auf immer weitere Gebiete ausgedehnt.
Dekonstruktivisten
argumentieren, dass Bedeutungen und Identitäten in Sprache und Kultur immer
vage und widersprüchlich sind und dass es keine klare, einheitliche
Interpretation gibt. Sie betonen, dass Sprache und Kultur von
Machtverhältnissen und Hierarchien geprägt sind und dass es wichtig ist, diese
Hierarchien aufzudecken und zu dekonstruieren, um eine gerechtere und
inklusivere Gesellschaft zu schaffen. Bei der Dekonstruktion handelt es sich um
einen zweiphasigen Ansatz. Zunächst wird in der Kritik gezeigt, dass Sprache,
Kultur und auch Wahrheiten nichts anderes sind als vom Menschen hervorgebrachte
Konstrukte, die auf bestimmte Machtverhältnisse beruhen. In einem zweiten
Schritt werden dann diese Bestandteile neu zusammengesetzt und so neue
kulturelle, soziale, politische oder sprachliche Konstrukte geschaffen, die
gerechter, freier, liberaler, inklusiver usw. sein sollen. Faktisch geht es vor
allem um Machtverhältnisse.
In der
Philosophie ist Jacques Derrida einer der wichtigsten Vertreter des
Dekonstruktivismus. Vorläufer ist unter anderen Michel Foucault. Derrida hat
die Idee der Dekonstruktion entwickelt und angewendet, um die versteckten
Annahmen und Hierarchien in Sprache, Kultur und Philosophie aufzudecken. Andere
wichtige Vertreter des Dekonstruktivismus in der Philosophie sind Michel
Foucault, Judith Butler (im Bereich Gender und Feminismus) und Richard Rorty
(im Bereich politische Philosophie und Sozialphilosophie).
Anmerkungen
[1] H.J. Sandkühler (Hg.), Enzyklopädie Philosophie, Bd. 1, Hamburg 2021, S. 358.
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